BGer 9C_78/2010
 
BGer 9C_78/2010 vom 22.11.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
9C_78/2010
Urteil vom 22. November 2011
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.
 
Verfahrensbeteiligte
Kantonale Pensionskasse Solothurn, Werkhofstrasse 29c, 4509 Solothurn,
Beschwerdeführerin,
gegen
S.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Berufliche Vorsorge,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
vom 9. Dezember 2009.
Sachverhalt:
A.
S.________ (geb. 1960) trat auf den 1. Dezember 1997 von der Baloise-Sammelstiftung in die Kantonale Pensionskasse Solothurn über. Auf den 30. November 2008 verliess er diese wieder. Der Vorsorgenehmer beanstandete die in der Austrittsabrechnung angegebene Höhe des Altersguthabens nach Art. 15 BVG. Die Kantonale Pensionskasse stellte sich sinngemäss auf den Standpunkt, sie sei nicht für Abklärungen bezüglich des BVG-Altersguthabens bei einer früheren Vorsorgeeinrichtung zuständig (Schreiben an das kantonale Amt für berufliche Vorsorge und Stiftungsaufsicht vom 19. November 2008).
S.________ reichte beim Versicherungsgericht des Kantons Solothurn Klage ein mit dem Antrag, die Kantonale Pensionskasse Solothurn sei zu verpflichten, den obligatorischen und überobligatorischen Anteil am Vorsorgekapital ab Beginn des BVG-Obligatoriums bis zum Austritt aus dieser Kasse zu berechnen.
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn hiess die Klage gut und verpflichtete die beklagte Vorsorgeeinrichtung, die Höhe des obligatorischen Altersguthabens, welches der Kläger vom Eintritt in das BVG-Obligatorium bis zum Austritt bei der Beklagten erworben hat, abzuklären und anschliessend eine neue Austrittsabrechnung zu erstellen (Entscheid vom 9. Dezember 2009).
C.
Die Kantonale Pensionskasse Solothurn führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit darauf einzutreten sei. Eventuell sei das vorinstanzliche Entscheiddispositiv dahingehend zu korrigieren, dass sie lediglich verpflichtet werde, die Höhe des obligatorischen Altersguthabens, welches der Versicherte vom Eintritt in das BVG-Obligatorium bis zum Austritt bei ihr erworben hat, neu zu berechnen und gestützt darauf eine neue Austrittsabrechnung zu erstellen, soweit der Beschwerdegegner die behaupteten Einzahlungen lückenlos nachzuweisen vermöge.
Der Beschwerdegegner beantragt, auf die Beschwerde sei nicht einzutreten, eventuell sei sie abzuweisen. Das kantonale Gericht schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
D.
Das Bundesgericht sistierte das Beschwerdeverfahren (Schreiben der Beschwerdeführerin vom 8. März 2010 und des Beschwerdegegners vom 25. Oktober 2010).
Erwägungen:
1.
Mit Eingabe vom 8. März 2010 beantragte die Kantonale Pensionskasse Solothurn die Sistierung des Verfahrens, um mit dem Beschwerdegegner eine einvernehmliche Lösung erarbeiten zu können. Der darüber in Kenntnis versetzte Beschwerdegegner war mit der Sistierung stillschweigend einverstanden (vgl. Schreiben des Bundesgerichts vom 12. März 2010). Am 25. Oktober 2010 ersuchte der Beschwerdegegner um eine Weiterführung der Sistierung zufolge Landesabwesenheit bis Anfang Februar 2011. Zur Berichtgabe über den Stand der Vergleichsbemühungen aufgefordert, teilte die Beschwerdeführerin am 29. Oktober 2010 mit, aus ihrer Sicht könne die Sistierung aufgehoben und das Verfahren weitergeführt werden. Einer Beurteilung der Sache steht somit nichts mehr im Wege.
2.
Das Bundesgericht prüft die Eintretensvoraussetzungen von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; BGE 135 V 98 E. 1 S. 99).
