BGer 9C_90/2012 |
BGer 9C_90/2012 vom 23.05.2012 |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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9C_90/2012
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Urteil vom 23. Mai 2012
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II. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
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Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
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Gerichtsschreiber R. Widmer.
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Verfahrensbeteiligte |
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
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Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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R.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Werner Bodenmann,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
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vom 8. November 2011.
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Sachverhalt:
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A.
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Beim 1985 geborenen R.________ trat rund drei Monate vor Abschluss der Lehre als Bäcker/Konditor (am 11. August 2005) eine Allergie gegen Roggenmehl auf. Am 11. Januar 2006 meldete er sich unter Hinweis auf dieses Leiden bei der Invalidenversicherung für eine Umschulung auf eine neue Tätigkeit an. Die von der IV-Stelle des Kantons St. Gallen veranlasste Untersuchung ergab gemäss Bericht des Dr. med. O.________, Spezialarzt u.a. für Allergologie und klinische Immunologie, vom 28. März 2007 die Diagnose einer Mehlstauballergie mit dem klinischen Krankheitsbild einer Rhinokonjunktivitis und eines Asthma bronchiale. Nachdem der Versicherte die Absicht geäussert hatte, im Sommer 2009 eine Lehre als Lebensmitteltechnologe zu beginnen, er aber noch keine Lehrstelle gefunden habe, wurde die Berufsberatung am 8. Mai 2008 abgeschlossen. Mit Schreiben vom 5. Februar 2009 ersuchte R.________ die Invalidenversicherung um Übernahme der Weiterbildung zum Technischen Kaufmann. In der neuen Anmeldung zum Leistungsbezug vom 17. März 2009 hielt er fest, seit August 2005 an verschiedenen Stellen erwerbstätig gewesen zu sein. Gemäss Bericht der Eingliederungsverantwortlichen der IV-Stelle vom 15. Juli 2009 konnte der Versicherte einen Ausbildungsplatz als Lastwagenführer mit Beginn der zweijährigen Ausbildung am 1. August 2009 finden. Am 27. Juli 2009 eröffnete die IV-Stelle R.________, sie übernehme die Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung zum Lastwagenführer ab 1. August 2009 bis 31. Juli 2011. Mit Verfügung vom 4. August 2009 sprach sie dem Versicherten sodann für den Zeitraum vom 1. August 2009 bis 31. Juli 2010 ein "kleines Taggeld" von Fr. 73.10 (Fr. 103.80 minus Fr. 30.70), ab 1. August 2010 bis 31. Juli 2011 ein solches von Fr. 65.90 (Fr. 103.80 minus Fr. 37.90), zu.
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B.
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R.________ liess Beschwerde führen mit dem Rechtsbegehren, unter Aufhebung der Verfügung vom 4. August 2009 sei ihm ein grosses Taggeld auszurichten. Mit Entscheid vom 8. November 2011 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde gut, hob die angefochtene Verfügung auf und sprach dem Versicherten im Sinne der Erwägungen ein "grosses Taggeld" zu, das die IV-Stelle noch zu ermitteln haben werde.
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C.
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Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Während R.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, soweit darauf einzutreten sei, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
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1.
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Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze über den Anspruch auf erstmalige berufliche Ausbildung (Art. 16 Abs. 1 und 2 lit. b IVG) und Umschulung (Art. 17 IVG) sowie die Abgrenzung zwischen diesen beiden Arten beruflicher Eingliederungsmassnahmen (BGE 118 V 7 E. 1c/cc S. 14) zutreffend dargelegt. Richtig sind auch die vorinstanzlichen Erwägungen zur Bemessung der Taggelder bei Umschulung (Art. 23 Abs. 1 und 24 Abs. 1 IVG; "grosses Taggeld") und bei erstmaliger beruflicher Ausbildung (Art. 23 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 IVG; Art. 23 Abs. 2bis IVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 und 2 IVV; "kleines Taggeld") sowie zu den Voraussetzungen einer Gleichstellung der erstmaligen beruflichen Ausbildung mit der Umschulung (Art. 6 Abs. 2 IVV). Darauf wird verwiesen.
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2.
