Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
8C_650/2011
Urteil vom 15. Februar 2012
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichterinnen Leuzinger, Niquille,
Gerichtsschreiber Grunder.
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
H.________, vertreten durch
Rechtsanwalt Matthias Horschik,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Verwaltungsverfahren; unentgeltlicher Rechtsbeistand),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Juli 2011.
Sachverhalt:
A.
Die 1971 geborene H.________ meldete sich am 6. Oktober 2006 wegen der Folgen eines Verkehrsunfalles vom 25. November 2005 zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen zog u.a. die Akten der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) bei und veranlasste die polydisziplinäre Begutachtung bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS [Gutachten vom 28. April 2010]). Laut einer Stellungnahme des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 15. Mai 2010 war die Versicherte wegen der psychopathologischen Befunde (mittelgradige depressive Störung mit somatischem Syndrom und generalisiertes chronisches Schmerzsyndrom [funktionell bzw. dissoziativ]) für die Ausübung körperlich leichter bis mittelschwerer Tätigkeiten (ohne ausgesprochene Zwangshaltungen oder Stressbelastungen) leistungsmässig im Umfang von 50 % eingeschränkt. Am 11. November 2010 liess die rechtsanwaltlich vertretene Versicherte ein Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Verbeiständung für das Verwaltungsverfahren einreichen, das die IV-Stelle mit Verfügung vom 10. Dezember 2010 ablehnte.
B.
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde bewilligte die Vizepräsidentin der Abteilung II des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen die unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das Verwaltungsverfahren ab 11. November 2010 und ernannte Rechtsanwalt Matthias Horschik zum unentgeltlichen Rechtsbeistand (Entscheid vom 27. Juli 2011).
C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des Entscheids vom 27. Juli 2011 sei das Verfahren an das kantonale Gericht zurückzuweisen, damit dieses einen neuen Entscheid in gesetzmässiger Besetzung fälle; eventualiter sei die Verfügung vom 10. Dezember 2010 zu bestätigen.
H.________ lässt auf Abweisung der Beschwerde schliessen, soweit darauf einzutreten ist. Sie ersucht zudem um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Mit dem Hauptbegehren beanstandet die IV-Stelle, dass der angefochtene Entscheid als einzelrichterlicher Entscheid erging. Diese Rüge der funktionellen Unzuständigkeit der Einzelrichterin ist vorab zu prüfen, da bei deren Begründetheit der angefochtene Entscheid ohne Prüfung der materiell streitigen Frage aufzuheben ist (vgl. BGE 125 V 499 E. 2c S. 502).
2.
2.1 Die Rechtspflegebestimmung des Art. 61 ATSG enthält keine Vorschrift über die Zusammensetzung der kantonalen Versicherungsgerichte. Die Regelung dieser Frage obliegt somit den Kantonen. Sowohl Art. 30 Abs. 1 BV als auch Art. 6 Ziff. 1 EMRK geben dem Einzelnen Anspruch auf richtige Besetzung des Gerichts und Einhaltung der jeweils geltenden staatlichen Zuständigkeitsordnung (BGE 129 V 335 E. 1.3.1 S. 338; 128 V 82 E. 2a S. 84; 127 I 128 E. 3c S. 130, S. 196 E. 2b S. 198; 126 I 168 E. 2b S. 170; SVR 2000 UV Nr. 21 S. 72, U 161/98 E. 2a).
2.2 Die Verletzung von Grundrechten (einschliesslich der willkürlichen Anwendung von kantonalem Recht und Willkür bei der Sachverhaltsfeststellung, BGE 133 II 249 E. 1.4.3 S. 255) prüft das Bundesgericht nicht von Amtes wegen, sondern nur insoweit, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 133 II 249 E. 1.4.2 S. 254 mit Hinweisen).
2.3 Rechtsverletzungen im Sinne von Art. 95 lit. a und b BGG prüft das Bundesgericht grundsätzlich frei, einschliesslich die Frage, ob die Auslegung und Anwendung des kantonalen Rechts zu einer Bundesrechtswidrigkeit führt. Im Übrigen prüft das Bundesgericht die Handhabung kantonalen Rechts - vorbehältlich der in Art. 95 lit. c und d BGG genannten Fälle - bloss auf Willkür hin (Art. 9 BV; vgl. BGE 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f.). Mit freier Kognition beurteilt es indessen die Frage, ob die als vertretbar erkannte Auslegung des kantonalen Prozessrechts mit den genannten Garantien der Art. 30 Abs. 1 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK vereinbar ist.
2.4 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist; dass eine andere Lösung ebenfalls vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 132 I 175 E. 1.2 S. 177; 131 I 467 E. 3.1 S. 473 f., je mit Hinweisen).
3.