2.1 Sachurteilsvoraussetzung im Verfahren nach Art. 73 Abs. 1 BVG ist unter anderem, dass die klagende Partei an dem von ihr gestellten Rechtsbegehren ein Rechtsschutzinteresse hat (BGE 128 V 41 E. 3a S. 48). Der Begriff des Rechtsschutzinteresses schliesst dessen Aktualität ein. Diese Voraussetzung ist gegeben, wenn der angefochtene Akt einen Nachteil entstehen lässt, der im Zeitpunkt der gerichtlichen Beurteilung noch vorhanden ist (vgl. BGE 136 I 274 E. 1.3 S. 276).
Zu prüfen ist, ob die Vorinstanz unter diesem Aspekt zu Recht auf die Klage eingetreten ist.
2.1.1 Strittig ist, ob und - bejahendenfalls - unter welchen Voraussetzungen eine Vorsorgeeinrichtung verpflichtet ist, den in einer Abrechnung über die Austrittsleistung (Art. 2 Abs. 1 FZG) ausgewiesenen obligatorischen Anteil des Altersguthabens auch anhand von Abklärungen bei früheren Vorsorgeeinrichtungen zu überprüfen, sofern die Richtigkeit des Altersguthabens vom Versicherten in Frage gestellt wird. Nach Art. 8 Abs. 1 FZG muss die Vorsorgeeinrichtung im Freizügigkeitsfall den Versicherten eine Abrechnung über die Austrittsleistung erstellen. Daraus müssen die Berechnung der Austrittsleistung, die Höhe des Mindestbetrages (Art. 17 FZG) und die Höhe des Altersguthabens (Art. 15 BVG) ersichtlich sein. Das nach BVG erworbene Altersguthaben muss die Vorsorgeeinrichtung bei der Übertragung der Freizügigkeitsleistung gesondert angeben (Art. 16 Abs. 1 BVV 2). Art. 8 FZG besteht seit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Januar 1995. Doch musste das (BVG-)Altersguthaben auch schon vorher gesondert angegeben werden, wenn der Betrag der Freizügigkeitsleistung höher war als das vom Vorsorgenehmer nach BVG erworbene Altersguthaben (Art. 11 Abs. 1 der bis Ende 1994 geltenden Verordnung vom 12. November 1986 über die Erhaltung des Vorsorgeschutzes und die Freizügigkeit).
2.1.2 Das kantonale Gericht bezog sich auf die bundesrätliche Botschaft zum Freizügigkeitsgesetz vom 26. Februar 1992, wonach Art. 8 die Informationspflicht der Vorsorgeeinrichtung (vgl. Art. 331 Abs. 4 OR, Art. 89bis Abs. 2 ZGB) konkretisiere (BBl 1992 III 579). Die Vorinstanz erwog, der Kläger habe ein Interesse daran, dass das obligatorische Altersguthaben in der Abrechnung korrekt wiedergegeben werde: Nur für dieses Guthaben sei eine Mindestverzinsung (Art. 15 BVG und Art. 12 BVV 2) und ein Mindestumwandlungssatz (Art. 14 BVG) vorgeschrieben. Das Altersguthaben umfasse auch frühere Altersgutschriften (Art. 16 BVG), die bis zum Übertritt in die letzte Pensionskasse aufgelaufen und dieser von der vorangehenden Einrichtung überwiesen worden seien. Die Pflicht zur korrekten Abrechnung könne im aktuellen Freizügigkeitsfall nur erfüllt werden, wenn gegebenenfalls auch das eingebrachte obligatorische Altersguthaben richtiggestellt werde. Ausserdem erscheine es wenig ökonomisch, wenn der Versicherte zuerst alle früheren Vorsorgeeinrichtungen belangen und zur Korrektur ihrer Austrittsabrechnungen verhalten müsste, bevor er von der aktuellen Kasse eine Berichtigung des Altersguthabens verlangen könnte.
