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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
2C_765/2010
Urteil vom 20. September 2011
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Zünd, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Donzallaz,
Gerichtsschreiber Küng.
Verfahrensbeteiligte
Einwohnergemeinde Oensingen,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwalt Mathias Reinhart,
gegen
X.________ AG,
Beschwerdegegnerin, vertreten durch
Advokatin Prof. Dr. Beatrice Wagner Pfeifer,
Schätzungskommission des Kantons Solothurn, Bielstrasse 9, 4500 Solothurn.
Gegenstand
Gemeindeautonomie (Anschlussgebühren),
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Solothurn vom 8. September 2010.
Sachverhalt:
A.
Die X.________ AG hat in Oensingen ein grosses Bürohaus mit einem Verkaufsladen und einem Restaurant errichtet. Die Einwohnergemeinde Oensingen verlangte von ihr am 22. Dezember 2006 Kanalisations- und Wasseranschlussgebühren in der Höhe von Fr. 391'440.75 bzw. Fr. 94'673.55. Nach Anpassung des Gebäudeversicherungswerts reduzierte die Gemeinde am 30. Mai 2007 die erwähnten Beträge um Fr. 30'432.70 bzw. Fr. 7'290.30.
In der Folge stellte sich heraus, dass bei der Berechnung der Kanalisationsanschlussgebühren das falsche Reglement und bei jener der Wasseranschlussgebühren der Tarif falsch angewendet wurde. Die Einwohnergemeinde Oensingen verpflichtete daher die X.________ AG am 27. November 2008 zur Bezahlung von zusätzlichen Gebühren von Fr. 72'201.65 bzw. Fr. 38'400.05. Die Schätzungskommission des Kantons Solothurn hiess am 15. Dezember 2009 die dagegen gerichtete Beschwerde der X.________ AG gut. Das Rechtsmittel, das die Einwohnergemeinde Oensingen gegen diesen Entscheid beim Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn erhob, blieb ohne Erfolg.
B.
Die Einwohnergemeinde Oensingen beantragt dem Bundesgericht mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten, das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 8. September 2010 aufzuheben und die Beschwerdegegnerin zur Bezahlung von Fr. 108'275.60 nebst Zins zu 5% seit dem 27. Dezember 2008 zu verpflichten.
Die Beschwerdegegnerin ersucht um Abweisung des Rechtsmittels.
Das Verwaltungsgericht stellt Antrag auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei.
Erwägungen:
1.
1.1 Im Kanton Solothurn haben die Gemeinden für den Anschluss an die öffentliche Wasserversorgung Gebühren zu erheben (§ 109 Abs. 1 des kantonalen Planungs- und Baugesetzes vom 3. Dezember 1978 [PBG/SO]). Die Anschlussgebühren sind so zu bemessen, dass sich die Versorgungs- und Gewässerschutzanlagen weitgehend selbst erhalten (§ 110 Abs. 3 PBG/SO). Die kantonale Verordnung vom 3. Juli 1978 über Grundeigentümerbeiträge und -gebühren (Grundeigentümerbeitragsverordnung; GBV/SO) enthält Ausführungsbestimmungen zu den genannten Gesetzesnormen. Danach wird die Anschlussgebühr "aufgrund der Gesamtversicherungssumme der Solothurnischen Gebäudeversicherung (Gebäudeversicherungssumme) der angeschlossenen Gebäude" berechnet, sofern die Gemeinde nicht eine andere Berechnungsgrundlage beschliesst. Die Ansätze sind von der Gemeinde in einem Reglement festzulegen (§ 29 Abs. 1 und 2 GBV/SO). Die Verordnung stellt ebenfalls Regeln über die Fälligkeit (§ 30 GBV/SO) und die Bemessung in Ausnahmefällen (§ 31 GBV/SO) auf. Auch wenn das kantonale Recht einige Vorgaben für die Bemessung und Erhebung der Wasseranschlussgebühren enthält, verbleibt den Gemeinden in diesem Bereich eine relativ erhebliche Entscheidungsfreiheit. § 118 Abs. 1 lit. b und c PBG/SO halten ausdrücklich fest, dass die Gemeinden in einem Reglement ergänzende Bestimmungen über die Erschliessungsbeiträge und -gebühren erlassen können, wenn das Gesetz und die Grundeigentümerbeitragsverordnung keine abschliessende Regelung enthalten bzw. dass sie abweichende Normen aufstellen dürfen, soweit es die erwähnten Erlasse gestatten. Nach der dargestellten kantonalen Ordnung sind die Gemeinden insbesondere befugt, die Bemessungsgrundlage und den Gebührenansatz selber zu bestimmen. Auch bei der Anwendung der kantonalen Ausnahmeklausel von § 31 GBV/SO steht den Gemeinden ein Ermessensspielraum zu.
