BGer 9C_556/2011
 
BGer 9C_556/2011 vom 15.12.2011
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
9C_556/2011
Urteil vom 15. Dezember 2011
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Kernen,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Pierre Heusser,
Beschwerdeführerin,
gegen
Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Ergänzungsleistung zur AHV/IV
(Berechnung des Leistungsanspruchs; Rückerstattung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 7. Juni 2011.
Sachverhalt:
A.
Die 1977 geborene A.________ ist Mutter von zwei (2001 und 2004 geborenen) Kindern und seit 4. Juli 2006 von ihrem Ehemann S.________ geschieden. Abgeleitet von dessen Berechtigung auf eine Rente der Invalidenversicherung und unter Einbezug der Kinder in die Berechnung sprach ihr die Sozialversicherungsanstalt des Kantons Aargau (SVA) mit Verfügung vom 3. November 2006 Ergänzungsleistungen ab 1. August 2006 zu. Seit 1. Januar 2009 lebt A.________ wiederum mit ihrem geschiedenen Ehemann zusammen. Die SVA berechnete dessen Anspruch auf Ergänzungsleistungen ab diesem Zeitpunkt neu, wobei sie die Kinder nun dem Vater zurechnete. Mit Verfügung vom 25. Juni 2010 verneinte sie einen Anspruch der A.________ auf Ergänzungsleistungen ab 1. Januar 2009 und verpflichtete sie, zu viel bezogene Ergänzungsleistungen im Betrag von Fr. 68'876.- zurückzuerstatten. Die dagegen erhobene Einsprache und das gleichzeitig gestellte Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung wies sie mit Einspracheentscheid vom 16. November 2010 ab.
B.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der A.________ verpflichtete das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die SVA mit Entscheid vom 7. Juni 2011, ihr für das Einspracheverfahren die unentgeltliche Rechtsverbeiständung zu gewähren. Im Übrigen wies es die Beschwerde ab, soweit es darauf eintrat.
C.
A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und beantragen, unter Aufhebung des Entscheides vom 7. Juni 2011, soweit er Ergänzungsleistungen betrifft, sei die Sache an die Verwaltung zurückzuweisen, damit diese ihren Anspruch weiterhin unter Berücksichtigung der Kinder berechne. Ferner lässt sie um unentgeltliche Rechtspflege ersuchen.
Die SVA beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das kantonale Gericht und das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichten auf eine Stellungnahme.
Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen).
2.
2.1 Die Vorinstanz hat zu Recht einen selbständigen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen verneint (vgl. Art. 4 ff. Bundesgesetz vom 6. Oktober 2006 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung [ELG, SR 831.30]; vgl. Urteil 9C_371/2011 vom 5. September 2011 E. 2.3). Weiter ist sie der Auffassung, dass der Ergänzungsleistungsanspruch der Kinder von geschiedenen Eltern, die erneut zusammenziehen, gemeinsam mit dem rentenberechtigten Elternteil zu berechnen sei. Demnach habe die Beschwerdeführerin die Ergänzungsleistung seit 1. Januar 2009 unrechtmässig bezogen. Auf die Einwendungen betreffend Erlass der Rückforderung ist die Vorinstanz nicht eingetreten.
2.2 Nach Auffassung der Beschwerdeführerin wurden ihr - als alleiniger Inhaberin der elterlichen Sorge - die Ergänzungsleistungen der Kinder zu Recht ausbezahlt. Deren Anspruch (vgl. Urteil 9C_371/2011 vom 5. September 2011 E. 2.4.1) sei gestützt auf Abs. 1 der in die Verordnung vom 15. Januar 1971 über die Ergänzungsleistungen zur Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (ELV, SR 831.301) aufgenommenen Schlussbestimmung der Änderung vom 28. September 2007 (SchlBest) zu berechnen, und zwar unabhängig von ihrem geschiedenen Ehemann. Abs. 2 SchlBest ELV gelange nur zur Anwendung, wenn getrennte Ehegatten wieder zusammenleben. Da sie mit ihrem geschiedenen Ehemann einen gemeinsamen Haushalt begründet habe, sei die Berechnung der Ergänzungsleistung weiterhin nach Abs. 1 SchlBest ELV durchzuführen.
3.
3.1 Art. 9 Abs. 2 ELG, Art. 7 ELV sowie Abs. 1 und 2 SchlBest ELV haben insofern das gleiche Regelungsthema, als sie die Berechnung der Ergänzungsleistung von Kindern, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen, normieren. Gemäss Art. 9 Abs. 2 ELG werden die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen von Ehegatten und Personen mit rentenberechtigten Kindern zusammengerechnet. Der Bundesrat bestimmt die Zusammenrechnung der anerkannten Ausgaben und der anrechenbaren Einnahmen von Familienmitgliedern; er kann Ausnahmen von der Zusammenrechnung vorsehen, insbesondere bei Kindern, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen (Art. 9 Abs. 5 lit. a ELG).
