BGer 1B_608/2011
 
BGer 1B_608/2011 vom 10.11.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
1B_608/2011
Urteil vom 10. November 2011
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
Gerichtsschreiber Dold.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher André Vogelsang,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel.
Gegenstand
Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 22. September 2011 des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Statthalterin.
Sachverhalt:
A.
X.________ befindet sich seit dem 18. Mai 2009 in Untersuchungs- und Sicherheitshaft beziehungsweise im vorzeitigen Strafvollzug. Am 10. Juni 2010 wurde er vom Strafgericht Basel-Stadt wegen vorsätzlicher Tötung schuldig gesprochen und unter Berücksichtigung einer vollziehbar erklärten Reststrafe zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von 6 1/2 Jahren verurteilt.
Am 25. August 2011 stellte X.________ ein Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug. Das Gesuch wurde vom Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt am 22. September 2011 abgewiesen.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht vom 26. Oktober 2011 beantragt X.________, der Entscheid des Appellationsgerichts sei aufzuheben. Er selbst sei aus dem vorzeitigen Strafvollzug zu entlassen, eventualiter unter Anordnung von Ersatzmassnahmen. Subeventualiter sei die Sache an die Vorinstanz zur Neuentscheidung zurückzuweisen.
Die Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Appellationsgericht beantragt festzustellen, dass das Haftentlassungsgesuch zu Unrecht nicht gemäss den Vorschriften der Schweizerischen Strafprozessordnung (StPO; SR 312.0) erfolgt sei. Insofern sei die Beschwerde teilweise gutzuheissen, im Übrigen aber abzuweisen. In seiner Stellungnahme dazu hält der Beschwerdeführer ausdrücklich an seinen Anträgen und Rechtsauffassungen fest.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben. Anwendbar ist die am 1. Januar 2011 in Kraft getretene Schweizerische Strafprozessordnung (siehe Art. 453 f. StPO). Danach ist der angefochtene Entscheid kantonal letztinstanzlich (Art. 222 i.V.m. Art. 233 StPO analog, Art. 80 BGG). Beim Beschluss des Obergerichts handelt es sich um einen Zwischenentscheid, der einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken kann. Der Beschwerdeführer nahm vor der Vorinstanz am Verfahren teil und hat ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung des angefochtenen Entscheids. Er ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG zur Beschwerde berechtigt. Das Bundesgericht kann nach Art. 107 Abs. 2 BGG bei Gutheissung der Beschwerde in der Sache selbst entscheiden. Der Antrag auf Haftentlassung ist somit zulässig. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
2.1 Der Beschwerdeführer rügt die Nichteinhaltung der Form nach Art. 80 StPO, die Verletzung des rechtlichen Gehörs und des Beschleunigungsgebots. Darüber hinaus macht er geltend, es mangle an der Wiederholungsgefahr bzw. es könne dieser mit Ersatzmassnahmen begegnet werden.
Zur Begründung der drei erstgenannten Rügen macht er geltend, der angefochtene Entscheid sei nicht unterzeichnet worden, wie es Art. 80 StPO verlange. Weiter sei ihm keine Gelegenheit gegeben worden, sich zur Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft zu äussern. Die Vernehmlassung sei ihm erst zusammen mit dem Entscheid selbst überhaupt zugestellt worden. Die Vorinstanz habe sich zudem mit seinen Ausführungen zur Wiederholungsgefahr nicht auseinandergesetzt. Damit habe sie Art. 29 Abs. 2 BV verletzt. Schliesslich habe die Vorinstanz über sein Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug erst fast einen Monat später entschieden. Dies verstosse zum einen gegen Art. 233 StPO, der eine Frist von 5 Tagen vorsehe, zum andern gegen Art. 5 Abs. 2 StPO und Art. 31 Abs. 4 BV.
2.2 Die Vorinstanz legt in ihrer Vernehmlassung zuhanden des Bundesgerichts dar, sie habe übersehen, dass die Schweizerische Strafprozessordnung anwendbar sei. Sie habe deshalb auch die Frist von Art. 233 StPO nicht eingehalten. Es sei indessen zu berücksichtigen, dass es sich dabei um eine Ordnungsvorschrift handle, die zudem auf die Situation nach erfolgter Inhaftierung zugeschnitten sei. Der Beschwerdeführer befinde sich aber schon seit dem 17. Mai 2009 in Haft und im vorzeitigen Strafvollzug. Die Zustellung der Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft zusammen mit dem Entscheid sei im Interesse einer zügigen Klärung der Situation für den Beschwerdeführer erfolgt. Der Beschwerdeführer habe bereits zwei Monate vorher ein Haftentlassungsgesuch gestellt. Darüber sei mit Entscheid vom 25. Juli 2011 entschieden worden. Da der Beschwerdeführer an diesem Entscheid lediglich appellatorische Kritik geübt habe und nicht auf alle Erwägungen eingegangen sei, habe sie sich nicht veranlasst gesehen, ihre früheren Ausführungen zu wiederholen.
