BGer 1B_245/2012
 
BGer 1B_245/2012 vom 22.05.2012
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
{T 0/2}
1B_245/2012
Urteil vom 22. Mai 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Aemisegger, Chaix,
Gerichtsschreiber Härri.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Jakob Rhyner,
gegen
Jugendanwaltschaft Altstätten, Rabengasse 4,
9450 Altstätten.
Gegenstand
Vorsorgliche Unterbringung,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 23. Februar 2012 der Anklagekammer des Kantons St. Gallen.
Sachverhalt:
A.
Mit Urteil vom 21. Januar 2010 erklärte die Jugendanwaltschaft Altstätten X.________ (geb. 1993) der Tätlichkeiten, des Angriffs und der Widerhandlung gegen das Waffengesetz schuldig. Als Strafe sprach sie eine persönliche Leistung von drei Wochen aus und schob den Vollzug bedingt auf. Sie ordnete zudem eine ambulante Behandlung an und erteilte X.________ die Weisung, sich einer Therapie beim Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienst Chur zu unterziehen.
Diese Massnahme erfüllte die Erwartungen nicht.
Per 12. Dezember 2010 verfügte die Jugendanwaltschaft die vorsorgliche Unterbringung von X.________ im Landheim Brüttisellen.
Aufgrund des untragbaren Verhaltens von X.________ stellte ihn die Leitung des Landheims Mitte November 2011 "zur Verfügung".
Zur Überbrückung der Zeit bis zum Eintritt in ein Massnahmezentrum wurde X.________ am 18. November 2011 in das Regionalgefängnis Altstätten verlegt.
B.
Am 16. Januar 2012 verfügte die Jugendanwaltschaft, die per 12. Dezember 2010 angeordnete vorsorgliche Unterbringung werde weitergeführt und X.________ per 28. Februar 2012 im Massnahmezentrum für junge Erwachsene "Arxhof" untergebracht.
Die von X.________ dagegen erhobene Beschwerde wies die Anklagekammer des Kantons St. Gallen am 23. Februar 2012 ab.
C.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, der Entscheid der Anklagekammer sei aufzuheben und die Sache zur Neubeurteilung an diese zurückzuweisen.
D.
Die Anklagekammer und die Jugendanwaltschaft haben sich vernehmen lassen. Sie halten dafür, die Beschwerde sei verspätet.
X.________ hat eine Replik eingereicht.
Erwägungen:
1.
1.1 Gegen den angefochtenen Entscheid ist die Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG grundsätzlich zulässig (Urteile 1B_32/2011 vom 15. Februar 2011 E. 1.1; 1B_437/2011 vom 14. September 2011 E. 2).
1.2
1.2.1 Gemäss Art. 100 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde gegen einen Entscheid innert 30 Tagen nach der Eröffnung der vollständigen Ausfertigung beim Bundesgericht einzureichen.
Nach Art. 46 BGG stehen gesetzlich oder richterlich nach Tagen bestimmte Fristen unter anderem still vom siebenten Tag vor Ostern bis und mit dem siebenten Tag nach Ostern (Abs. 1 lit. a). Diese Vorschrift gilt nicht in Verfahren betreffend aufschiebende Wirkung und andere vorsorgliche Massnahmen sowie in der Wechselbetreibung und auf dem Gebiet der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen (Abs. 2).
Der Anwalt des Beschwerdeführers nahm den angefochtenen Entscheid am 15. März 2012 in Empfang. Er übergab die Beschwerde am 23. April 2012 der Post. Die Beschwerde wäre somit nur dann rechtzeitig, wenn der Fristenstillstand nach Art. 46 Abs. 1 lit. a BGG anwendbar wäre.
1.2.2 Gemäss Art. 46 Abs. 2 BGG gilt der Fristenstillstand unter anderem nicht bei vorsorglichen Massnahmen.
Nach Art. 5 des Bundesgesetzes vom 20. Juni 2003 über das Jugendstrafrecht (Jugendstrafgesetz, JStG; SR 311.1) kann während der Untersuchung die zuständige Behörde vorsorglich die Schutzmassnahmen nach den Artikeln 12-15 anordnen. Im vorliegenden Fall geht es um die vorsorgliche Unterbringung gemäss Art. 5 i.V.m. Art. 15 Abs. 1 JStG.
Im Urteil 1B_32/2011 vom 15. Februar 2011 trat das Bundesgericht auf die Beschwerde nicht ein, soweit der Beschwerdeführer die Verletzung von Bestimmungen des Jugendstrafgesetzes geltend machte. Es erachtete die vorsorgliche Unterbringung als vorsorgliche Massnahme, weshalb der Beschwerdeführer gemäss Art. 98 BGG nur die Verletzung verfassungsmässiger Rechte rügen konnte (E. 1.2).
