Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
8C_744/2011 {T 0/2}
Urteil vom 25. April 2012
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiberin Durizzo.
Verfahrensbeteiligte
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Rechtsabteilung, Postfach 4358, 6002 Luzern,
Beschwerdeführerin,
gegen
I.________, vertreten durch Rechtsanwältin Linda Keller,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Unfallversicherung
(Invalidenrente; Einkommensvergleich),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 5. September 2011.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 18. März 2010 und Einspracheentscheid vom 15. September 2010 sprach die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) I.________, geboren 1955, für einen am 3. November 2006 erlittenen Unfall mit Wirkung ab 1. Januar 2010 eine Invalidenrente auf der Basis eines Invaliditätsgrades von 10% zu.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 5. September 2011 in dem Sinne teilweise gut, als I.________ eine Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 14% zugesprochen wurde.
C.
Die SUVA führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheides.
Die kantonalen Akten wurden eingeholt. Auf die Durchführung eines Schriftenwechsels wurde verzichtet.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG ).
2.
Nach den unangefochten gebliebenen Feststellungen der Vorinstanz kann der Versicherte zufolge der am 3. November 2006 erlittenen Schenkelhalsfraktur am linken Bein und der wegen anhaltender Beschwerden am 3. Oktober 2007 eingesetzten Hüft-Totalprothese der angestammten Tätigkeit auf dem Bau nicht mehr nachgehen. In einer leidensangepassten, leichten, vorwiegend sitzenden, wechselbelastenden Tätigkeit ist er jedoch aus somatischer Sicht voll arbeitsfähig; für das psychische Leiden hat die SUVA mangels adäquaten Kausalzusammenhangs mit dem Unfall nicht einzustehen. Streitig sind allein die erwerblichen Auswirkungen dieses Gesundheitsschadens.
3.
Das Valideneinkommen des Versicherten hätte sich im Jahr 2009 gemäss den Angaben der früheren Arbeitgeberin auf Fr. 56'290.- belaufen. Es lag nach den vorinstanzlichen Erwägungen um 14,22% unter dem Durchschnitt der gesamtschweizerischen Löhne im Baugewerbe gemäss Lohnstrukturerhebung des Bundesamtes für Statistik (LSE 2008, Tabelle TA1, umgerechnet auf die betriebsübliche wöchentliche Arbeitszeit und angepasst an die Nominallohnentwicklung). Die Vorinstanz ging davon aus, dass sich der Versicherte überwiegend wahrscheinlich nicht freiwillig mit einem tieferen Lohn habe begnügen wollen, sondern die unterdurchschnittliche Entlöhnung durch invaliditätsfremde Ursachen, namentlich eingeschränkte Arbeitsplatzauswahl auf dem für ihn in Betracht kommenden Arbeitsmarkt sowie fehlende einschlägige Ausbildung, bedingt gewesen sei, weshalb die Vergleichseinkommen zu parallelisieren seien. Das von der SUVA anhand von DAP-Blättern (Dokumentation der SUVA über Arbeitsplätze) ermittelte Invalideneinkommen von Fr. 53'502.- setzte sie daher nach Massgabe der 5% übersteigenden Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens um 9,22% herab. Aus dem Vergleich von Validen- und Invalideneinkommen ergab sich ein Invaliditätsgrad von 14%.
4.
Die SUVA macht geltend, dass die Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens nicht anhand gesamtschweizerischer Durchschnittslöhne zu ermitteln sei, sondern im Vergleich mit den statistischen Löhnen der Grossregion Ostschweiz.
5.
5.1 Bezog eine versicherte Person aus invaliditätsfremden Gründen (z.B. geringe Schulbildung, fehlende berufliche Ausbildung, mangelnde Deutschkenntnisse, beschränkte Anstellungsmöglichkeiten wegen Saisonnierstatus) ein deutlich unterdurchschnittliches Einkommen, ist diesem Umstand bei der Invaliditätsbemessung nach Art. 16 ATSG Rechnung zu tragen, sofern keine Anhaltspunkte dafür bestehen, dass sie sich aus freien Stücken mit einem bescheideneren Einkommensniveau begnügen wollte (BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 326 mit Hinweisen; 135 V 58 E. 3.4.1-3.4.6 S. 60 ff.; 135 V 297 E. 5.1 S. 300 f.).
