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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
1B_663/2012
Urteil vom 22. November 2012
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Merkli, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Dold.
Verfahrensbeteiligte
X.________, zzt. Zentralgefängnis,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ernst Kistler,
gegen
Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau.
Gegenstand
Sicherheitshaft,
Beschwerde gegen den Entscheid vom 2. Oktober 2012 des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen.
Sachverhalt:
A.
Das Bezirksgericht Lenzburg verurteilte X.________ am 23. August 2012 wegen mehrfacher Vergewaltigung, mehrfacher sexueller Nötigung, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher versuchter schwerer Körperverletzung und weiterer Delikte zu einer Freiheitsstrafe von viereinhalb Jahren und einer Busse von Fr. 1'000.--. Dabei rechnete es die ausgestandene Untersuchungshaft vom 18. bis 26. März 2010 auf die Freiheitsstrafe an. Es beschloss zudem, dass der Beschuldige in Sicherheitshaft zu versetzen sei.
Mit Eingabe vom 27. August 2012 stellte X.________ ein Gesuch um Haftentlassung. Das Bezirksgericht Lenzburg wies das Gesuch mit Beschluss vom 3. September 2012 ab und befristete die Sicherheitshaft bis zum 23. Februar 2013. Eine dagegen von X.________ erhobene Beschwerde wies die Beschwerdekammer in Strafsachen des Obergerichts des Kantons Aargau mit Entscheid vom 2. Oktober 2012 ab.
B.
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 5. November 2012 beantragt X.________, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und er selbst sei sofort aus der Sicherheitshaft zu entlassen.
Die Staatsanwaltschaft und das Obergericht haben auf eine Stellungnahme verzichtet.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid betrifft die Entlassung aus der Sicherheitshaft. Dagegen steht die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG offen. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
2.
Gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO sind Untersuchungs- und Sicherheitshaft nur zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie sich durch Flucht dem Strafverfahren oder der zu erwartenden Sanktion entzieht (lit. a), Personen beeinflusst oder auf Beweismittel einwirkt, um so die Wahrheitsfindung zu beeinträchtigen (lit. b), oder durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits früher gleichartige Straftaten verübt hat (lit. c). Untersuchungs- und Sicherheitshaft dürfen nicht länger dauern als die zu erwartende Freiheitsstrafe (Art. 212 Abs. 3 StPO). Sie sind aufzuheben, sobald ihre Voraussetzungen nicht mehr erfüllt sind (Art. 212 Abs. 2 lit. a StPO). An Stelle ihrer sind Ersatzmassnahmen anzuordnen, wenn sie den gleichen Zweck wie die Haft erfüllen (Art. 212 Abs. 2 lit. c und Art. 237 ff. StPO).
3.
3.1 Der Beschwerdeführer bestreitet das Vorliegen eines dringenden Tatverdachts. Die erstinstanzliche Verurteilung reiche nicht, umso weniger, als die Darstellung des "Opfers" nicht kohärent sei. Das Bezirksgericht habe behauptet, das "Opfer" habe wegen der Vergewaltigungen während ca. sechs Wochen ein "Martyrium" erlebt. Das "Opfer" sei aber normal arbeiten gegangen und keiner Arbeitskollegin, keinem Kunden sei irgend etwas aufgefallen. Man könne ein "Martyrium" aber nicht wochenlang verstecken. Beinahe zwei Monate habe das "Opfer" zudem mit dem Beschwerdeführer unter einem Dach gelebt und weder das Frauenhaus noch eine Opferhilfestelle oder die Dargebotene Hand aufgesucht. Nicht einmal den Psychiatern und Ärzten habe das "Opfer" etwas erzählt. Trotz des "Martyriums" habe es zudem an der Ehe festhalten und die Scheidung in der Türkei für ungültig erklären lassen wollen. Auch habe es seinen Namen nicht geändert. Die Strafanzeige sei erst acht Monate post festum erfolgt und das "Martyrium" sei erst an achter Stelle erwähnt worden. Auch die Zeugenaussage des ältesten Sohns sei gegen das "Opfer" ausgefallen.
3.2 Der dringende Tatverdacht ist durch das erstinstanzliche Urteil erstellt. Was der Beschwerdeführer vorbringt, vermag ihn nicht zu zerstreuen. Das Bezirksgericht Lenzburg hat die Aussagen verschiedener Zeugen ausführlich analysiert und gewürdigt. Wenn eine einzelne Aussage die Darstellung der Geschädigten nicht stützte, lässt dies den dringenden Tatverdacht nicht entfallen. Dasselbe gilt für das Vorbringen, die Geschädigte sei weiter normal arbeiten gegangen, es sei niemandem etwas aufgefallen und sie habe bis zur Anzeige auch niemandem etwas erzählt. Lediglich der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die Geschädigte gemäss den im erstinstanzlichen Urteil wiedergegebenen Aussagen einer Freundin ab April 2009 wiederholt für einzelne Tage bei der Arbeit fehlte und zudem ab Mai 2009 psychiatrische und psychologische Betreuung in Anspruch nahm. Der betreffende Psychiater erwähnte die fotografisch dokumentierten Verletzungen, von denen er sagte, sie könnten unmöglich von einem Treppensturz herrühren. Die behandelnde Psychologin sagte aus, die Geschädigte habe ihr erst an der dritten Sitzung erzählt, sie werde vom Beschuldigten geschlagen. Dies sei typisch für gewaltbetroffene Frauen, da diese Angst hätten, sie würden die Situation noch verschlimmern. Auch der Umstand, dass die Geschädigte an der Ehe festhalten wollte, während beinahe zwei Monaten mit dem Beschuldigten unter einem Dach weiterwohnte, nach der Scheidung dessen Namen behielt und erst Monate nach den behaupteten Misshandlungen Strafanzeige einreichte, schliessen den dringenden Tatverdacht nicht aus.
4.
4.1 Der Beschwerdeführer wendet sich auch gegen die Annahme von Fluchtgefahr. Die Vorinstanz übersehe, dass der Wegzug ins Ausland im Sommer 2009 nötig war, weil die Familie wegen der Untreue des "Opfers" zerrüttet gewesen sei. Nun aber stehe die Zukunft der Söhne im Vordergrund. Diese würde zwar lieber in der Türkei bleiben und der jüngere Sohn weigere sich, deutsch zu sprechen, doch sei die Ausbildung in der Schweiz nachhaltiger. Er plane deshalb seit langem die Rückkehr in die Schweiz. Zudem sei er auf die Schweiz angewiesen. Die Ärzte in der Türkei verfügten nicht über ähnlich wirksame Methoden zur Behandlung seines Weichteilrheumas, und die IV-Rente sei für ihn existenzsichernd. Schliesslich wolle er ein guter Vater sein und nicht bei jeder Polizeikontrolle und bei jedem Grenzübertritt im Schengenraum befürchten müssen, verhaftet zu werden. Angesichts des Umstands, dass er keine Vergewaltigung begangen habe, sei er daran interessiert, sich allzeit den Gerichten zu stellen, um das Verfahren zu seinen Gunsten abzuschliessen.
4.2 Das Obergericht legt dar, der Beschwerdeführer sei zwar im Verlaufe des Strafverfahrens aus der Untersuchungshaft entlassen worden und trotzdem zur Schlusseinvernahme und zur Hauptverhandlung am 23. August 2012 wieder in die Schweiz gereist, doch sei dies nicht entscheidend. Denn bis zur Hauptverhandlung am 23. August 2012 habe er noch mit einem Freispruch rechnen können. Die erstinstanzliche Verurteilung zu viereinhalb Jahren Freiheitsentzug begründe die erhebliche Gefahr, dass der Beschwerdeführer versuchen könnte, sich dem Zugriff der schweizerischen Strafbehörden zu entziehen. Er sei 43 Jahre alt, verheiratet, Vater von drei minderjährigen Kindern, stamme aus der Türkei und spreche seine Muttersprache fliessend. Bis zu seinem 26. Lebensjahr habe er in der Türkei gelebt. Im Jahr 1989 sei er erstmals in die Schweiz gekommen und habe ein Asylgesuch gestellt. Zwei bis drei Jahre später sei er in die Türkei zurückgekehrt, um dort Militärdienst zu leisten. Schliesslich habe er 1995 in der Türkei seine erste Frau, die Privatklägerin im vorliegenden Strafverfahren, geheiratet. Seit 2001 sei er wegen Krankheit IV-Rentner. Am 11. Juli 2009 habe er die Schweiz erneut verlassen und lebe seither in der Türkei, wo auch seine drei minderjährigen Kinder sowie seine Eltern und sein Bruder lebten. Auch wenn er neben der türkischen auch die schweizerische Staatsangehörigkeit besitze und sich schon mehrere Male für eine längere Zeit in der Schweiz aufgehalten habe, bestehe in sozialer Hinsicht kein gefestigter Bezug zur Schweiz. Anlässlich der Einvernahme vom 6. Juli 2011 habe der Beschwerdeführer ausgesagt, dass sowohl er wie auch seine damalige Ehefrau in die Türkei umziehen wollten. Im Haftentlassungsverfahren vor dem Bezirksgericht Lenzburg habe er seine Aussage relativiert: Seine Ehefrau habe die Initiative ergriffen, die Schweiz zu verlassen. Er sei lediglich mitgegangen, weil er nicht wollte, dass die Familie sich trenne. Trotzdem habe der Beschwerdeführer selber eine Wohnung in der Türkei gesucht und obwohl er festgehalten habe, dass er in der Schweiz habe bleiben wollen, sei er seit dem Umzug in die Türkei im Jahr 2009 nicht in die Schweiz zurückgekehrt, um hier Wohnsitz zu nehmen. Vielmehr habe er sich in der Türkei niedergelassen, eine neue Familie gegründet und somit auch ein neues Leben angefangen. Dass seine zwei Söhne aus erster Ehe sich gegen eine Rückkehr in die Schweiz "mit Händen und Füssen wehren", führe er in seiner Beschwerde selber aus. Mittlerweile besuchten die zwei Söhne die Schule in der Türkei. Der Umstand, dass er in der Schweiz eine IV-Rente beziehe und sich hier ärztlich behandeln lasse, vermöge die Annahme von Fluchtgefahr nicht zu widerlegen.