Die Solothurner Gemeinden verfügen somit bei der Erhebung von Gebühren für den Anschluss an die Wasserversorgung und die Abwasserbeseitigung über eine erhebliche Entscheidungsfreiheit (Urteil 2P.45/2005 vom 30. Juni 2005, ZBl 107/ 2006 382 E. 2 S. 383 f.). Nach Auffassung der Beschwerdeführerin verletzt die Verneinung einer Nachzahlungspflicht der Beschwerdegegnerin ihre Autonomie, weil dadurch das ihr bei der vorzunehmenden Interessenabwägung zustehende Ermessen missachtet werde.
2.
2.1 Weder in der kantonalen Verordnung über Grundeigentümerbeiträge und -gebühren noch in den hier massgeblichen Reglementen der Beschwerdeführerin über die Wasserversorgung vom 7. November 1988 und über die Abwassergebühren vom 23. Juni 2003 finden sich Bestimmungen über die Nachforderung von Gebühren. Die Vorinstanz geht deshalb zu Recht davon aus, dass sich deren Zulässigkeit nach § 22 des kantonalen Verwaltungsrechtspflegegesetzes vom 15. November 1970 (VRG/SO) über die Abänderung und den Widerruf von Verfügungen beurteilt (§ 1 VRG/SO).
2.2 Dieses sieht vor, dass Verfügungen und Entscheide durch die zuständige Behörde oder Aufsichtsbehörde abgeändert oder widerrufen werden können, falls sich die Verhältnisse geändert haben oder wichtige öffentliche Interessen dies erfordern (§ 22 Abs. 1 VRG/SO). Vorbehalten bleiben Verfügungen und Entscheide, die nach besonderen Vorschriften oder der Natur der Sache nach nicht oder nur unter erschwerten Voraussetzungen widerrufen werden können (Abs. 2).
2.3 Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin steht den Gemeinden bei der Anwendung dieser Bestimmung kein Ermessensspielraum zu. Ebenso wenig trifft es zu, dass § 22 Abs. 1 und 2 VRG/SO lediglich subsidiär und als kommunale Norm zum Zug kommt. Es ist daher allein zu prüfen, ob die vorinstanzliche Handhabung von § 22 VRG/SO willkürlich erscheint und deshalb die Gemeindeautonomie der Beschwerdeführerin verletzt. Bei der Auslegung von § 22 VRG/SO sind die verfassungsrechtlichen Anforderungen des Vertrauensschutzes (Art. 5 Abs. 3 und Art. 9 BV), welche die bundesgerichtliche Rechtsprechung aufstellt (BGE 137 I 69 E. 2.3 und 2.5 S. 71 ff.), mitzuberücksichtigen.
3.