2.3 Gemäss Art. 80 StPO ergehen Entscheide schriftlich und werden begründet; sie werden von der Verfahrensleitung sowie der protokollführenden Person unterzeichnet und den Parteien zugestellt (Abs. 2). Lediglich einfache verfahrensleitende Beschlüsse und Verfügungen brauchen weder besonders ausgefertigt noch begründet zu werden (Abs. 3). Entscheide über die Entlassung aus der Haft oder dem vorzeitigen Strafvollzug sind keine einfachen verfahrensleitenden Beschlüsse und Verfügungen (vgl. NIKLAUS SCHMID, Schweizerische Strafprozessordnung, 2009, N. 5 f. zu Art. 80 StPO; NILS STOHNER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 17 zu Art. 81 StPO; Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1156 f. Ziff. 2.2.8.5). Auf die Unterschrift kann somit nicht verzichtet werden. Es handelt sich dabei namentlich im Interesse der Rechtssicherheit um ein Gültigkeitserfordernis. Denn mit der handschriftlichen Unterzeichnung wird die formelle Richtigkeit der Ausfertigung und deren Übereinstimmung mit dem vom Gericht gefassten Entscheid bestätigt (BGE 131 V 483 E. 2 S. 485 ff., insbes. E. 2.3.3 S. 487 mit Hinweisen). Der angefochtene Entscheid wurde nicht unterzeichnet, wie dies Art. 80 Abs. 2 StPO vorsieht. Zudem wurde dem Beschwerdeführer offenbar auch nachträglich kein unterschriebenes Exemplar zugestellt. Der angefochtene Entscheid ist deshalb aufzuheben.
2.4 Gemäss Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK haben die Parteien eines Gerichtsverfahrens Anspruch auf rechtliches Gehör. Diese Garantie umfasst auch das Recht, von den beim Gericht eingereichten Stellungnahmen Kenntnis zu erhalten und sich dazu äussern zu können (sog. Replikrecht). Die Wahrnehmung des Replikrechts setzt voraus, dass die fragliche Eingabe der Partei zugestellt wird. Das Bundesgericht hat wiederholt festgehalten, dass den Verfahrensbeteiligten ein Anspruch auf Zustellung von Vernehmlassungen zusteht, unabhängig davon, ob diese Eingaben neue und erhebliche Gesichtspunkte enthalten. Das Gericht muss vor Erlass seines Urteils eingegangene Vernehmlassungen den Beteiligten zustellen, damit diese entscheiden können, ob sie sich dazu äussern wollen oder nicht (zum Ganzen: BGE 137 I 195 E. 2.3.1 S. 197 mit Hinweisen).
Indem die Vorinstanz dem Beschwerdeführer die Vernehmlassung der Staatsanwaltschaft erst zusammen mit dem angefochtenen Entscheid zustellte, verletzte sie dessen Anspruch auf rechtliches Gehör.
2.5 Das rechtliche Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV verlangt weiter, dass die Behörde die Vorbringen des vom Entscheid in seiner Rechtsstellung Betroffenen auch tatsächlich hört, prüft und in der Entscheidfindung berücksichtigt. Daraus folgt die Verpflichtung der Behörde, ihren Entscheid zu begründen. Dabei ist es nicht erforderlich, dass sie sich mit allen Parteistandpunkten einlässlich auseinandersetzt und jedes einzelne Vorbringen ausdrücklich widerlegt. Vielmehr kann sie sich auf die für den Entscheid wesentlichen Punkte beschränken. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass sich der Betroffene über die Tragweite des Entscheids Rechenschaft geben und ihn in voller Kenntnis der Sache an die höhere Instanz weiterziehen kann. In diesem Sinne müssen wenigstens kurz die Überlegungen genannt werden, von denen sich die Behörde hat leiten lassen und auf die sich ihr Entscheid stützt (BGE 136 I 229 E. 5.2 S. 236 mit Hinweisen).
In seinem Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug vom 25. August 2011 hat der Beschwerdeführer konkrete Argumente vorgebracht, weshalb seiner Ansicht nach nicht von Wiederholungsgefahr auszugehen sei. Im angefochtenen Entscheid ist dazu lediglich ein Verweis auf einen früheren Entscheid des Appellationsgerichts vom 25. August 2011 enthalten. Eine Auseinandersetzung mit den Einwänden des Beschwerdeführers erfolgte nicht. In dieser Hinsicht fällt auch auf, dass das Appellationsgericht nach eigenen Angaben fälschlicherweise von der Anwendbarkeit der kantonalen Strafprozessordnung ausgegangen ist, dass dies aber aus dem angefochtenen Entscheid gar nicht ersichtlich ist, zumal die angewendeten Gesetzesbestimmungen nicht genannt werden. Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG sieht jedoch vor, dass Entscheide, die der Beschwerde ans Bundesgericht unterliegen, die massgebenden Gründe tatsächlicher und rechtlicher Art, insbesondere die Angabe der angewendeten Gesetzesbestimmungen enthalten müssen. Der angefochtene Entscheid genügt somit in dieser Hinsicht weder der Begründungspflicht noch der Bestimmung von Art. 112 Abs. 1 lit. b BGG.
2.6 Art. 233 StPO sieht für Haftentlassungsgesuche während eines Verfahrens vor dem Berufungsgericht vor, dass die Verfahrensleitung des Berufungsgerichts innert fünf Tagen entscheidet. Diese Bestimmung ist auch anwendbar, wenn sich der Betroffene im vorzeitigen Straf- oder Massnahmenvollzug befindet (Art. 236 StPO; BGE 133 I 270 E. 2 S. 275, E. 3.2.1 S. 277 mit Hinweisen; MARC FORSTER, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2011, N. 1 zu Art. 233 StPO). Sie ist Ausdruck des strafprozessualen Beschleunigungsgebots in Haftsachen (Art. 31 Abs. 4 BV, Art. 5 Ziff. 4 EMRK, Art. 5 Abs. 2 StPO). Bereits daraus ergibt sich, dass es sich nicht um eine reine Ordnungsfrist handelt, aus deren Überschreitung der Betroffene in der Regel nichts zu seinen Gunsten ableiten könnte (BGE 137 IV 92 E. 3.2.1 S. 97). Ebenso wie für einen Festgenommenen die Zeitspanne zwischen Festnahme und Haftentscheid entscheidend ist, so ist es für den bereits Inhaftierten die Zeitspanne zwischen Einreichen seines Haftentlassungsgesuchs und dem Entscheid darüber. Während im ersten Fall die Frist 96 Stunden beträgt (Art. 224 Abs. 2 und Art. 226 Abs. 1 StPO; BGE 137 IV 92 E. 3.2.1 S. 97), dauert sie im zweiten fünf Tage (Art. 233 StPO). Die Vorinstanz hat die Frist von fünf Tagen nicht respektiert und deshalb das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt.
Die Verletzung des Beschleunigungsgebots kann jedoch nur zur Haftentlassung führen, wenn die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen. Das ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und die Strafverfolgungsbehörden erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben (BGE 137 IV 92 E. 3.1 S. 96 mit Hinweis; 137 IV 118 E. 2.2 S. 121). Ansonsten erfolgt - in teilweiser Gutheissung der Beschwerde - eine Feststellung der Verletzung des Beschleunigungsgebots im Dispositiv (BGE 137 IV 118 E. 2.2 S. 121 f. mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer stellte sein Gesuch um Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug am 25. August 2011. Erst am 22. September 2011 wurde darüber entschieden. Auch wenn darin eine klare Verletzung des Beschleunigungsgebots liegt, kann nicht gesagt werden, sie wiege besonders schwer und die Strafverfolgungsbehörden liessen erkennen, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben.
Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist somit im Dispositiv festzustellen. Damit und mit einer für den Beschwerdeführer vorteilhaften Kostenregelung wird diesem eine hinreichende Wiedergutmachung (vgl. Art. 41 EMRK) verschafft (BGE 136 I 274 E. 2.2 S. 278 mit Hinweisen).
3.
Die Beschwerde ist teilweise gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Die Angelegenheit ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese umgehend einen hinreichend begründeten und den gesetzlichen Formen genügenden Entscheid fällt. Da Haftgründe nicht offensichtlich fehlen, kommt die Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug durch das Bundesgericht nicht in Betracht. Es wird Sache der Vorinstanz sein, sich mit den entsprechenden Vorbringen des Beschwerdeführers auseinanderzusetzen. Der Antrag auf Entlassung aus dem vorzeitigen Strafvollzug ist deshalb abzuweisen.
Es ist gerechtfertigt, keine Kosten zu erheben (vgl. Art. 66 Abs. 1 BGG) und den Kanton Basel-Stadt zu verpflichten, dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 f. sowie Abs. 4 i.V.m. Art. 66 Abs. 3 BGG). Damit erweist sich dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege als gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der angefochtene Entscheid wird aufgehoben und die Sache zur neuen Beurteilung im Sinne der Erwägungen an die Vorinstanz zurückgewiesen. Es wird festgestellt, dass das Beschleunigungsgebot in Haftsachen verletzt worden ist. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Basel-Stadt hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'000.-- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Statthalterin, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 10. November 2011
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Dold