3.1 Nach dem st. gallischen Gerichtsgesetz und der kantonalen Verordnung über die Organisation und den Geschäftsgang des Versicherungsgerichts (sGS 941.1; 941.114) können in einfachen Fällen die Mitglieder der Abteilungen als Einzelrichterinnen oder Einzelrichter entscheiden (Art. 17 Abs. 2 Gerichtsgesetz in Verbindung mit Art. 19 Abs. 1 Organisationsverordnung); als einfache Fälle gelten insbesondere Streitsachen mit einem unbestrittenen oder eindeutigen Sachverhalt, die aufgrund einer klaren Rechtslage und einer feststehenden Gerichtspraxis beurteilt werden können (Art. 19 Abs. 2 Organisationsverordnung).
3.2
3.2.1 Anfechtungsgegenstand im kantonalen Gerichtsverfahren bildete die Verfügung vom 10. Dezember 2010, mit welcher die IV-Stelle den geltend gemachten Anspruch der Versicherten auf unentgeltlichen Rechtsbeistand vor Erlass des Vorbescheids verneinte. Sie bringt mit Beschwerde im Wesentlichen vor, die Beurteilung der Frage, ob ausnahmsweise vor Erlass des Vorbescheids die unentgeltliche Verbeiständung zu bewilligen sei, hänge weitgehend vom Ermessen der Verwaltung und des Gerichts ab; Ermessensentscheide könnten nicht als einfache Fälle bezeichnet werden. Weiter liege medizinisch ein eher anspruchsvoller Fall vor, weshalb auch das Erfordernis des eindeutigen Sachverhalts nicht erfüllt sei. Der Entscheid der Einzelrichterin des kantonalen Versicherungsgerichts sei daher unzulässig gewesen und verstosse gegen den in Art. 30 Abs. 1 BV garantierten Anspruch auf ein zuständiges Gericht.
3.2.2 Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass Art. 30 Abs. 1 BV keinen Anspruch auf Beurteilung durch ein Kollegialgericht garantiert. Zu prüfen ist daher, ob mit den Vorbringen der IV-Stelle zu begründen ist, dass die Einzelrichterin die kantonale Zuständigkeitsvorschrift willkürlich ausgelegt und angewendet hat. Entgegen der Auffassung der IV-Stelle räumt der Wortlaut von Art. 37 Abs. 4 ATSG der Verwaltung kein Ermessen ein. Vielmehr sind Tatbestand ("Wo die Verhältnisse es erfordern") und Rechtsfolge ("ist der gesuchstellenden Person ein unentgeltlicher Rechtsbeistand zu bewilligen") eindeutig festgelegt. In tatbeständlicher Hinsicht ist nach ständiger, bei der Schaffung des Art. 37 Abs. 4 ATSG (in Kraft seit 1. Januar 2003) übernommenen (vgl. BGE 132 V 200 E. 4.1, 5.1.1 und E. 5.1.3, je mit Hinweisen) Rechtsprechung an die sachliche Gebotenheit der Verbeiständung im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren ein strenger Massstab anzulegen; eine anwaltliche Vertretung drängt sich nur in Fällen auf, in denen schwierige rechtliche oder tatsächliche Fragen dies als notwendig erscheinen lassen (BGE 125 V 32 E. 4b S. 35 f., 117 V 408 E. 5a, 114 V 228 E. 5b S. 235). Damit besteht eine klare Rechtslage, anhand der die IV-Stelle im konkreten Fall zu prüfen hatte, ob ein unentgeltlicher Rechtsbeistand erforderlich war. Nachdem sie mit der Einzelrichterin insoweit einig geht, dass der Fall in medizinischer Hinsicht zumindest nicht einfach ist, muss ein unbestrittener Sachverhalt im Sinne von Art. 19 Abs. 2 Organisationsverordnung angenommen werden. Die Auffassung der Einzelrichterin, die Beschwerde gegen die verfügte Verweigerung der unentgeltlichen Verbeiständung in einzelrichterlicher Zuständigkeit beurteilen zu können, ist daher insgesamt vertretbar.
4.
4.1 Nach den Erwägungen der Vorinstanz ist gestützt auf das polydisziplinäre Gutachten der MEDAS vom 28. April 2010 eine komplexe gesundheitliche Problematik mit erheblicher Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit anzunehmen. Die Versicherte habe nach den gutachterlichen Explorationen weitere Unfälle erlitten, deren Folgen möglicherweise Einfluss auf die medizinische Beurteilung des Gesundheitszustands haben könnten. Mit Blick auf das seit dem Jahre 2006 dauernde IV-Abklärungsverfahren, dessen Ende noch nicht absehbar sei, müsse von einer schwierigen Sachlage ausgegangen werden. In rechtlicher Hinsicht böten die im Gutachten der MEDAS genannten Diagnosen erhebliches Potential für juristische Auseinandersetzungen darüber, ob eine IV-rechtlich relevante Arbeitsunfähigkeit begründet sei. Auch aus koordinationsrechtlicher Sicht sei die Situation jedenfalls für einen Laien schwierig. Weiter sei zu berücksichtigen, dass die Versicherte alleinerziehende Mutter zweier minderjähriger Kinder sei, weshalb mit schwierig zu lösenden Fragen bei der Invaliditätsbemessung gerechnet werden müsse. Aufgrund des Ausbildungsniveaus, der Deutschkenntnisse und möglicherweise auch der gesundheitlichen Probleme sei davon auszugehen, dass sie ihre Interessen im laufenden IV-Verfahren nicht ausreichend selber zu wahren vermöge.