Darauf zurückzukommen besteht kein Anlass. Art. 5 JStG spricht von der vorsorglichen Anordnung einer Schutzmassnahme. Schon nach dem Gesetzeswortlaut geht es somit um eine vorsorgliche Massnahme. Der Begriff trifft auch in der Sache zu. Vorsorgliche Massnahmen stellen einstweilige Verfügungen dar; sie regeln eine Rechtsfrage vorläufig, bis darüber in einem späteren Hauptentscheid endgültig entschieden wird (Urteile 1B_232/2009 vom 25. Februar 2010 E. 1.3; 1C_283/2007 vom 20. Februar 2008 E. 2.3). So verhält es sich bei der vorsorglichen Anordnung einer jugendstrafrechtlichen Schutzmassnahme (vgl. Verfügung der Jugendanwaltschaft vom 16. Januar 2012 S. 6 E. 3).
Gestützt auf Art. 5 JStG können der Schutz und die Erziehung des Jugendlichen - welche gemäss Art. 2 Abs. 1 JStG für die Anwendung dieses Gesetzes wegleitend sind - bereits im Untersuchungsverfahren durch die erforderliche ambulante oder stationäre Schutzmassnahme gewährleistet werden (HANSUELI GÜRBER/CHRISTOPH HUG/PATRIZIA SCHLÄFLI, in: Strafrecht I, Basler Kommentar, 2. Aufl. 2007, N. 1 zu Art 5 JStG). Die Möglichkeit der vorsorglichen Anordnung von Schutzmassnahmen trägt dem Beschleunigungsgebot Rechnung. Zum Schutz des Kindeswohls kann ohne Verzug mit der erforderlichen Intervention reagiert werden. Gemäss Art. 14 der Empfehlungen Rec(2003)20 vom 24. September 2003 des Ministerkomitees des Europarats zur Jugendkriminalität - welche zu berücksichtigen sind (BGE 125 I 127 E. 7c S. 145 mit Hinweisen) - sollten kurze Fristen für jede Phase des Strafverfahrens festgesetzt werden, um Verzögerungen zu vermeiden und möglichst rasch auf Jugendkriminalität reagieren zu können (GÜRBER/ HUG/SCHLÄFLI, a.a.O., N. 4 f. zu Art. 5 JStG). Dies spricht ebenfalls gegen den Fristenstillstand im vorliegenden Fall.
Stellt die vorsorgliche Unterbringung des Beschwerdeführers demnach eine vorsorgliche Massnahme gemäss Art. 46 Abs. 2 BGG dar, gilt der Fristenstillstand nicht. Die Beschwerde ist daher verspätet.
1.2.3 Die Jugendanwaltschaft verweist (Vernehmlassung S. 2) auf Art. 89 Abs. 2 StPO. Danach gibt es im Strafverfahren keine Gerichtsferien. Diese Bestimmung ist im Verfahren vor Bundesgericht nicht anwendbar. Insoweit ist das Bundesgerichtsgesetz massgebend (Art. 1 Abs. 2 StPO; NIKLAUS SCHMID, Handbuch des Schweizerischen Strafprozessrechts, 2009, S. 21 N. 65, S. 239 f. N. 606 und S. 780 N. 1700; derselbe, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2009, N. 2 zu Art. 89 StPO; PETER STRAUB/THOMAS WELTERT, in: Schweizerische Strafprozessordnung, Basler Kommentar, 2011, N. 12 zu Art. 1 StPO; Christoph RIEDO, in: Schweizerische Strafprozessordnung, Basler Kommentar, 2011, N. 12 ff. zu Art. 89 StPO).
2.
Für den Beschwerdeführer war insbesondere mit Blick auf das von ihm (Beschwerde S. 7) selber erwähnte Urteil 1B_32/2011 vom 15. Februar 2011 (E. 1.2) vorhersehbar, dass das Bundesgericht die vorsorgliche Unterbringung als vorsorgliche Massnahme gemäss Art. 46 Abs. 2 BGG betrachten werde. Es besteht deshalb kein Anlass, auf die Beschwerde nach dem Grundsatz von Treu und Glauben einzutreten (vgl. dazu BGE 133 I 270 E. 1.2.3 S. 274 f.).
Hätte es sich anders verhalten, hätte dies dem Beschwerdeführer im Übrigen nicht geholfen. Die Vorinstanz hat sich einlässlich mit seiner Situation befasst. Ihre Erwägungen (angefochtener Entscheid S. 5 ff. E. 5) überzeugen. Was der Beschwerdeführer vorbringt, wäre ungeeignet gewesen, eine Verletzung seiner verfassungsmässigen Rechte darzutun.
3.
Auf die Beschwerde wird danach nicht eingetreten.
Mit dem vorliegenden Entscheid braucht über das Gesuch um aufschiebende Wirkung nicht mehr befunden zu werden.
Da die Beschwerde aussichtslos war, kann die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung nach Art. 64 BGG nicht bewilligt werden. Unter den gegebenen Umständen rechtfertigt es sich jedoch, auf die Erhebung von Kosten zu verzichten (Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Auf die Beschwerde wird nicht eingetreten.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird abgewiesen.
3.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Jugendanwaltschaft Altstätten und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. Mai 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Härri