Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
9C_434/2011
Urteil vom 12. September 2011
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
Verfahrensbeteiligte
F.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Fidel Cavelti,
Beschwerdeführerin,
gegen
Vaudoise Leben Versicherungs-Gesellschaft AG, Place de Milan, 1007 Lausanne,
vertreten durch Rechtsanwalt Walter Wagner,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Berufliche Vorsorge,
Beschwerde gegen den Entscheid
des Kantonsgerichts Appenzell I.Rh.
vom 5. April 2011.
Sachverhalt:
A.
F.________ (geb. 1960) schloss mit der Waadt Leben, Versicherungs-Gesellschaft (heute: Vaudoise Leben Versicherungs-Gesellschaft AG, nachfolgend: Vaudoise), einen Versicherungsvertrag mit Versicherungsbeginn am 1. Dezember 1992 (gebundene Vorsorge-Police vom 28. Mai 1993). Am 29. Januar 1998 nahmen die Vertragsparteien eine Anpassung der Police vor.
Die Vaudoise bezahlte F.________ ab 26. August 2004 gestützt auf eine ärztlich bescheinigte Arbeitsunfähigkeit von 50 % eine Rente. Eine (rückwirkende) Erhöhung der Rente auf 61 % verweigerte die Vaudoise mit der Begründung, F.________ weise weder einen Erwerbsausfall noch einen sonstigen finanziellen Nachteil aus ihrer Krankheit nach (Schreiben der Vaudoise vom 11. September und 2. Oktober 2009).
B.
F.________ liess beim Bezirksgericht Appenzell Klage erheben mit dem Rechtsbegehren, die Vaudoise sei zu verpflichten, ihr rückwirkend ab 1. Juni 2005 und bis 1. Dezember 2022 eine Erwerbsunfähigkeitsrente von monatlich Fr. 610.- zuzüglich 5 % Verzugszins für die geschuldeten Renten ab 14. August 2009 zu bezahlen, abzüglich bereits bezahlter Renten im Umfang von Fr. 23'000.-. Nach Einholung der Klageantwort verfügte der Bezirksgerichtspräsident von Appenzell die Überweisung der Sache an das Kantonsgericht Appenzell I.Rh., Abteilung Verwaltungsgericht (Präsidialentscheid vom 2. September 2010). Dieses führte einen zweiten Schriftenwechsel durch. Mit Entscheid vom 5. April 2011 trat es auf die Klage mangels sachlicher Zuständigkeit nicht ein (Dispositiv-Ziffer 1) und überwies die Streitsache zuständigkeitshalber an das Bezirksgericht Appenzell (Dispositiv-Ziffer 2).
C.
Gegen diesen Entscheid lässt F.________ Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, der Nichteintretensentscheid sei in den Dispositiv-Ziffern 1 und 2 aufzuheben und es sei die Klage zur materiellen Neubeurteilung an das Kantonsgericht, Abteilung Verwaltungsgericht, zurückzuweisen.
Die Vaudoise lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen. Das Kantonsgericht äussert sich im selben Sinne. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerde ist unter anderem zulässig gegen Entscheide, die das Verfahren abschliessen (Art. 90 BGG), sowie gegen selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide über die Zuständigkeit (Art. 92 Abs. 1 BGG). Gegen andere selbstständig eröffnete Vor- und Zwischenentscheide ist laut Art. 93 Abs. 1 BGG die Beschwerde nur zulässig, wenn sie einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken können (lit. a) oder wenn die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (lit. b).
1.2 Selbstständig eröffnete Zwischenentscheide, mit denen das angerufene Gericht seine Zuständigkeit bejaht, sind nach Art. 92 BGG anfechtbar. Verneint hingegen das Gericht seine Zuständigkeit, erlässt es nicht einen Zwischenentscheid, sondern einen Nichteintretensentscheid, welcher einen Endentscheid im Sinne von Art. 90 BGG darstellt (BGE 135 V 153 E. 1.3 S. 156). Ob der Entscheid allenfalls als Zwischenentscheid zu qualifizieren ist, wenn - wie hier - das angerufene Gericht in analoger Anwendung von Art. 58 Abs. 3 ATSG (sowie von Art. 3 Abs. 2 des appenzell-innerrhodischen Verwaltungsgerichtsgesetzes [VerwGG]) die Sache zugleich an das seines Erachtens zuständige Gericht übermittelt, oder ob auch in diesem Fall von einem Endentscheid auszugehen ist, kann offenbleiben, da der Entscheid so oder anders selbstständig anfechtbar ist (Urteil 9C_1000/2009 vom 6. Januar 2010 E. 1.2 mit weiteren Hinweisen, in: SVR 2010 IV Nr. 40 S. 126; 8C_162/2010 vom 11. März 2011 E. 1.2).
2.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
3.
Streitig und zu prüfen ist, ob das Verwaltungsgericht Appenzell I.Rh. seine sachliche Zuständigkeit zu Recht verneint hat.
3.1 Nach Art. 73 Abs. 1 Satz 1 BVG bezeichnet jeder Kanton ein Gericht, das als letzte kantonale Instanz über Streitigkeiten zwischen Vorsorgeeinrichtungen, Arbeitgebern und Anspruchsberechtigten entscheidet. In die Zuständigkeit dieser kantonalen Berufsvorsorgegerichte fallen auch Streitigkeiten, welche die gebundene Vorsorge im Rahmen der Säule 3a betreffen (Art. 82 Abs. 2 BVG und Art. 1 BVV 3; Urteil 9C_66/2008 vom 24. Juni 2008 E. 1; B 163/06 vom 11. Februar 2008 E. 3.2)
3.2 Die Versicherte leitet den geltend gemachten Anspruch auf rückwirkende Ausrichtung einer Erwerbsunfähigkeitsrente von monatlich Fr. 610.- aus dem mit der Vaudoise geschlossenen Vertrag ab. Ob und inwieweit dieser eine Anspruchsgrundlage dafür bildet, ist bei der materiellrechtlichen Prüfung zu entscheiden. Allerdings hängt davon auch die Zuständigkeit des kantonalen Sozialversicherungsgerichts ab. Es handelt sich dabei um eine doppelrelevante Tatsache. Über solche ist nicht im Rahmen der Eintretensfrage, sondern des Sachentscheides zu befinden. Dabei genügt es für die Anerkennung der Eintretensfrage, wenn die vorgebrachten Tatsachen, welche sowohl für die Zulässigkeit des Rechtsbehelfes als auch für dessen materiellrechtliche Begründetheit erheblich (doppelrelevant) sind, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorliegen (BGE 136 III 486 E. 4 S. 487 f.; 131 III 153 E. 5.1 S. 157 ff.). Diese im Zivilprozess entwickelten Grundsätze finden auch im Sozialversicherungsprozess Anwendung (BGE 135 V 373 E. 3.2 S. 377 f., vgl. auch Urteile 8C_162/2010 vom 11. März 2011 E. 5.3; K 185/00 vom 3. Februar 2003 E. 3 sowie B 24/00 vom 30. Oktober 2001 E. 3b).
3.3 In ihrer (beim Bezirksgericht Appenzell eingereichten) Klage vom 4. Juni 2010 legt die Versicherte dar, dass sie bei der Vaudoise eine "Lebensversicherung" abgeschlossen habe, welche Bezeichnung auch von der Beschwerdegegnerin im Briefverkehr mit der Beschwerdeführerin verwendet wird. Wohl handelt es sich dabei um eine formelle Betrachtungsweise, die auch in Bezug auf die ursprünglich verwendete Bezeichnung "gebundene Vorsorge-Police" bzw. die jährlich ausgestellten Bescheinigungen über die an die Säule 3a geleisteten Beiträge gilt. Da die Beschwerdeführerin jedoch, wie sie selber vorbringt, seit 1992 keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgeht, war ihr bei Vertragsabschluss am 1. Dezember 1992 die Vorsorgeform der Säule 3a gar nicht zugänglich (Art. 82 Abs. 1 BVG). Diese Verhältnisse sprechen für die zivilrechtliche Zuständigkeit, welchen Weg die Beschwerdeführerin denn auch zuerst eingeschlagen hat. Bei dieser Sachlage ist nicht zu beanstanden, dass das kantonale Verwaltungsgericht auf die Klage mangels sachlicher Zuständigkeit nicht eingetreten ist und die Sache wieder an das Bezirksgericht überwiesen hat.
4.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Entsprechend dem Prozessausgang hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Eine Parteientschädigung ist nicht geschuldet (vgl. Art. 68 Abs. 3 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Appenzell I.Rh., Abteilung Verwaltungsgericht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 12. September 2011
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Meyer
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann