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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
9C_437/2012
Urteil vom 6. November 2012
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Schmutz.
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
M.________, vertreten durch Procap für Menschen mit Handicap,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. April 2012.
Sachverhalt:
A.
M.________, geboren 1966, seit 1996 Maschinenführer in der Firma W.________ AG meldete sich am 14. September 2007 bei der IV-Stelle des Kantons St. Gallen zum Bezug von Leistungen der Invalidenversicherung an. Im Rahmen der medizinischen Abklärung beauftragte diese die MEDAS mit einer polydisziplinären medizinischen Begutachtung (vom 18. März 2009). Sie umfasste auch ein Teilgutachten des Dr. med. S.________, Psychiatrie und Psychotherapie (vom 25. Februar 2009). Die Experten diagnostizierten ("mit Einschränkung der zumutbaren Arbeitsfähigkeit") eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F31.31), eine emotional instabile Persönlichkeit mit ängstlich-abhängigen Persönlichkeitszügen (ICD-10 Z73.1) sowie ein diffuses chronisches Schmerzsyndrom mit vielen vegetativen Begleitbeschwerden. Die von der Verwaltung gestellte Frage nach dem Vorliegen einer psychischen Komorbidität von erheblicher Schwere und Dauer beantwortete Dr. med. S.________ mit der Feststellung, es liege keine somatoforme Schmerzstörung vor. Mit Vorbescheid vom 22. Mai 2009 und Verfügung vom 13. Januar 2010 sprach die IV-Stelle M.________ ab 1. Mai 2008 eine Viertelsrente zu.
B.
M.________ erhob Beschwerde beim Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen. Er beantragte die Zusprechung mindestens einer halben Invalidenrente. In der Beschwerdeantwort ersuchte die IV-Stelle um Abweisung der Beschwerde und die Feststellung, dass kein Rentenanspruch bestehe. Das Versicherungsgericht hiess die Beschwerde mit Entscheid vom 25. April 2012 gut. Es sprach M.________ ab 1. Mai 2008 eine halbe Invalidenrente zu.
C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides soweit, als der Anspruch auf eine halbe Rente ab 1. Mai 2008 bejaht werde; es sei festzustellen, dass kein Rentenanspruch bestehe.
M.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde und beantragt unentgeltliche Rechtspflege. Vorinstanz und Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
1.1 Das Bundesgericht prüft die Zulässigkeit der Beschwerde von Amtes wegen und mit freier Kognition (Art. 29 Abs. 1 BGG; vgl. BGE 135 II 94 E. 1 S. 96; Urteil 9C_959/2009 vom 19. Februar 2010 E. 2.1).
1.2 Der angefochtene Entscheid spricht dem Beschwerdegegner eine halbe Rente der Invalidenversicherung ab 1. Mai 2008 zu. Die Beschwerde führende IV-Stelle beantragt, es sei festzustellen, dass kein Rentenanspruch bestehe. Im selben Sinne hatte sie sich schon in der vorinstanzlichen Vernehmlassung geäussert, nachdem sie mit der angefochtenen Verfügung den Anspruch auf eine Viertelsrente ab 1. Mai 2008 bejaht hatte.
Nach BGE 138 V 339 ist die IV-Stelle durch den vorinstanzlichen Entscheid beschwert, wenn sie mit ihren Anträgen nicht oder nur teilweise durchgedrungen ist (E. 2.3.1 S. 341 f. mit Hinweisen). Der Umstand, dass sie mit der vorinstanzlich angefochtenen Verfügung einen Rentenanspruch nicht verneint, sondern eine Viertelsrente zugesprochen hatte, steht der Legitimation zur letztinstanzlichen Beschwerde mit dem Antrag, es sei abweichend von der Verfügung keine Invalidenrente zuzusprechen, nicht entgegen (E. 2.3.2 S. 342 f. mit Hinweisen). Nach dem Gesagten ist die Beschwerde zulässig und darauf einzutreten.
2.
Die kantonale Instanz hat gestützt auf das polydisziplinäre MEDAS-Gutachten vom 18. März 2009 erwogen, es sei eine mittelgradige depressive Episode (ICD-10 F31.31), eine emotional instabile Persönlichkeit mit ängstlich-abhängigen Persönlichkeitszügen (ICD-10 Z73.1) und ein diffuses chronisches Schmerzsyndrom mit vielen vegetativen Begleitbeschwerden diagnostiziert. Klinisch und bildgebend seien aktuell und früher nie gravierende Befunde erhoben worden, die ein übliches Altersausmass an degenerativen Veränderungen wesentlich überschreiten würden. Für das Krankheitsbild und die Arbeitsfähigkeit sei die psychische Komponente prägend und massgebend. Die depressive Symptomatik sei durch familiäre und finanzielle Belastungsfaktoren ausgelöst und aufrechterhalten worden. Aus den Angaben der medizinischen Experten der MEDAS und des RAD gehe hervor, dass sich die depressive Störung verselbstständigt und verfestigt habe. Es könne nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit behauptet werden, dass bei Wegfall der mitwirkenden psychosozialen und soziokulturellen Faktoren die festgestellte Störung verschwinden würde. Die Arbeitsprognose falle negativ aus. Dem Versicherten sei gemäss der überzeugenden Bewertung für jede Tätigkeit nur eine Arbeitsleistung mit einer Einschränkung der Arbeitsfähigkeit von 50 % zuzumuten.
3.
3.1 Die Beschwerdeführerin bringt vor, der Gutachter Dr. med. S.________ habe das Vorliegen einer somatoformen Schmerzstörung (und stillschweigend auch einer anderen Diagnose aus dem Formenkreis der somatoformen Störungen) ohne nähere Begründung verneint; in der gleichen Weise habe er eine invalidisierende psychische Gesundheitsschädigung bejaht. Sie rügt, die Vorinstanz habe Bundesrecht verletzt, indem sie diese Einschätzung ohne Tatsachenfeststellungen zum invalidisierenden Charakter des gesamten Beschwerdebildes übernommen habe.
