Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
{T 0/2}
6B_533/2012
Urteil vom 25. Januar 2013
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Schneider, Oberholzer,
Gerichtsschreiber Keller.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Jan Herrmann,
Beschwerdeführerin,
gegen
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, Postfach, 4001 Basel,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Fahrlässige schwere Körperverletzung, mehrfache einfache Verletzung der Verkehrsregeln; Willkür, Grundsatz in dubio pro reo,
Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, vom 29. Mai 2012.
Sachverhalt:
A.
Am 11. Dezember 2008 fuhr X.________ kurz nach 14.30 Uhr in Basel bei stockendem Kolonnenverkehr durch die Klingentalstrasse in Richtung der Kreuzung Claragraben/Klingentalstrasse. Vor der Kreuzung hielt sie verkehrsbedingt an. Sie beabsichtigte, geradeaus weiterzufahren. Gleichzeitig näherte sich A.________ auf dem Claragraben von rechts kommend und fuhr unmittelbar vor der Kreuzung über einen Fussgängerstreifen, den zwei Passantinnen bereits betreten hatten. Auf der Kreuzung kollidierten die beiden Personenwagen.
B.
Das Strafgericht Basel-Stadt sprach X.________ am 16. Dezember 2010 vom Vorwurf der fahrlässigen schweren Körperverletzung und der mehrfachen groben Verletzung der Verkehrsregeln frei. A.________ verurteilte es wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und mehrfacher grober Verletzung der Verkehrsregeln zu einer bedingten Geldstrafe von 47 Tagessätzen zu Fr. 30.-- und zu Fr. 300.-- Busse.
Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt appellierte gegen den Freispruch von X.________. Das Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt sprach sie am 29. Mai 2012 wegen fahrlässiger schwerer Körperverletzung und mehrfacher einfacher Verletzung der Verkehrsregeln schuldig. Von einer Bestrafung nahm das Gericht gestützt auf Art. 54 StGB Umgang.
C.
X.________ erhebt Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, und sie sei vollumfänglich freizusprechen. Eventualiter sei die Sache zur neuen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Hinsichtlich Schadenersatz und Genugtuung sei der Entscheid der Vorinstanz zu bestätigen, wobei die Haftungsquote von 100 % ausdrücklich im Urteilsdispositiv festzulegen sei.
Erwägungen:
1.
1.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz habe willkürlich angenommen, A.________ sei schneller als 50 km/h gefahren, obwohl diese selber und eine der Füssgängerinnen von einer Geschwindigkeit von 40-50 km/h ausgegangen seien. Sie verletze damit zusätzlich den Grundsatz "in dubio pro reo". Die Passantinnen hätten den Fussgängerstreifen wohl kaum betreten, hätten sie die Geschwindigkeit des herannahenden Fahrzeugs für nicht angemessen gehalten. Es sei offensichtlich unrichtig, aus einer singulären Geschwindigkeitsschätzung den Schluss auf eine "erkennbar ungewöhnliche Schnelligkeit" des herannahenden Fahrzeugs zu ziehen (Beschwerde, S. 5 ff. und S. 11 f.).
Sie (die Beschwerdeführerin) habe die Verkehrssituation wie die Fussgängerinnen eingeschätzt. Als sie losgefahren sei, habe sie das Fahrzeug von A.________ noch ca. 20-30 Meter vom Fussgängerstreifen entfernt gesehen. Alle Beteiligten hätten A.________ gesehen, deren Distanz und Geschwindigkeit abgeschätzt und seien zum Schluss gekommen, loslaufen bzw. -fahren zu können. Ein herannahendes Fahrzeug stelle nicht an sich eine Gefahr dar, sondern könne erst ab einer gewissen Nähe zu einer solchen werden. Sie habe keine Möglichkeit gehabt, die Kollision zu vermeiden, da sie im Zeitpunkt des Zusammenstosses bereits stillgestanden oder zumindest sehr langsam gefahren sei. Sie habe sich nicht weiter Richtung Strassenmitte bewegt als es die Fussgängerinnen getan hätten (Beschwerde, S. 7 ff.).
Die Vorinstanz verletze den Grundsatz "in dubio pro reo" insofern, als sie nicht von einer Distanz von 30 m zwischen dem Fahrzeug von A.________ und dem Fussgängerstreifen ausgegangen sei (Beschwerde, S. 12). Sie verstosse ferner gegen Bundesrecht, indem sie ihr zu Unrecht verwehrt habe, sich auf das Vertrauensprinzip im Sinne von Art. 26 Abs. 1 SVG zu berufen (Beschwerde, S. 15 f.).