4.3 Beim Haftgrund der Fluchtgefahr gemäss Art. 221 Abs. 1 lit. a StPO geht es um die Sicherung der Anwesenheit der beschuldigten Person im Verfahren. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts braucht es für die Annahme von Fluchtgefahr eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass sich die beschuldigte Person, wenn sie in Freiheit wäre, dem Vollzug der Strafe durch Flucht entziehen würde. Im Vordergrund steht dabei eine mögliche Flucht ins Ausland, denkbar ist jedoch auch ein Untertauchen im Inland. Bei der Bewertung, ob Fluchtgefahr besteht, sind die gesamten konkreten Verhältnisse zu berücksichtigen. Es müssen Gründe bestehen, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Schwere der drohenden Strafe darf als Indiz für Fluchtgefahr gewertet werden, genügt jedoch für sich allein nicht, um den Haftgrund zu bejahen (BGE 125 I 60 E. 3a S. 62 mit Hinweisen). Miteinzubeziehen sind die familiären und sozialen Bindungen, die berufliche und finanzielle Situation und die Kontakte zum Ausland (Urteil 1B_424/2011 vom 14. September 2011 E. 4.1 mit Hinweis). Selbst bei einer befürchteten Reise in ein Land, welches die beschuldigte Person grundsätzlich an die Schweiz ausliefern bzw. stellvertretend verfolgen könnte, ist die Annahme von Fluchtgefahr nicht ausgeschlossen (Urteil 1B_422/2011 vom 6. September 2011 E. 4.2).
4.4 Der Beschwerdeführer hat während des bisherigen Strafverfahrens nicht versucht, sich der Strafverfolgung zu entziehen. Wie die Vorinstanz zu Recht festhält, hat sich die Situation für ihn indessen mit der erstinstanzlichen Verurteilung grundlegend geändert. Obwohl er angibt, kein Interesse an einer Flucht zu haben, weil er ja keine Vergewaltigung begangen habe, muss er seither mit einer mehrjährigen Freiheitsstrafe rechnen. Auch bei der persönlichen Situation des Beschwerdeführers gibt es Elemente, die für Fluchtgefahr sprechen. Er besitzt die türkische Staatsangehörigkeit und lebt in der Türkei, wo er bisher den grössten Teil seines Lebens verbracht hat. Gemäss seinen Aussagen anlässlich der Einvernahme vom 6. Juli 2011 wohnt er zusammen mit seiner neuen Frau und seinen Kindern in einem Gebäude, das seinem Vater gehört. Laut dem angefochtenen Entscheid lebt neben seinen Eltern auch sein Bruder in der Türkei. Obwohl der Beschwerdeführer angibt, in der Schweiz die bessere Zukunft für sich und seine Familie zu sehen, ist er seit seinem Wegzug im Sommer 2009 in der Türkei geblieben. Es trifft schliesslich zwar zu, dass sich seine finanzielle Situation im Falle einer Flucht verschlechtern würde, er auf die medizinische Versorgung in der Schweiz verzichten müsste und zudem seine Familie in eine schwierige Lage bringen könnte. Angesichts der guten Verankerung seiner Familie in der Türkei und der Präsenz seiner Eltern besteht jedoch ein erhebliches Risiko, dass er diese Folgen in Kauf nehmen könnte, um der drohenden, mehrjährigen Freiheitsstrafe zu entgehen. Insgesamt besteht damit Fluchtgefahr, die auch mit Ersatzmassnahmen nicht zu bannen ist.
5.
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Verfahrensausgang trägt der Beschwerdeführer die Gerichtskosten (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
4.
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Lenzburg-Aarau und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 22. November 2012
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Merkli
Der Gerichtsschreiber: Dold