2.1.3 Unter dem Aspekt des Mindestumwandlungssatzes besteht kein aktuelles Rechtsschutzinteresse. In einem zukünftigen Leistungsfall wird es möglich sein, den obligatorischen Teil des Altersguthabens zu berichtigen. Freilich trifft es zu, dass das Interesse an der Korrektur eines zu einem früheren Zeitpunkt allenfalls falsch ausgeschiedenen obligatorischen Altersguthabens unter dem Gesichtspunkt der Mindestverzinsung an sich stets aktuell ist. Jedoch gibt es in der beruflichen Vorsorge kein Äquivalent zum Anspruch auf einen Zusammenruf sämtlicher individuellen Konten in der AHV (Art. 141 Abs. 1bis AHVV). Die Vorinstanz führte zutreffend aus, dass die Vorsorgeeinrichtung, welche von der vorhergehenden eine Freizügigkeitsleistung überwiesen erhalten hat, bezüglich deren Zusammensetzung von den Angaben der vorhergehenden Einrichtung ausgehen kann. Besondere Abklärungen sind, vorbehältlich eines offenkundigen Fehlers, nur angezeigt, wenn es der versicherten Person gelingt glaubhaft zu machen, dass eine der nach Art. 8 Abs. 1 FZG erforderlichen Angaben unrichtig sein könnte. Es stellt sich indessen die Frage, ob dies jederzeit möglich sein kann.
Die Beschwerdeführerin macht geltend, es sei davon auszugehen, dass der Beschwerdegegner durch die Austrittsabrechnung der Baloise-Sammelstiftung vom 19. Februar 1998 oder spätestens mit der Zustellung eines Versicherungsausweises vom 19. Oktober 1998 Kenntnis über den Anteil des BVG-Altersguthabens erlangt habe. Der Beschwerdegegner verlangte allerdings erst mit elektronischer Mitteilung an die Beschwerdeführerin vom 23. September 2008 - kurz vor seinem Austritt - eine Klärung. Aus dem Mailwechsel ergibt sich, dass ausserdem im Frühjahr 2004 eine telefonische Unterredung "betreffend BVG-Anteil" stattgefunden hat. Wenn überhaupt, dann kann nach Treu und Glauben eine Vorsorgeeinrichtung - unabhängig von der auf zehn Jahre beschränkten Aufbewahrungsfrist für Vorsorgeunterlagen (Art. 24g FZG in Verbindung mit Art. 41 Abs. 8 BVG und Art. 27j Abs. 3 BVV 2) und für Lohnunterlagen beim Arbeitgeber (Art. 962 OR) - nur während einer angemessenen Zeit nach dem Eintritt zu Nachforschungen angehalten werden, welche die Höhe des während früherer Versicherungszeiten erworbenen obligatorischen Altersguthabens betreffen. Mehrere Jahre nach seinem Austritt aus der vorangehenden Vorsorgeeinrichtung (auf Ende November 1997) ist das Rechtsschutzinteresse hinfällig. Anhaltspunkte dafür, dass der Kantonalen Pensionskasse Solothurn im Überweisungszeitpunkt und auch später eine fehlerhafte Berechnung bewusst sein musste, fehlen. Der Beschwerdegegner hätte es in der Hand gehabt, die Berechnung bereits im Zeitpunkt seiner Kenntnisnahme zu beanstanden. Dies wäre bereits ab 1998 mit der unbestrittenen jährlichen Zusendung des Versicherungsausweises möglich gewesen, der die eingebrachten Gelder, aufgeteilt in den obligatorischen und überobligatorischen Bereich, beziffert hatte. Kommt hinzu, dass der Beschwerdeführerin eine nachträgliche Überprüfung der eingebrachten Freizügigkeitsleistungen der nicht mehr existenten Vorsorgeeinrichtung überhaupt nur dann möglich gewesen wäre, wenn der Beschwerdegegner seine Mitwirkungspflicht wahrgenommen hätte, das heisst wenn er konkrete Angaben über seine Einkommen aus der fraglichen Zeit gemacht hätte. Dies hat der Beschwerdegegner, wie die Beschwerdeführerin zu Recht ausführte, nicht getan.
2.2 Nach dem Gesagten hätte das kantonale Gericht die Klage nicht an die Hand nehmen dürfen. Die Beschwerde ist in diesem Sinne gutzuheissen, der vorinstanzliche Sachentscheid aufzuheben und auf die Klage nicht einzutreten.
3.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend trägt der Beschwerdegegner die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Sistierung des Verfahrens wird aufgehoben.
2.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 9. Dezember 2009 aufgehoben. Auf die Klage des S.________ wird nicht eingetreten.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 22. November 2011
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Meyer
Der Gerichtsschreiber: Traub