1.2 Die Vorinstanz erwägt, die Beschwerdeführerin sei gegenüber A.________ vortrittsbelastet gewesen. Sie sei zwar davon ausgegangen, dass diese vor dem Fussgängerstreifen hätte anhalten sollen. Allerdings hätte sie nicht darauf vertrauen dürfen, da konkrete Anzeichen für ein Fehlverhalten vorgelegen hätten. Sie könne sich daher nicht auf den Vertrauensgrundsatz im Strassenverkehr berufen. Die Beschwerdeführerin hätte abwarten und prüfen müssen, ob A.________ den Fussgängerinnen tatsächlich den Vortritt gewähren würde. An ihrer Pflichtwidrigkeit ändere nichts, dass diese ebenfalls mit einem Halt von A.________ gerechnet hätten. Da der Claragraben aufgrund einer Baustelle verengt war, habe ein besonderer Grund zu vorsichtiger Fahrweise bestanden. Aus dem Schadenbild der Fahrzeugkollision ergebe sich, dass sie eine Kollision hätte vermeiden können, wenn sie vorsichtig angefahren wäre und rechtzeitig abgebremst hätte. Indem sie ihre Fahrt fortgesetzt habe, ohne A.________ den Rechtsvortritt zu gewähren, habe sie sich nicht verkehrsregelkonform verhalten. Sie habe eine Gefahr für andere hervorgerufen, ihr Fahrzeug nicht genügend beherrscht und sei ihren Sorgfaltspflichten nicht nachgekommen. Da keine Schuldkompensation bestehe, könne sie aus dem Fehlverhalten von A.________ nichts zu ihren Gunsten ableiten (Urteil, S. 6 ff.).
1.3 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; Art. 105 Abs. 2 BGG). Offensichtlich unrichtig im Sinne von Art. 97 Abs. 1 BGG ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 137 III 226 E. 4.2 mit Hinweisen; zum Begriff der Willkür BGE 138 I 49 E. 7.1; 136 III 552 E. 4.2; je mit Hinweisen). Eine entsprechende Rüge muss klar und substantiiert begründet werden (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG ; BGE 137 IV 1 E. 4.2.3; 136 I 65 E. 1.3.1; je mit Hinweisen). Der Beschwerdeführer, der die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz anfechten will, muss mithin detailliert aufzeigen, inwiefern die gerügten Feststellungen bzw. die Unterlassung von Feststellungen offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhen. In der Beschwerde muss im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern der angefochtene Entscheid an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet. Auf eine rein appellatorische Kritik tritt das Bundesgericht nicht ein (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3; 136 II 489 E. 2.8; je mit Hinweisen).
1.4 Ob die vorinstanzliche Beweiswürdigung in der Sache zutreffend ist, kann das Bundesgericht nur unter dem beschränkten Blickwinkel der Willkür im Sinne von Art. 9 BV überprüfen. Es ist aus dieser Sicht nicht zu beanstanden, wenn die Vorinstanz bei der vortrittsbelasteten Beschwerdeführerin die notwendige Sorgfalt und die Möglichkeit einer Schuldkompensation durch das Fehlverhalten von A.________ verneint. Sie geht willkürfrei davon aus, dass diese mit einer Geschwindigkeit von 40-50 km/h gefahren ist (Urteil, S. 5).
Insoweit die Beschwerdeführerin die Sachverhaltsfeststellungen in Frage stellt, vermag sie keine Willkür an den vorinstanzlichen Erwägungen darzutun. Auf ihre appellatorische Darstellung, wie sich aus ihrer Sicht der Unfall abgespielt hat, ist nicht einzutreten.
1.5 Die Beschwerdeführerin räumt ein, A.________ 20-30 Meter vor dem Fussgängerstreifen wahrgenommen zu haben. Dieser befindet sich unmittelbar bei der Kreuzung Claragraben/Klingentalstrasse. Da zwei Passantinnen den Fussgängerstreifen bereits betreten hatten, durfte die Beschwerdeführerin im Sinne des Vertrauensgrundsatzes im Strassenverkehr darauf vertrauen, dass A.________ vor dem Fussgängerstreifen Bremsbereitschaft erstellt hatte. Es ist deshalb mit einer mittleren Reaktionszeit von 0,6-0,7 Sekunden zu rechnen (BGE 115 II 283 E. 1a S. 285; Urteil 6B_493/2011 vom 12. Dezember 2011 E. 4.3.2; zu dieser Berechnung auch ausführlich RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Bd. 1, 2. Aufl. 2002, N 566 f.). Zur Reaktionszeit ist die sogenannte Bremsschwellzeit (Zeit vom Beginn der Bremswirkung bis zum Beginn der Blockier- oder Regelspurzeichnung) von 0,2 Sekunden hinzuzurechnen (Urteil 6B_493/2011 vom 12. Dezember 2011 E. 4.3; zum Schwellzeitbegriff SCHAFFHAUSER, a.a.O., N 563).