3.1 Nach den unbestrittenen vorinstanzlichen Feststellungen haben sich die Verhältnisse seit der rechtskräftigen Gebührenerhebung und der späteren Nachforderung nicht geändert. Ebenso wenig waren die von der Beschwerdegegnerin verlangten Wasser- und Abwasseranschlussgebühren wegen eines unvollständig oder unzutreffend ermittelten Sachverhalts unrichtig festgesetzt worden. Die fehlerhafte Gebührenbestimmung erfolgte vielmehr, weil bei der Wasseranschlussgebühr das anwendbare Reglement falsch ausgelegt und der Tarif falsch angewendet sowie der Kanalisationsanschlussgebühr das falsche Reglement zugrunde gelegt worden war. Die Gebührenverfügungen litten damit bereits von Anfang an unter einem Mangel. Es fragt sich daher einzig, ob diese ursprüngliche Fehlerhaftigkeit ein wichtiges öffentliches Interesse darstellt, das gemäss § 22 Abs. 1 VRG/SO einen Widerruf rechtfertigt, bzw. ob die fraglichen Abgabeverfügungen nach § 22 Abs. 2 VRG/SO aufgrund ihrer Natur überhaupt oder nur unter erschwerten Voraussetzungen widerrufen werden können.
3.2 Ein Widerruf scheidet aus, wenn das Interesse der Rechtssicherheit jenem an der richtigen Durchführung des Rechts vorgeht. So verhält es sich in der Regel, wenn eine Verfügung in einem Verfahren ergangen ist, in dem die sich gegenüberstehenden Interessen allseitig zu prüfen und gegeneinander abzuwägen waren oder wenn der Private von einer ihm durch die Verfügung eingeräumten Befugnis bereits Gebrauch gemacht hat (BGE 137 I 69 E. 2.3). Da Steuerveranlagungen in einem Verfahren ergehen, in dem der Sachverhalt besonders eingehend untersucht wird und sie das Steuerrechtsverhältnis ähnlich einem Urteil für einen zeitlich abgeschlossenen und einmaligen Sachverhalt regeln, gelten sie nach Eintritt der Rechtskraft grundsätzlich als unabänderlich. Auf einen Veranlagungsentscheid kann daher nur ausnahmsweise zurückgekommen werden, wenn ein gesetzlicher Revisionsgrund erfüllt ist (BGE 121 II 273 E. 1a/bb S. 277 f.). Der Umstand, dass eine Veranlagung wegen unzutreffender Rechtsanwendung falsch vorgenommen wird, rechtfertigt deshalb keine Nachbesteuerung. Dementsprechend sieht Art. 151 Abs. 2 DBG vor, dass keine Nachsteuer erhoben werden kann, wenn der Steuerpflichtige in seiner Steuererklärung vollständige und genaue Angaben gemacht hat und die Steuerbehörden die Bewertung anerkannt haben, auch wenn die Veranlagung ungenügend ist.
3.3 Neben den Steuerveranlagungen werden in der Praxis auch Gebührenverfügungen grundsätzlich als unwiderruflich angesehen, zumal dann, wenn die Abgaben bereits bezahlt sind (MAX IMBODEN/RENÉ A. RHINOW, Schweizerische Verwaltungsrechtsprechung, Band I, 5. Aufl. 1976, S. 252). Tatsächlich ist die Festsetzung der fraglichen Anschlussgebühren in einem Verfahren ergangen, in dem die massgeblichen Faktoren in ähnlich eingehender Weise wie in einem Steuerveranlagungsverfahren ermittelt und geprüft wurden. Die Vorinstanz weist zu Recht auch darauf hin, dass sich das Vertrauen in die fehlerhafte Gebührenfestsetzung durch die Korrektur, welche die Beschwerdeführerin nach rund einem halben Jahr vornahm, die aber die Mängel nicht beseitigte, noch verstärkte. Es kommt hinzu, dass die Beschwerdegegnerin die Gebühren im Zeitpunkt der Nachforderung nach rund anderthalb Jahren längst bezahlt hatte und sie deshalb bei ihrer Finanzplanung nicht mit einer Nachforderung einer grösseren Summe rechnete. Da von keiner Seite Revisionsgründe geltend gemacht werden, erschiene es unter diesen Umständen gerechtfertigt, die fraglichen Gebührenverfügungen gemäss § 22 Abs. 2 VRG/SO als grundsätzlich unabänderlich anzusehen. Jedenfalls ist es nicht willkürlich, wenn die Vorinstanz den Schutz des Vertrauens in die fehlerhaften Verfügungen als sehr hoch einstuft.
4.