5.2 Das Bundesgericht hat wiederholt erkannt, dass zur Prüfung der Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens nicht auf das Lohnniveau in der jeweils in Betracht fallenden Grossregion, sondern auf gesamtschweizerische Verhältnisse abzustellen ist, weil - solange kein repräsentatives tatsächlich erwirtschaftetes Einkommen vorhanden ist - der Invalidenlohn im nachfolgenden Einkommensvergleich ebenfalls auf Grund gesamtschweizerischer Tabellenlöhne zu bestimmen ist (Urteile 8C_648/2009 vom 24. März 2010 E. 5.1; 8C_683/2009 vom 26. Februar 2010 E. 4.1; U 8/07 vom 20. Februar 2008 [auszugsweise publiziert in RtiD 2008 II S. 293] E. 6.3; U 423/06 vom 5. November 2007 E. 4.2.2; vgl. zur Begründung auch SVR 2007 UV Nr. 17 S. 56, U 75/03 E. 7 u. 8). Entsprechend wurde denn auch in BGE 134 V 322 E. 4.2 und 4.3 S. 326 f. sowie in der in BGE 135 V 297 nicht publizierten E. 3.1 die Frage nach der Durchschnittlichkeit des vor dem versicherten Unfallereignis realisierten Einkommens jeweils mittels Vergleichs mit dem gesamtschweizerisch laut Tabelle TA1 (monatlicher Bruttolohn [Zentralwert] nach Wirtschaftszweigen, Anforderungsniveau des Arbeitsplatzes und Geschlecht, Privater Sektor) der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Lohnstrukturerhebung (LSE) für dieselbe Tätigkeit ausgewiesenen Lohn geprüft (Urteil 8C_648/2009 vom 24. März 2010 E. 5.1).
5.3 Die SUVA verweist zur Begründung, weshalb auf die erst letzthin bestätigte Rechtsprechung zurückzukommen sei, im Wesentlichen auf den in der Beschwerde zitierten Beitrag in Schaffhauser/Kieser (Hrsg.), Unfall und Unfallversicherung (Entwicklungen - Würdigungen - Aussichten, Schriftenreihe des Instituts für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis IRP-HSG, Band 59, St. Gallen 2009, S. 91 ff.). Diese Ausführungen basieren auf einem Referat an der Tagung vom 27. November 2008 in Luzern mit dem Thema "Übersicht über die Leistungspraxis - ein Erfahrungsbericht" und entstammen somit der Rechtsabteilung der SUVA. Im Übrigen wird aber nicht ausgeführt, weshalb die Voraussetzungen, welche praxisgemäss (BGE 132 V 257 E. 2.4 S. 262) an eine Änderung der Rechtsprechung gestellt werden, erfüllt sein sollen.
5.4 Dass die Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens hier zu berücksichtigen sei, wird von der SUVA anerkannt. Insbesondere bestehen keine Anhaltspunkte, dass sich der Beschwerdegegner aus freien Stücken mit einem tiefen Einkommen begnügt hätte.
6.
6.1 Beim Einkommensvergleich ist der Grundsatz zu beachten, dass Lohneinbussen, welche auf invaliditätsfremde Gesichtspunkte zurückzuführen sind, entweder überhaupt nicht oder aber bei beiden Vergleichseinkommen gleichmässig zu berücksichtigen sind (BGE 129 V 222 E. 4.4 S. 225).
Es folgt daraus, dass bei Heranziehen eines statistischen (gesamtschweizerischen) Wertes anstelle des effektiv erzielten Verdienstes zufolge Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens auch das Invalideneinkommen auf einem statistischen (gesamtschweizerischen) Durchschnittslohn als Ausgangswert zu basieren hat (so auch BGE 134 V 322 E. 4.1 S. 326 mit Hinweisen; 135 V 58 E. 3.4.1-3.4.6 S. 60 ff.; 135 V 297 E. 5.1 S. 300 f.; Urteile 8C_648/2009 vom 24. März 2010 E. 5.1; 8C_683/2009 vom 26. Februar 2010 E. 4.1), ansonsten der Vergleich nicht als zuverlässig gelten kann.
Die Ermittlung des zumutbaren Invalideneinkommens hat daher in diesen Fällen grundsätzlich gestützt auf die vom Bundesamt für Statistik herausgegebene Lohnstrukturerhebung (LSE) zu erfolgen.