4.2
4.2.1 Der IV-Stelle ist beizupflichten, dass aus der seit Anmeldung zum Leistungsbezug vom 6. Oktober 2006 verstrichenen Zeitspanne und der ärztlich bescheinigten Arbeitsunfähigkeit nicht ohne weiteres auf ein besonders komplexes IV-Verwaltungsverfahren geschlossen werden kann. Für die medizinische Abklärung der gesundheitlichen Folgen der Unfälle, laut kantonaler Beschwerde auch derjenigen, die sich nach der MEDAS-Begutachtung ereigneten, war die SUVA zuständig. Sie hat, Art. 32 Abs. 2 ATSG entsprechend (vgl. BGE 136 V 2), die IV-Stelle regelmässig über Stand und Verlauf der durchgeführten und über die in Aussicht genommenen Abklärungen informiert, wozu der RAD jeweils verfahrensintern Stellung genommen hat. Inwieweit sich daraus fallbezogene besondere Schwierigkeiten für das IV-Abklärungsverfahren ergeben haben und ergeben könnten, ist nicht ersichtlich. Der IV-Stelle ist weiter auch darin beizupflichten, dass dem vorinstanzlichen Entscheid nicht zu entnehmen ist, inwiefern mit besonderen Schwierigkeiten bei der von einer qualifizierten Person an Ort und Stelle durchzuführenden Abklärung der Behinderung im Haushalt (vgl. Art. 69 Abs. 2 IVV) zu rechnen sei. Wohl ist das Ausmass psychischer Leiden und der damit verbundenen Einschränkungen bei der Haushaltabklärung oft nur schwer zu erkennen (vgl. dazu Urteil 9C_201/2011 vom 5. September 2011 E. 2 mit Hinweisen und E. 6), indessen sollte es der Abklärungsperson möglich sein, anhand der Darlegungen der medizinischen Sachverständigen im polydisziplinärem Gutachten der MEDAS vom 28. April 2010 und allenfalls gestützt auf Auskünfte des RAD die diagnostizierten funktionellen und dissoziativen Störungen, soweit sie die Erfüllung der gewohnten Aufgaben im Haushalt beeinträchtigen könnten, hinreichend zu erfassen. Dass sich schwierig zu lösende Fragen im Zusammenhang mit der vorinstanzlich angesprochenen Rechtsprechung zur Überwindbarkeit somatoformer Schmerzstörungen (BGE 130 V 352) und anderer pathogenetisch-ätiologisch unklarer syndromaler Beschwerdebilder (zuletzt BGE 136 V 279 hinsichtlich Schleudertraumata ohne organisch nachweisbare Funktionsausfälle) ergeben könnten, vermag die Erforderlichkeit einer anwaltlichen Verbeiständung im gegebenen Stadium des IV-Verwaltungsverfahrens nicht zu begründen. Mit Blick darauf, dass die SUVA für die Folgen der Unfälle, die sich nach der MEDAS-Begutachtung ereigneten, u.a. Heilbehandlung leistet, ist die vorinstanzlich angesprochene Aufarbeitung und Würdigung der umfangreichen medizinischen Akten und des seitenstarken MEDAS-Gutachtens zwecks Aufdeckens allfälliger Widersprüche oder Unzulänglichkeiten offensichtlich verfrüht. Insgesamt ist aufgrund der konkreten objektiven Umstände die Erforderlichkeit einer anwaltlichen Vertretung im zur Diskussion stehenden Verfahrensstadium zu verneinen.
4.2.2 Hinsichtlich der konkreten subjektiven Umstände nennt die Vorinstanz mangelhafte sprachliche und rechtliche Kenntnisse, die für sich allein nicht genügen, wie die IV-Stelle zutreffend vorbringt, die anwaltliche Vertretung im Verwaltungsverfahren zu rechtfertigen (vgl. BGE 125 V 32 E. 4b S. 35 f. mit Hinweisen). Für die Vermutung der Vorinstanz, die Fähigkeit der Versicherten, sich im Verfahren zurechtzufinden, sei möglicherweise wegen der gesundheitlichen Probleme herabgesetzt, finden sich in den Akten nicht genügend Anhaltspunkte. Unter solchen Umständen hat sich die Versicherte mit dem Beizug von Fach- oder Vertrauensleuten sozialer Institutionen/unentgeltlicher Rechtsberatungen zu behelfen.
5.
Die Voraussetzungen für die Bewilligung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung im bundesgerichtlichen Verfahren ( Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG ) sind erfüllt, weshalb das entsprechende Gesuch der Beschwerdegegnerin gutzuheissen ist. Sie ist indes auf Art. 64 Abs. 4 BGG hinzuweisen, wonach die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 27. Juli 2011 aufgehoben.
2.
Der Beschwerdegegnerin wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Rechtsanwalt Matthias Horschik, Zürich, wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdegegnerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 600.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 15. Februar 2012
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Ursprung
Der Gerichtsschreiber: Grunder