Das Fahrzeug von A.________ legte bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h während der Reaktions- und Bremsschwellzeit von minimal 0,8-0,9 Sekunden (0,6-0,7 + 0,2 Sekunden) eine Strecke von 8,9-10,0 Metern zurück. Der eigentliche Bremsweg berechnet sich nach der Formel v2/2p (Geschwindigkeit in m/s im Quadrat, geteilt durch die mit 2 multiplizierte mittlere Bremsverzögerung in m/s2). Die Fahrbahn war nass. Bei einer durchschnittlichen Bremsverzögerung von 4,5 m/s2 (vgl. dazu die Verzögerungswerte für nasse Fahrbahnen bei HANS GIGER, Strassenverkehrsgesetz, 7. Aufl. 2008, Art. 32 N 10) beträgt der Bremsweg bei einer Geschwindigkeit von 40 km/h 13,7 m ([11,1]2 / [2x 4,5 m/s2]). Der Anhalteweg, der sich aus dem Bremsweg und der während der Reaktions- und Bremsschwellzeit zurückgelegten Wegstrecke berechnet, macht bei einer Vollbremsung 22,6-24,7 Meter (8,9-10,0 m Reaktionsweg + 13,7 m Bremsweg) aus.
Legt man den Berechnungen eine Geschwindigkeit von 45 km/h (entsprechend der geschätzten Geschwindigkeit von 40-50 km/h) zugrunde, beträgt die Anhaltestrecke 27,4-28,7 Meter (Reaktionsweg 10-11,3 m + [(12,5)2 / (2x 4,5 m/s2)], entsprechend 17,4 m, Bremsweg).
1.6 Diese Berechnungen des Anhalteweges bei Geschwindigkeiten von 40 und 45 km/h zeigen auf, dass das Fahrzeug von A.________ bereits im Zeitpunkt, als die Beschwerdeführerin dieses in einer Entfernung von 20-30 m vom Fussgängerstreifen erstmals wahrnahm, eine Gefahr darstellte und selbst bei einer Vollbremsung nur knapp vor dem Fussgängerstreifen stillgestanden wäre. Entgegen der Beschwerdeführerin ist bei dieser Sachlage nicht entscheidend, ob A.________ mit einer Geschwindigkeit von über 50 km/h oder mit 40-50 km/h gefahren ist.
Der Schluss der Vorinstanz ist nicht zu beanstanden, dass die Beschwerdeführerin hätte abwarten und prüfen müssen, ob A.________ den Fussgängerinnen den Vortritt tatsächlich gewährt. Die Aussage der Beschwerdeführerin anlässlich der polizeilichen Einvernahme "Für mich gilt die Regel: Wenn ich Fussgänger sehe, kann ich fahren, da die Fahrzeuge, welche sich vor dem Fussgängerstreifen befinden, ja anhalten müssen" (kantonale Akten, act. 52), zeugt von einer schematischen Denkweise, die den Anforderungen an eine sorgfältige Beurteilung der Verkehrssituation im Einzelfall nicht gerecht wird.
1.7 Aus der Fehlannahme der beiden Fussgängerinnen, A.________ werde vor dem Fussgängerstreifen anhalten, kann die Beschwerdeführerin nichts zu ihren Gunsten ableiten. Entgegen ihrer Auffassung hätte sie den Unfall vermeiden können, wenn sie das Überqueren der Kreuzung rechtzeitig abgebrochen hätte. Sie fuhr zwar langsam, berücksichtigte jedoch nicht, dass der als Einbahnstrasse signalisierte Claragraben wegen einer Baustelle nach der Kreuzung rechtsseitig verengt war. Deshalb mussten die Fahrzeugführer auf dem Claragraben nach links ausweichen, und einschwenkende oder die Kreuzung überquerende Fahrzeuge konnten nur einen kleinen Teil der linken Fahrbahnhälfte beanspruchen.
1.8 Die Vorinstanz schliesst zu Recht auf eine mehrfache Verletzung der Verkehrsregeln wegen Nichtbeherrschens des Fahrzeugs und Missachtung der Vortrittsregeln. Die Rügen der Beschwerdeführerin sind unbegründet.
2.
Der Antrag der Beschwerdeführerin, die erstinstanzlich festgelegte zivilrechtliche Haftungsquote von A.________ ausdrücklich ins Urteilsdispositiv der Vorinstanz aufzunehmen (Beschwerde, S. 17 f.), ist abzuweisen. Diese hält im Dispositiv fest, dass in Bezug auf die Zusprechung von Schadenersatz und Genugtuung das erstinstanzliche Urteil bestätigt werde. Es besteht keine Veranlassung, die Haftungsquote zusätzlich im Dispositiv anzuführen.
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Ausgang des Verfahrens werden die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Basel-Stadt, Ausschuss, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 25. Januar 2013
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Mathys
Der Gerichtsschreiber: Keller