6.2 Im vorliegenden Fall hat die SUVA bei der Ermittlung des Invalideneinkommens auf DAP-Profile abgestellt. Dies ist denn auch ihr Hauptargument, weshalb ihrer Auffassung nach das Valideneinkommen bei der Prüfung auf seine Unterdurchschnittlichkeit mit regionalen Durchschnittslöhnen zu vergleichen sei. Dieser Einwand verfängt indessen nicht.
Es sind beim Einkommensvergleich anhand parallelisierter Einkommen zwei Schritte zu unterscheiden. Als Erstes ist die Frage der Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens zu prüfen. Im Rahmen des Einkommensvergleichs folgt dann die Ermittlung und Gegenüberstellung der hypothetischen Vergleichseinkommen.
Bei den beiden Schritten sind die jeweiligen (oben in E. 5.2 u. 6.1 dargelegten) von der Rechtsprechung entwickelten Regeln zu beachten. Ob es zulässig war, dass die SUVA beim Invalideneinkommen einen DAP-Lohn herangezogen hat, ist mit Blick auf die für den Einkommensvergleich beziehungsweise die Ermittlung des Invalideneinkommens geltenden Grundsätze zu prüfen, worauf nachfolgend (E. 7) noch näher einzugehen ist; dieser Umstand beschlägt jedoch nicht die Frage der Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens und kann dabei daher nicht massgeblich sein.
7.
7.1 Das Bundesgericht hat Invaliditätsbemessungen unter Beizug von DAP-Profilen, bei welchen es sich nicht um statistische Werte handelt (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301; 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 u. 476, E. 4.2.2 S. 480 f.), auch in Fällen mit statistisch (gesamtschweizerisch) gesehen unterdurchschnittlichem Valideneinkommen dann geschützt, wenn der DAP-Lohn (Durchschnitt von fünf ausgewählten Arbeitsplätzen, BGE 129 V 472) erheblich unter dem Durchschnitt aller den Suchkriterien entsprechenden DAP-Einkommen oder deutlich unter dem statistischen (gesamtschweizerischen) Durchschnittslohn lag (Urteile 8C_445/2008 vom 1. Dezember 2008 E. 5.3.2; 8C_413/2010 vom 26. August 2010 E. 7).
Mit dem vergleichsweise tiefen DAP-Lohn wurde die statistische Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens als hinreichend berücksichtigt erachtet.
Letztinstanzlich massgebend und entscheidwesentlich für die Frage, ob bei festgestellter und beachtlicher Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens mit dem kantonalen Gericht auch auf ein gestützt auf DAP-Blätter ermitteltes Invalideneinkommen abgestellt werden könne, war demnach die Auswahl des DAP-Profils hinsichtlich der Entlöhnung im Vergleich zu den anderen in Betracht fallenden DAP-Arbeitsmöglichkeiten oder zu den Tabellenlöhnen.
7.2 Im vorliegenden Fall lag der von der SUVA verwendete DAP-Lohn mit Fr. 53'502.- über dem Durchschnitt aller 67 DAP-Profile, welche aus der Suche nach geeigneten Arbeitsplätzen resultierten (Fr. 52'963.-), und die SUVA hat somit aus den in Frage kommenden Arbeitsmöglichkeiten eine überdurchschnittlich bezahlte ausgewählt. Die vorinstanzliche Verifizierung anhand der LSE ergab einen annähernd gleichen Betrag. Der von der SUVA herangezogene DAP-Lohn war somit weder im Vergleich zu allen in Betracht fallenden DAP-Profilen noch zum statistischen Einkommen unterdurchschnittlich.
Indessen lässt sich der vorinstanzliche Einkommensvergleich im Ergebnis dennoch nicht beanstanden, nachdem das kantonale Gericht den DAP-Lohn nach Massgabe der festgestellten erheblichen Unterdurchschnittlichkeit des Valideneinkommens herabgesetzt hat.
8.
Die Beschwerde kann ohne Durchführung des Schriftenwechsels (Art. 102 Abs. 1 BGG) erledigt werden.
9.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem Prozessausgang entsprechend der Beschwerde führenden SUVA auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
Dem Versicherten ist aus dem bundesgerichtlichen Verfahren kein Aufwand erwachsen, da kein Schriftenwechsel durchgeführt wurde; es ist ihm daher keine Parteientschädigung zuzusprechen ( Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 25. April 2012
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Ursprung
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo