BGer 9C_253/2013
 
BGer 9C_253/2013 vom 17.06.2013
{T 0/2}
9C_253/2013
 
Urteil vom 17. Juni 2013
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Verfahrensbeteiligte
M.________,
handelnd durch ihre Mutter und diese vertreten durch Procap für Menschen mit Handicap,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung
(Hilflosenentschädigung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. Februar 2013.
 
Sachverhalt:
 
A.
Mit Verfügung vom 12. September 2012 sprach die IV-Stelle des Kantons Aargau M.________ eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit leichten Grades und einen Intensivpflegezuschlag nach dem schweren Grad ab Geburt bzw. Spitalaustritt zu. Mit Verfügung vom 13. September 2012 wies sie das Gesuch vom 31. Mai 2011 um revisionsweise Erhöhung der Hilflosenentschädigung ab. Mit Verfügung vom 14. September 2012 sprach sie der Versicherten ab 1. Dezember 2011 neu eine Hilflosenentschädigung für Hilflosigkeit mittelschweren Grades zu und bestätigte den Anspruch auf einen Intensivpflegezuschlag nach dem schweren Grad bei einem Aufenthalt zu Hause.
 
B.
In teilweiser Gutheissung der Beschwerde der M.________ korrigierte das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Verfügungen vom 12., 13. und 14. September 2012 dahingehend, dass ab Geburt bzw. Spitalaustritt Anspruch auf Ausrichtung einer Hilflosenentschädigung leichten, ab Juli 2010 mittleren Grades besteht (Entscheid vom 12. Februar 2013).
 
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt M.________, handelnd durch ihre Mutter, in Abänderung des Entscheids vom 12. Februar 2013 und der Verfügungen vom 12., 13. und 14. September 2012 sei ihr rückwirkend ab ........ (d.h. seit Geburt bzw. Spitalaustritt) eine Hilflosenentschädigung mittleren sowie spätestens ab 1. November 2010 eine solche schweren Grades zuzusprechen.
 
Erwägungen:
 
1.
Die für die Bemessung der Hilflosenentschädigung resp. die Bestimmung des Grades der Hilflosigkeit (leicht, mittelschwer, schwer; Art. 42 Abs. 2 IVG) massgebenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen sind An- und Auskleiden, Aufstehen, Absitzen und Abliegen, Essen, Körperpflege, Verrichtung der Notdurft sowie Fortbewegung und Kontaktaufnahme (Art. 37 IVV; BGE 127 V 94 E. 3c S. 97; 125 V 297 E. 4a S. 303; Urteil 9C_373/2012 vom 22. August 2012 E. 2). Die Körperpflege im Besonderen umfasst Waschen, Kämmen, Rasieren, Baden/ Duschen (vgl. Rz. 8020 des Kreisschreibens über Invalidität und Hilflosigkeit in der Invalidenversicherung [KSIH, in der ab 1. Januar 2012 gültigen Fassung]).
Gemäss Art. 37 Abs. 4 IVV ist bei Minderjährigen nur der Mehrbedarf an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung im Vergleich zu nicht behinderten Minderjährigen gleichen Alters zu berücksichtigen. Diese Sonderregelung trägt dem Umstand Rechnung, dass bei Kleinkindern eine gewisse Hilfs- und Überwachungsbedürftigkeit auch bei voller Gesundheit besteht. Massgebend für die Bemessung der Hilflosigkeit bei diesen Versicherten ist daher der Mehraufwand an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung im Vergleich zu einem nicht invaliden Minderjährigen gleichen Alters. Laut den Richtlinien zur Bemessung der massgebenden Hilflosigkeit bei Minderjährigen in Anhang III KSIH besteht ein allfälliger Mehraufwand an Hilfeleistung und persönlicher Überwachung verglichen mit einem nicht invaliden Minderjährigen gleichen Alters vor allem in den ersten sechs Lebensjahren (BGE 137 V 424 E. 3.3.3.2 S. 431 f.).
 
2.
Die Vorinstanz hat eine relevante Hilfsbedürftigkeit in den Bereichen "An- und Auskleiden", "Essen", "Verrichtung der Notdurft" seit der Geburt bzw. ab Spitalaustritt am ........, "Aufstehen, Absitzen und Abliegen" ab Juli 2010 sowie "Fortbewegung und Kontaktaufnahme spätestens ab September 2011 bejaht. Hingegen sei die Versicherte - jedenfalls bis zum Verfügungszeitpunkt (Urteil 9C_79/2012 vom 15. Mai 2012 E. 3.2) - bei der Körperpflege nicht regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen gewesen. Ebenfalls habe keine dauernde Pflege- oder persönliche Überwachungsbedürftigkeit bestanden.
 
3.
3.1. Zu der in erster Linie umstrittenen Hilfsbedürftigkeit bei der Körperpflege hat die Vorinstanz erwogen, gemäss Anhang III KSIH sei bei einem schwerstbehinderten Kind ein diesbezüglicher relevanter Mehraufwand beispielsweise gegeben, wenn aus medizinischen Gründen zwei Personen zum Baden erforderlich seien. Bei der Beschwerdeführerin könne diese Verrichtung jedoch unbestrittenermassen von einer Person durchgeführt werden. Der Mehraufwand des täglichen Badens zur Entspannung der Muskeln werde sodann als Therapie und nicht als Körperpflege eingestuft und entsprechend unter Behandlungspflege angemessen berücksichtigt, ebenso die Hautpflege. Auch sei die Einschätzung im Bericht über die Abklärung an Ort und Stelle vom 11. April 2012 plausibel, dass die Grundpflege während des Therapiebades vorgenommen werden könne. Ebenso vermöchten die Erläuterungen der Abklärungsperson zur täglichen Zahnreinigung zu überzeugen. Danach ist der von der Mutter angegebene zeitliche Mehraufwand von fünf Minuten altersgemäss, d.h. auch bei einem gesunden 2 1/2 Jahre alten Kind notwendig.
 
3.2.
3.2.1. Es ist unbestritten, dass eine Person (Mutter oder Pflegefachfrau der Kinderspitex) allein genügt, um die Versicherte zu baden, wobei gemäss vorinstanzlicher Beschwerde ein behindertengerechter Badestuhl zum Einsatz kommt. Dies allein schliesst eine relevante Hilflosigkeit bei der Körperpflege (Teilfunktion Baden; vgl. Urteil 9C_373/ 2012 vom 22. August 2012 E. 4.2 mit Hinweisen) nicht aus. Die in Anhang III KSIH erwähnte Notwendigkeit, dass ein Kind behinderungsbedingt durch zwei Personen gebadet werden muss, hat wohl (lediglich) Orientierungswert. Umgekehrt wird in der Beschwerde richtig darauf hingewiesen, dass die betreffenden Richtlinien auf den Angaben erfahrener Fachärzte der Pädiatrie beruhen.
3.2.2. Weiter steht fest, dass die Versicherte aus gesundheitlichen Gründen fünf Mal wöchentlich (alle zwei Wochen zu Hause) durch die Pflegefachfrau der Kinderspitex gebadet wird. Die Vorinstanz hat wie schon die Beschwerdegegnerin gestützt auf den Bericht vom 11. April 2012 über die Abklärung an Ort und Stelle dieses Therapiebaden zum Lösen der Spastik zur Behandlungspflege gezählt, für deren Kosten die Invalidenversicherung (unter dem Titel Medizinische Massnahmen in Hauspflege und allenfalls Intensivpflegezuschlag) und die Krankenversicherung im gesetzlichen Rahmen aufkommen (vgl. IV-Rundschreiben Nr. 297 vom 1. Februar 2011 und Nr. 308 vom 27. Februar 2012 sowie BGE 136 V 209). Demgegenüber ist das gemäss Abklärungsbericht zwei Mal wöchentliche Baden zur Reinigung Teil der Grundpflege und allenfalls mit der Hilflosenentschädigung oder dem Intensivpflegezuschlag abzugelten. Dieser (strikten) Aufteilung der einzelnen Leistungsbereiche widerspricht die vorinstanzliche Annahme, die Grundpflege könne während des Therapiebades vorgenommen werden, wie in der Beschwerde sinngemäss vorgebracht wird.
3.2.3. In der Beschwerde wird - zu Recht - nicht geltend gemacht, zwei Mal wöchentliches Baden der Versicherten im Rahmen der Grundpflege (Reinigung) stelle verglichen mit einem gesunden noch nicht drei Jahre alten Mädchen einen Mehraufwand dar, der nicht allenfalls vom (vorliegend maximalen) Intensivpflegezuschlag erfasst würde. Weshalb die Körperpflege in dieser Teilfunktion sich deutlich schwieriger und zeitintensiver gestalte als bei einem gesunden Kleinkind gleichen Alters wird mit den schweren Spasmen und den damit verbundenen Schmerzen, dem häufigen krankheitsbedingten Erbrechen sowie der kyphotischen Haltung, der Skoliose und der eluxierten Hüfte begründet. Eine gesunde 3-Jährige könne nämlich im Bad bereits selber sitzen und versteife sich nicht, sodass das Waschen ohne Sicherheitsvorkehrungen und Tragen viel schneller durchgeführt werden könne.
Es steht ausser Frage, dass das Baden der Versicherten als Folge ihrer multiplen Behinderungen anstrengender und auch zeitintensiver ist als bei gesunden Gleichaltrigen. Immerhin dürfte der verwendete behindertengerechte Badestuhl die Sache erleichtern. Im Übrigen gibt es auch andere Gründe, etwa die Angst vor Wasser, die das Baden und Waschen erschweren. Sodann müssen auch bei gesunden Kleinkindern unter drei Jahren die einzelnen Verrichtungen häufig noch selber oder zusammen mit ihnen bzw. unter Anleitung ausgeführt werden. Ebenfalls können sie aus naheliegenden Gründen nicht unbeaufsichtigt gelassen werden, woran nichts ändert, dass sie sitzen können. Schliesslich ist zu beachten, dass das Therapiebaden, welches auch eine hygienische Wirkung hat, der Lösung der Spastik bzw. dem Entspannen der Muskeln dient. Es erscheint daher sinnvoll und weniger anstrengend, wenn unmittelbar daran anschliessend das Baden im Rahmen der Grundpflege erfolgt. Insgesamt kann jedenfalls im Ergebnis die Auffassung der Vorinstanz, dass bis zum Verfügungszeitpunkt keine relevante, über das Altersbedingte hinausgehende Hilfsbedürftigkeit bei der Körperpflege bestand, nicht als bundesrechtswidrig bezeichnet werden.
3.3. Auf die weiteren Rügen und Vorbringen in der Beschwerde braucht nicht eingegangen zu werden, da sie lediglich bei Bejahung einer Hilflosigkeit in der Lebensverrichtung "Körperpflege" allenfalls von Bedeutung sein könnten.
 
4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 17. Juni 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Meyer
Der Gerichtsschreiber: Fessler