3.2 Zunächst kann offen bleiben, ob das Vorliegen einer Diagnose aus dem Formenkreis der somatoformen Störungen zu Recht verneint worden ist, obwohl ein diffus ausgebreitetes chronisches Schmerzsyndrom mit vielen vegetativen Begleitbeschwerden vorlag und die Schmerzsymptomatik nicht mit klinisch und bildgebend festgestellten organischen Befunden korrelierte. Das Stellen medizinischer Diagnosen ist genuine Aufgabe des Sachverständigen und fällt nicht in den Bereich der richterlichen Kompetenzen (Urteil 6A.31/2003 vom 4. August 2003 E. 5.3).
3.3 Leichte bis höchstens mittelschwere psychische Störungen depressiver Natur sind im Prinzip therapeutisch angehbar (Urteil 9C_736/2011 vom 7. Februar 2012 E. 4.2.2.1 mit Hinweisen). Des Weitern stellen Z-codierte Diagnosen (wie hier ICD-10 Z73.1) keine rechtserhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung dar (vgl. Urteil 9C_537/2011 vom 28. Juni 2012 E. 3.3 mit Hinweisen).
Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang, dass dem Versicherten zumutbare Behandlungsmöglichkeiten gegeben waren, die er nicht ausreichend genutzt und umgesetzt hat, wie Dr. med. S.________ aus psychiatrischer Sicht ausdrücklich einräumte. Trotz fachärztlich eindeutig festgestellter Indikation hat der Beschwerdegegner es unterlassen, sich vor allem einer nachhaltigen Psychopharmakotherapie zu unterziehen. Die verordneten Medikamente hat er nur unregelmässig bis selten eingenommen. In ambulanten Verhältnissen machte er nicht richtig mit, obwohl man hier laut Gutachter bei der Behandlung sehr stark auf die medikamentöse Therapie angewiesen wäre. Die Aussage bestehender Behandlungsmöglichkeiten wird durch den Bericht der Klinik X.________ (vom 9. November 2007) über den stationären Aufenthalt vom 28. Juni bis 12. Oktober 2007 gestützt. Demnach ist im Verlauf des Klinikaufenthaltes die depressive Symptomatik bald in den Hintergrund getreten und hat sich zusehends verbessert, sodass der Beschwerdegegner in einem psychisch gut kompensierten Zustand entlassen werden konnte. Es wurde sogar ein schnellstmöglicher Wiedereinstieg an einem Arbeitsplatz mit wechselbelastender und körperlich mittelschwerer Tätigkeit als sinnvoll bezeichnet. Die Einschätzung des RAD-Arztes T.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, (vom 28. April 2009), dass medizinische Massnahmen, wie sie Dr. med. S.________ vorschlage (intensive Psycho- und Psychopharmakotherapie, vorzugsweise in einer psychiatrischen Klinik), nicht zu einer gravierenden Verbesserung der depressiven Störung führen würden, vermag daher nicht zu überzeugen.
3.4 Was sich beim Beschwerdegegner in Form von Depressionen, Lust- und Freudlosigkeit, Erschöpfungszuständen und pessimistischen Gedanken ausgedrückt hat, ist nach den verbindlichen Feststellungen der Vorinstanz (Art. 97 und 105 BGG) auf langjährig durchgemachte Probleme im Zusammenhang mit Eheleben, Trennung, Schulden, Alkohol, Spielsucht und Angst vor drohendem Arbeitsplatzverlust zurückzuführen und wird durch die verschiedenen familiären und finanziellen Belastungsfaktoren aufrechterhalten. Dabei handelt es sich um ausgeprägte psychosoziale Faktoren, die nach BGE 127 V 294 S. 299 nicht im Rahmen von Art. 4 Abs. 1 IVG als zu Erwerbsunfähigkeit führende Gesundheitsbeeinträchtigungen versichert sind. Wird das Beschwerdebild, wie hier, augenfällig durch solche psychosoziale Umstände bestimmt und unterhalten, kann nicht von einem invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden gesprochen werden.
4.
Da sich die Zusprechung einer Rente nicht rechtfertigte, ist der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben. Der Beschwerdegegner wird so schlechter gestellt, als er es aufgrund der Verfügung vom 13. Januar 2010 (Viertelsrente) war. Die Sache ist darum zur Durchführung des Verfahrens nach Art. 61 lit. d ATSG an das Gericht zurückzuweisen, damit es dem Versicherten die Gelegenheit zum Rückzug der Beschwerde einräumt (vgl. BGE 138 V 339 E. 6 S. 343 f.). Sollte der Beschwerdegegner die vorinstanzliche Beschwerde zurückziehen, ist die IV-Stelle daran zu erinnern, dass eine Aufhebung der formell rechtskräftigen Verfügung vom 13. Januar 2010, vorbehältlich der Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, nur nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Betracht fiele (zu den - vorliegend fraglichen - Voraussetzungen vgl. statt vieler BGE 131 V 414 E. 2 S. 417 mit Hinweis; SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213, 9C_994/2010 E. 3.2.1).
5.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten grundsätzlich dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach er der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn er später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 25. April 2012 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne von E. 4 verfahre.
2.
Das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird dem Beschwerdegegner Rechtsanwältin Zuber Hofer als Rechtsbeistand beigegeben. Es wird ihr aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.- ausgerichtet.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat die Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen und über das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege zu befinden.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 6. November 2012
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Meyer
Der Gerichtsschreiber: Schmutz