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Während die Vorinstanz dem Beschwerdegegner ein "grosses Taggeld" nach Art. 23 Abs. 1 IVG zugesprochen hat, welches die IV-Stelle noch betragsmässig zu bestimmen habe, vertritt diese in der Beschwerde die Auffassung, bei der Ausbildung zum Lastwagenführer handle es sich um eine erstmalige berufliche Ausbildung mit der Folge, dass der Versicherte nur Anspruch auf ein "kleines Taggeld" habe.
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2.1 Die Vorinstanz geht davon aus, dass die Mehlstauballergie des Beschwerdegegners vor Beendigung der Ausbildung als Bäcker/ Konditor aufgetreten sei. Der Versicherungsfall für die Eingliederungsmassnahmen sei damit vor Lehrabschluss eingetreten. Die Allergie habe die künftige Ausübung des erlernten Berufs als ungeeignet und auf Dauer unzumutbar erscheinen lassen. Obwohl der Beschwerdegegner die Lehre dennoch abgeschlossen hat, handle es sich um einen Anwendungsfall von Art. 6 Abs. 2 IVV. Eine berufliche Ausbildung sei demnach dann einer Umschulung gleichgestellt, wenn das während der abgebrochenen Ausbildung zuletzt erzielte Erwerbseinkommen höher wäre als das Taggeld nach Art. 23 Abs. 2 IVG, d.h. höher als Fr. 103.80 im Tag. Der Versicherte habe im dritten Lehrjahr Fr. 1'050.- im Monat verdient, diese Grenze somit klar verfehlt. Insoweit pflichtet die IV-Stelle der Vorinstanz bei.
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2.2 Die Vorinstanz bejaht indessen den Anspruch auf ein "grosses Taggeld", weil der Beschwerdegegner ab April 2006 bis Einreichung des Eingliederungsgesuchs im Februar 2009 während knapp dreier Jahre eine volle Erwerbstätigkeit ausgeübt habe; diese sei nicht invaliditätsbedingt ungeeignet, jedoch insoweit unzumutbar gewesen, als der Versicherte Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen hatte, um als Ausgebildeter im Erwerbsleben stehen zu können. Unter diesen Umständen wäre es stossend, den Massstab für die Gleichstellung mit der Umschulung noch immer beim weit zurückliegenden Lehrlingslohn anzusetzen. Vielmehr sei es gerechtfertigt, ein nach "Abbruch" der Lehre während langer Zeit erzieltes, Fr. 103.80 im Tag übersteigendes Erwerbseinkommen einem diese Grenze überschreitenden Lehrlingslohn gleichzustellen. Denn wer nach Abbruch der Lehre mehrere Jahre erwerbstätig war, habe denselben Taggeld-Leistungsbedarf wie derjenige, der einen die Grenze übersteigenden Ausbildungslohn erreicht hat. Den seinerzeitigen Lehrlingslohn zum Vergleich heranzuziehen, lasse sich sachlich nicht begründen.
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2.3 Diesen Erwägungen hält die IV-Stelle unter Hinweis auf die Urteile des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 252/02 vom 10. Oktober 2002 und I 490/99 vom 9. März 2000 entgegen, der Beschwerdegegner habe die Eingliederung - zunächst mit dem Berufswunsch Lebensmitteltechnologe, in der Folge als Technischer Kaufmann und schliesslich mit der realisierten Ausbildung als Lastwagenführer - nicht allein mangels Auffindens einer geeigneten Lehrstelle, sondern auch infolge seiner Unschlüssigkeit, eine Ausbildung zu wählen, verschoben. Wenn der Versicherte es trotz gewünschter Weiterbildung vorgezogen habe, zunächst eine Erwerbstätigkeit auszuüben und die Weiterbildung später in Angriff zu nehmen, deren Aufschub somit nicht der Invalidenversicherung angelastet werden könne, fehle es an einer Rechtfertigung dafür, das nach Eintritt der Invalidität erzielte Einkommen als Grundlage für die Taggeldberechnung heranzuziehen.
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3.