4.1
Bei rechtskräftigen Steuerveranlagungen lässt die bundesgerichtliche Rechtsprechung ausnahmsweise eine nachträgliche Abänderung zuungunsten des Steuerpflichtigen auch bei Fehlen von Revisionsgründen zu, wenn der Fehler auf ein offensichtliches Versehen der Steuerbehörde zurückzuführen ist und vom Steuerpflichtigen ohne weiteres erkannt wurde. Veranlagt eine Behörde einen Steuerpflichtigen um ein Vielfaches zu tief, weil sie irrtümlich von einem zehnmal zu tiefen Einkommen ausgeht, einen falschen Computercode verwendet oder einen Übertrag vergisst, und konnte ihm dieser Fehler nicht verborgen bleiben, erscheint eine Nachforderung des fraglichen Betrags zulässig (Urteile vom 5. Mai 1978, in: ASA 48 188 E. 3, vom 24. Juli 1985, in: ASA 55 512 E. 3, und 2A.508/2002 vom 4. April 2003 E. 2).
4.2 Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Fehlerhaftigkeit der zunächst verlangten Gebühren sei für die Beschwerdegegnerin leicht erkennbar gewesen. Eine Nachforderung der zu Unrecht nicht erhobenen Beträge sei deshalb zulässig. Die gegenteilige Beurteilung der Vorinstanz beruhe auf mehreren willkürlichen Sachverhaltsfeststellungen.
Der zunächst erhobene Einwand, die Beschwerdegegnerin habe über eine professionelle Bauleitung verfügt, vermag indessen die vorinstanzliche Feststellung nicht in Frage zu stellen, die Beschwerdeführerin sei zwar geschäftserfahren, aber nicht in besonderer Weise mit der Anwendung von Gebührenreglementen vertraut. Denn es ist nicht selbstverständlich und im vorliegenden Fall in keiner Weise erwiesen, dass die Bauleitung mit der Kontrolle der Gebührenabrechnungen beauftragt war. Ebenso wenig überzeugt die weitere erhobene Kritik. Die Vorinstanz gelangt durch Vergleich der Beträge zum Schluss, dass die Abweichung zwischen den unzutreffend ermittelten Gebühren und den zuvor in einer Vorinformation korrekt berechneten Beträgen keinesfalls so frappant gewesen sei, dass die Fehlerhaftigkeit der Beschwerdegegnerin hätte in die Augen springen müssen. Das belege auch der Umstand, dass die Beschwerdeführerin ein halbes Jahr später neue korrigierte Rechnungen verschickt habe, ohne die fraglichen Fehler bemerkt zu haben. Die Darlegungen der Beschwerdeführerin zu diesem Punkt zeigen, dass die Fehler nur bei genauerem Studium erkannt werden konnten. Dazu musste sich indessen die Beschwerdegegnerin nicht veranlasst sehen, da die Rechnungsbeträge von den Vorinformationen nicht so markant abwichen, dass sich nähere Abklärungen geradezu aufdrängten. Nicht erheblich ist in diesem Zusammenhang, ob die Fehler der ursprünglichen Gebührenfestsetzungen auf eine mangelhafte Redaktion der kommunalen Reglemente zurückzuführen ist.
4.3 Erweist sich die Kritik an den Sachverhaltsfeststellungen als unbegründet, durfte die Vorinstanz im Lichte der erwähnten Rechtsprechung in Steuersachen die nachträgliche Änderung der Gebührenverfügungen ohne weiteres als unzulässig erklären. Die Auslegung von § 22 VRG/SO im angefochtenen Entscheid ist nicht willkürlich und beruht auch nicht auf einer Überdehnung des verfassungsrechtlichen Vertrauensschutzes.
5.
Die Beschwerde ist demnach abzuweisen. Bei diesem Ausgang sind die bundesgerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin, die vermögensrechtliche Interessen verficht, aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Diese hat überdies die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 5'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten und dem Verwaltungsgericht des Kantons Solothurn schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. September 2011
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Zünd
Der Gerichtsschreiber: Küng