Art. 7 Abs. 1 lit. a ELV bestimmt, dass die jährliche Ergänzungsleistung für Kinder, die mit den Eltern zusammenleben, gemeinsam berechnet wird. Leben die Kinder dagegen nur mit einem Elternteil zusammen, der rentenberechtigt ist, so wird die Ergänzungsleistung zusammen mit diesem Elternteil festgelegt (Art. 7 Abs. 1 lit. b ELV).
Gemäss Abs. 1 SchlBest ELV wird die jährliche Ergänzungsleistung eines Kindes, das einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründet und am 31. Dezember 2007 mit einem Elternteil zusammenlebt, der getrennt oder geschieden ist und der seinen Anspruch auf Ergänzungsleistung am 1. Januar 2008 wegen der Aufhebung der laufenden Zusatzrenten in der IV verliert, aufgrund der anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen des Kindes und des Elternteils, mit dem es zusammenlebt, berechnet. Die jährliche Ergänzungsleistungsberechnung nach Abs. 1 SchlBest ELV ist dann nicht mehr anwendbar, wenn entweder das Kind nicht mehr mit dem Elternteil zusammenlebt (Abs. 2 lit. a SchlBest ELV) oder die getrennten Eltern wieder zusammenleben oder der Elternteil, mit dem das Kind zusammenlebt, wieder heiratet (Abs. 2 lit. b SchlBest ELV).
3.2 Das Gesetz muss in erster Linie aus sich selbst heraus, das heisst nach dem Wortlaut, Sinn und Zweck und den ihm zugrunde liegenden Wertungen auf der Basis einer teleologischen Verständnismethode ausgelegt werden. Die Gesetzesauslegung hat sich vom Gedanken leiten zu lassen, dass nicht schon der Wortlaut die Norm darstellt, sondern erst das an Sachverhalten verstandene und konkretisierte Gesetz. Gefordert ist die sachlich richtige Entscheidung im normativen Gefüge, ausgerichtet auf ein befriedigendes Ergebnis der ratio legis. Dabei befolgt das Bundesgericht einen pragmatischen Methodenpluralismus und lehnt es namentlich ab, die einzelnen Auslegungselemente einer hierarchischen Ordnung zu unterstellen. Die Gesetzesmaterialien können beigezogen werden, wenn sie auf die streitige Frage eine klare Antwort geben (BGE 136 III 23 E. 6.6.2.1 S. 37; 136 V 195 E. 7.1 S. 203; 135 V 50 E. 5.1 S. 53; 134 II 308 E. 5.2 S. 311). Verordnungsrecht ist gesetzeskonform auszulegen. Es sind die gesetzgeberischen Anordnungen, Wertungen und der in der Delegationsnorm eröffnete Gestaltungsspielraum mit seinen Grenzen zu berücksichtigen (BGE 137 V 167 E. 3.3 S. 170 f. mit Hinweisen).
4.
4.1 Aufgrund des Wortlauts der dargelegten Bestimmungen (E. 3.1) ist für die Berechnung der Ergänzungsleistung stets entscheidend, mit wem die Kinder zusammenleben. Nicht massgebend ist, wer das elterliche Sorgerecht innehat oder welcher Elternteil tatsächlich die Betreuung der Kinder übernimmt. Die Beschwerdeführerin legt nicht dar, weshalb das elterliche Sorgerecht und die tatsächliche Ausübung der Betreuung ausschlaggebend sein sollen für die Berechnung der Ergänzungsleistung.
4.2 Nach dem Wortlaut von Art. 9 Abs. 2 ELG werden die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen des rentenberechtigten Elternteils grundsätzlich mit jenen des Ehegatten (ZAK 1986 S. 136; BGE 137 V 82 E. 4.1 S. 84) und der Kinder, die einen Anspruch auf eine Kinderrente der IV begründen, zusammengerechnet. Dagegen wird die Konkubinatspartnerin oder der Konkubinatspartner, wie deren resp. dessen eigene Kinder, nicht in die Berechnung eingeschlossen. Vorbehältlich des Rechtsmissbrauchs wird die Ergänzungsleistung eines Versicherten, der aus besonderen Gründen weiterhin mit dem geschiedenen Ehegatten zusammenlebt, nicht nach den für Ehegatten geltenden Regeln berechnet (BGE 137 V 82 E. 5-5.7 S. 85 ff.). Dies entspricht auch der Auffassung des BSV (vgl. Rz. 3121.01 der Wegleitung über die Ergänzungsleistungen zur AHV und IV [WEL]), dessen Weisungen das Bundesgericht zwar nicht binden, die bei der Entscheidfindung aber zu berücksichtigen sind (BGE 137 V 82 E. 5.5 S. 88; 133 V 587 E. 6.1 S. 591). Demnach werden bei der Berechnung der Ergänzungsleistung die anerkannten Ausgaben und anrechenbaren Einnahmen der Kinder, die zusammen mit ihren geschiedenen Eltern in einer Hausgemeinschaft leben, beim rentenberechtigten Elternteil berücksichtigt.
4.3 Wohl wäre aufgrund des Wortlauts von Art. 7 Abs. 1 lit. a ELV auch ein Einschluss der anerkannten Ausgaben und der anrechenbaren Einnahmen der geschiedenen Ehegattin oder des geschiedenen Ehegatten bei der Ergänzungsleistungsberechnung möglich. Dieser Interpretationsspielraum ändert jedoch nichts daran, dass nach Art. 9 Abs. 2 ELG, der letztlich Massstab bildet, die Kinder beim rentenberechtigten Elternteil zu berücksichtigen sind (E. 4.2).
4.4
4.4.1 In Abs. 2 SchlBest ELV werden die geschiedenen Ehegatten, die wieder zusammenleben, nicht erwähnt.
4.4.2 Mit der 5. IV-Revision wurden die laufenden Zusatzrenten für Ehegatten aufgehoben. Der Bundesrat hat jedoch für diejenigen Betroffenen, die getrennt leben oder geschieden sind und mit rentenberechtigten Kindern zusammenleben, eine Besitzstandsregelung getroffen (Carigiet/Koch, Ergänzungsleistungen zur AHV/IV, 2. Aufl. 2009, S. 114). Denn der Wegfall des eigenen Ergänzungsleistungsanspruchs hätte bei den geschiedenen Personen mit Kindern zu einer finanziellen Lücke geführt, auch wenn der Unterhalt des Kindes über die Kinderrente und die Ergänzungsleistungen, die zu seinen Gunsten ausgerichtet werden, weitgehend gedeckt ist. Die Besitzstandsregelung wurde zur Vermeidung einer finanziellen Notlage erlassen, weil es meist kurzfristig nicht möglich ist, eine Erwerbstätigkeit aufzunehmen oder das Arbeitspensum zu erhöhen. Deshalb wurden die Ergänzungsleistungen dieser Personen nach derselben Methode berechnet, wie die Ergänzungsleistungen, die sie selbst vor dem Inkrafttreten der 5. IV-Revision erhalten haben (Erläuterungen des BSV zur Ergänzung der Änderung der Verordnung über die Invalidenversicherung, http://www.bsv.admin.ch/vollzug/documents/index/category:59/lang:deu, besucht am 14. November 2011). Der Botschaft lässt sich hierzu nichts entnehmen (Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision] vom 22. Juni 2005).
Eine Berechnung der Ergänzungsleistung des Kindes zusammen mit dem Elternteil, der den Anspruch auf eine Zusatzrente verloren hat und wieder mit dem geschiedenen Ehegatten zusammenwohnt - wie von der Beschwerdeführerin verlangt - hätte zur Folge, dass die Familie finanziell besser gestellt wäre als vor der Scheidung (vgl. die Ergänzungsleistungsberechnung der Beschwerdegegnerin vom 27. Juli 2006 für die ganze Familie, die Ergänzungsleistungsberechnungen vom 8. November 2006 und 16. Februar 2007 für den geschiedenen Ehemann sowie die Ergänzungsleistungsberechnungen vom 26. Oktober 2006 und 3. September 2007 für die Beschwerdeführerin zusammen mit ihren Kindern). Dies würde über den Sinn und Zweck der Besitzstandsregelung hinausgehen, was nicht der Wille des Gesetz- bzw. des Verordnungsgebers gewesen sein kann.
4.5 Nach dem Gesagten ist die jährliche Ergänzungsleistung für Kinder zusammen mit dem rentenberechtigten Elternteil zu berechnen, wenn die Kinder wieder mit diesem in demselben Haushalt wohnen. Folglich besteht kein Raum für eine gesonderte Berechnung der jährlichen Ergänzungsleistung der Kinder. Die Vorinstanz hat zu Recht einen Anspruch der Beschwerdeführerin auf Ergänzungsleistungen ab dem 1. Januar 2009 verneint. Die Beschwerde ist unbegründet.
5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Der Beschwerdeführerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4.
Rechtsanwalt Dr. Pierre Heusser wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 15. Dezember 2011
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Meyer
Die Gerichtsschreiberin: Dormann