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3.1 Es steht fest, dass der Beschwerdegegner bereits während der Ausbildung zum Bäcker/Konditor an Roggenmehlallergie gelitten hat, die Lehre in der Folge jedoch abschliessen konnte. Die Voraussetzungen, unter denen in solchen Fällen nach Art. 6 Abs. 2 IVV eine neue berufliche Ausbildung einer Umschulung gleichgestellt werden kann, sind grundsätzlich nicht erfüllt, wie die Vorinstanz in E. 3.4 und 4.1 des angefochtenen Entscheids selbst festgestellt hat. Unerheblich ist, dass der Versicherte die abgebrochene Lehre nach Eintritt des Versicherungsfalles noch abschliessen konnte (BGE 121 V 186; Urteil des Eidgenössischen Versicherungsgerichts I 490/99 vom 9. März 2000). Die Einwendungen der IV-Stelle gegen die vorinstanzliche Auffassung, wonach die erstmalige berufliche Ausbildung des Beschwerdegegners zum Lastwagenführer einer Umschulung gleichgestellt werden müsse, sind stichhaltig. Der Versicherte hat von sich aus, sei es mangels geeigneter Lehrstelle oder aus finanziellen Gründen, die zunächst in Betracht gezogene neue Ausbildung zum Lebensmitteltechnologen oder Technischen Kaufmann zu Gunsten einer sofortigen Erwerbstätigkeit zurückgestellt. Wenn er drei Jahre später eine Berufsausbildung zum Lastwagenführer angetreten hat, hat er nur die bereits anlässlich der invaliditätsbedingten Aufgabe der Bäcker-/Konditorlehre angezeigt gewesene berufliche Ausbildung in Angriff genommen. Nachdem die massgebende Invalidität schon vor Abschluss der erstmaligen beruflichen Ausbildung eingetreten ist und der Versicherte nach deren invaliditätsbedingtem Abbruch eine zwar nicht gesundheitlich, aber mit Bezug auf das keine Berufsausbildung voraussetzende Niveau ungeeignete und auf Dauer unzumutbare Erwerbstätigkeit aufgenommen hat, ist die Ausbildung zum Lastwagenführer als berufliche Neuausbildung nach Art. 16 Abs. 1 lit. b IVG zu qualifizieren (vgl. zitiertes Urteil I 490/99 vom 9. März 2000). Dem Versicherten steht daher lediglich das "kleine Taggeld" zu (Art. 23 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 IVG; Art. 23 Abs. 2bis IVG in Verbindung mit Art. 22 Abs. 1 und 2 IVV), wie die IV-Stelle zu Recht geltend macht.
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3.2 Zu verdeutlichen bleibt, dass Art. 6 Abs. 2 IVV entgegen der Ansicht des kantonalen Gerichts nicht anwendbar ist. Es besteht keine Möglichkeit, den vorliegenden Fall einer Umschulung gleichzustellen, auch wenn mit Blick auf die während knapp dreier Jahre ausgeübte Arbeit entsprechend den Erwägungen der Vorinstanz ein vergleichbarer Taggeldleistungsbedarf bestehen mag wie bei einer Umschulung. Rechtlich entscheidend bleibt allein, dass für die neue Ausbildung zum Lastwagenführer der gleiche, während der Lehre als Bäcker/Konditor eingetretene Versicherungsfall massgebend ist, weshalb es sich um eine berufliche Neuausbildung im Sinne von Art. 16 Abs. 2 lit. b IVG handelt. Wie das Eidgenössische Versicherungsgericht im Urteil I 252/02 vom 10. Oktober 2002 dargelegt hat, lassen sich für die sich aus Art. 6 Abs. 2 IVV ergebende Unterscheidung zwischen einem hohen Einkommen während der invaliditätsbedingt abgebrochenen Ausbildung - also vor dem Eintritt der Invalidität - einerseits und einem den Grenzbetrag übersteigenden "normalen" Lohn aus einer nach Eintritt der anspruchsspezifischen Invalidität ausgeübten Tätigkeit andererseits sachliche Gründe anführen. Insbesondere hätte es die versicherte Person sonst in der Hand, die Eingliederung zu Gunsten einer besser bezahlten, ungeeigneten Arbeit aufzuschieben und auf diese Weise durch ihr eigenes Verhalten nach Eintritt des Versicherungsfalls die Höhe des Taggeldes zu bestimmen. Daran ist festzuhalten.
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4.
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Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 8. November 2011 aufgehoben.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
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3.
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Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 23. Mai 2012
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Meyer
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Der Gerichtsschreiber: Widmer
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