BGer 9C_908/2011
 
BGer 9C_908/2011 vom 02.03.2012
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
9C_908/2011
Urteil vom 2. März 2012
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
Verfahrensbeteiligte
H.________,
handelnd durch ihre Eltern B.________ und M.________,
und diese vertreten durch den
Rechtsdienst Integration Handicap,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 2. November 2011.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 7. August 2008 verneinte die IV-Stelle des Kantons Thurgau den Anspruch der H.________ (geb. 2. März 1993) auf Hilflosenentschädigung mit der Begründung, die versicherungsmässigen Voraussetzungen seien nicht erfüllt, weil die Hilflosigkeit bereits vor der Einreise in die Schweiz eingetreten sei. Auf ein von H.________ am 5. Januar 2010 sinngemäss gestelltes Gesuch um Wiedererwägung der Verfügung trat die IV-Stelle am 10. Juni 2011 nicht ein.
B.
Auf die dagegen erhobene Beschwerde trat das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 2. November 2011 nicht ein. Es wies das von H.________ gestellte Gesuch um unentgeltliche Prozessführung ab und überband ihr die Gerichtskosten.
C.
H.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Nichteintretensentscheid sei aufzuheben und es sei festzustellen, dass die IV-Stelle auf das Wiedererwägungsgesuch eingetreten ist. Die Angelegenheit sei an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die Höhe der Hilflosenentschädigung bemesse und darüber verfüge. Des Weitern ersucht sie um unentgeltliche Prozessführung.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
D.
Mit Verfügung vom 27. Dezember 2011 wurde das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege der H.________ mangels Bedürftigkeit abgewiesen.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
2.1 Gemäss Art. 53 Abs. 2 ATSG kann der Versicherungsträger auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist. Es besteht kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch auf Wiedererwägung (BGE 133 V 50 E. 4.1 S. 52; Urteil 8C_773/2008 vom 11. Februar 2009 E. 2.3, in: SVR 2009 EL Nr. 5 S. 17). Tritt die Verwaltung auf ein Wiedererwägungsgesuch nicht ein, was im Bestreitungsfalle durch Auslegung ihres diesbezüglichen Schreibens zu ermitteln ist (Urteil 9C_505/2007 vom 7. Mai 2008 E. 1.3.3), kann dagegen nicht Einsprache oder Beschwerde erhoben werden (BGE 133 V 50 E. 4.2.2 S. 55). Auf eine Beschwerde gegen ein Nichteintreten auf ein Wiedererwägungsgesuch der Verwaltung kann das Gericht nicht eintreten (BGE 133 V 50 E. 4.2.1 in fine S. 54 f.).
2.2 Wenn die Verwaltung hingegen auf ein Wiedererwägungsgesuch eintritt, die Wiedererwägungsvoraussetzungen prüft und anschliessend einen erneut ablehnenden Sachentscheid trifft, ist dieser allenfalls mit Einsprache und hernach beschwerdeweise anfechtbar. Die entsprechende Überprüfung hat sich in einem solchen Falle indessen auf die Frage zu beschränken, ob die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der bestätigten Verfügung gegeben sind. Thema des Einsprache- und des Beschwerdeverfahrens bildet also einzig die Prüfung, ob der Versicherungsträger zu Recht die ursprüngliche, formell rechtskräftige Verfügung nicht als zweifellos unrichtig und/oder deren Korrektur als von unerheblicher Bedeutung qualifiziert hat (BGE 119 V 475 E. 1b/cc S. 479, 117 V 8 E. 2a S. 13, 116 V 62).
2.3 Ein Wiedererwägungsgesuch kann die Verwaltung somit auf drei verschiedene Arten erledigen: 1. Sie tritt auf das Wiedererwägungsgesuch nicht ein. 2. Sie prüft die Wiedererwägungsvoraussetzungen, verneint sie und antwortet mit einem erneut ablehnenden Sachentscheid. 3. Sie prüft die Wiedererwägungsvoraussetzungen, bejaht sie und trifft einen neuen, von der ursprünglichen Verfügung abweichenden Sachentscheid (vgl. dazu BGE 117 V 8 E. 2b/aa S. 14 oben).
3.
3.1 Nach dem Wortlaut des Dispositivs des Schreibens vom 10. Juni 2011 ist die IV-Stelle auf das Wiedererwägungsgesuch nicht eingetreten. Das kantonale Gericht erwog, die IV-Stelle habe in der Begründung des Nichteintretensentscheides keine materiellen Ausführungen dahingehend gemacht, dass die grundsätzlichen Voraussetzungen für das Eintreten auf das Wiedererwägungsgesuch erfüllt wären. Sie sei weder auf den von der Versicherten angeführten Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich eingegangen noch habe sie überhaupt materielle Ausführungen gemacht, die sich mit der ursprünglichen Verfügung und dem allfälligen damaligen Anspruch auf Hilflosenentschädigung auseinandersetzen würden. Damit sei sie auf das Wiedererwägungsgesuch nicht eingetreten.
3.2 Dieser Betrachtungsweise kann nicht beigepflichtet werden. Entgegen dem angefochtenen Entscheid entsprechen die Ausführungen der IV-Stelle im Schreiben vom 10. Juni 2011 nicht etwa der ersten, sondern der zweiten der drei in E. 2.3 hiervor erwähnten Varianten. Denn die IV-Stelle hat die Wiedererwägungsvoraussetzungen geprüft: Die zweifellose Unrichtigkeit bejahte sie sinngemäss mit der Begründung, zum Zeitpunkt der ursprünglichen Verfügung hätte das Abkommen vom 8. Juni 1962 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über Sozialversicherung zur Anwendung gelangen müssen. Die Erheblichkeit der Berichtigung verneinte sie unter Hinweis darauf, dass die Verfügung frühestens mit Wirkung für die Zukunft in Wiedererwägung gezogen werden könnte und der Kosovo seit 1. April 2010 als Nichtvertragsstaat gelte, weshalb (einen Leistungsanspruch ausschliessendes) Landesrecht zur Anwendung gelange. Nach Prüfung der Voraussetzungen hat sie sinngemäss einen erneut ablehnenden Sachentscheid gefällt, indem sie an der früheren Verfügung festhielt (BGE 117 V 8 E. 2b/cc S. 15). Dass das Schreiben vom 10. Juni 2011 keine (weiteren) materiellen Ausführungen zum Anspruch auf Hilflosenentschädigung enthält, ändert, entgegen der Vorinstanz, nichts daran, dass die IV-Stelle auf das Wiedererwägungsgesuch eingetreten ist und unter Hinweis auf die per 1. April 2010 veränderte staatsvertragliche Lage den Anspruch erneut ablehnte. (Weiterer) materieller Ausführungen bedurfte es bei dieser Rechtslage nicht. Aus diesem Grunde hätte die Vorinstanz auf die dagegen erhobene Beschwerde eintreten müssen (vgl. E. 2.2). Die Sache wird deshalb an das kantonale Gericht zurückgewiesen, damit es auf die Beschwerde eintrete und prüfe, ob die IV-Stelle die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung der Verfügung vom 7. August 2008 zu Recht verneint hat.
4.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens hat die Beschwerdegegnerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ausserdem hat sie der Beschwerdeführerin ein Parteientschädigung zu zahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 2. November 2011 wird aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie über die Beschwerde gegen die Verfügung vom 10. Juni 2011 materiell entscheide.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 2. März 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Meyer
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann