BGer 9C_947/2012
 
BGer 9C_947/2012 vom 19.06.2013
{T 0/2}
9C_947/2012
 
Urteil vom 19. Juni 2013
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
N.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Fabienne Brandenberger-Amrhein,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Oktober 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
N.________ meldete sich im September 2008 bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Nach Abklärung der gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse und nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren sprach ihm die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit Verfügungen vom 13. September und 19. Oktober 2010 eine Viertels-Invalidenrente ab 1. Dezember 2008 zu.
 
B.
Dagegen erhob N.________ Beschwerde, welche das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 30. Oktober 2012 guthiess, indem es ihm rückwirkend ab 1. Dezember 2008 eine ganze Invalidenrente zusprach und die Sache zur Ermittlung des Rentenbetrages und zur Ausrichtung der Rentenleistungen an die IV-Stelle zurückwies.
 
C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 30. Oktober 2012 sei aufzuheben und die Sache an die "Vorinstanz zur Durchführung des Verfahrens nach Art. 61 lit. d ATSG zurückzuweisen".
Das kantonale Versicherungsgericht und N.________ beantragen die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei, das Bundesamt für Sozialversicherungen deren Gutheissung.
 
D.
Mit Verfügung vom 14. März 2013 ist der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt worden.
 
Erwägungen:
 
1.
Der vorinstanzliche Entscheid spricht dem Beschwerdegegner eine ganze Rente der Invalidenversicherung ab 1. Dezember 2008 zu. Die Beschwerde führende IV-Stelle bestreitet wie schon in der vorinstanzlichen Vernehmlassung, dass überhaupt ein Rentenanspruch besteht. Dazu ist sie berechtigt, woran nichts ändert, dass sie mit der angefochtenen Verfügung vom 13. September 2010 noch eine Viertelsrente zugesprochen hatte (BGE 138 V 339).
 
2.
Die Vorinstanz hat die medizinischen Akten dahingehend gewürdigt, der Beschwerdegegner sei psychisch bedingt seit Ablauf der Wartezeit am 1. Dezember 2008 bis Februar 2009 und wiederum seit Anfang Juni 2010 andauernd auch in einer adaptierten Erwerbstätigkeit vollständig arbeitsunfähig. Im Zeitraum vom März 2009 bis Mai 2010 habe aufgrund der neuropsychologischen Störungen eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % in einer adaptierten Tätigkeit bestanden. Gestützt darauf hat die Vorinstanz für die Zeit vom 1. Dezember 2008 bis 28. Februar 2009 und ab 1. Juni 2010 durch Prozentvergleich (Urteil 9C_882/2010 vom 25. Januar 2011 E. 7.1) und für die Monate März 2009 bis Mai 2010 durch Einkommensvergleich (BGE 128 V 29 E. 1 S. 30) einen Invaliditätsgrad von 100 % bzw. 81 % ermittelt, was Anspruch auf eine ganze Rente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG). Abschliessend hat die Vorinstanz festgehalten, es bestehe die Chance, den Gesundheitszustand und damit die erwerbliche Leistungsfähigkeit durch eine adäquate psychiatrisch-psychotherapeutische und allenfalls psychopharmakologische Therapie zu verbessern. Einer solchen Behandlung hätte sich der Versicherte in Erfüllung seiner Schadenminderungs- und Eingliederungspflicht (nötigenfalls in Anwendung von Art. 21 Abs. 4 ATSG) zu unterziehen.
 
3.
Die IV-Stelle wirft dem kantonalen Gericht vor, es habe sich nicht mit der Rechtsfrage auseinandergesetzt, ob der Diagnose einer (mittelschweren bis) schweren depressiven Episode im Sinne von ICD-10 F 32.2 gemäss der auf Veranlassung des Beschwerdegegners erstellten Expertise des Instituts X.________ vom 16. Oktober 2010 auch invalidisierende Wirkung zukomme. Weiter bringt sie vor, für die beim Beschwerdegegner im Rahmen der BEGAZ-Begutachtung festgestellte neuropsychologische Beeinträchtigung lasse sich als Erklärung weder ein psychischer Gesundheitsschaden von erheblicher Schwere, Ausprägung und Dauer noch eine (hirn-) organische Pathologie oder eine anderweitige somatisch objektivierbare Ursache angeben. Die vorinstanzliche Annahme einer neuropsychologisch begründeten Arbeitsunfähigkeit von 50 % in einer adaptierten Erwerbstätigkeit zwischen März 2009 und Mai 2010 sei das Ergebnis einer qualifiziert unrichtigen Würdigung des rechtserheblichen Sachverhalts, worauf nicht abgestellt werden könne.
3.1. Invalidität ist die voraussichtlich bleibende oder längere Zeit dauernde ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit als Folge von Geburtsgebrechen, Krankheit oder Unfall (Art. 4 Abs. 1 IVG und Art. 8 Abs. 1 ATSG). Eine fachärztlich festgestellte psychische Krankheit im Besonderen ist nicht ohne weiteres gleichbedeutend mit dem Vorliegen einer Invalidität. In jedem Einzelfall muss eine Beeinträchtigung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit unabhängig von der Diagnose und grundsätzlich unbesehen der Ätiologie ausgewiesen und in ihrem Ausmass bestimmt sein. Entscheidend ist die nach einem weit gehend objektivierten Massstab zu erfolgende Beurteilung, ob und inwiefern der versicherten Person trotz ihres Leidens die Verwertung ihrer Restarbeitsfähigkeit auf dem in Betracht fallenden (ausgeglichenen) Arbeitsmarkt zumutbar ist (BGE 127 V 294 E. 4c S. 298).
 
3.2.
3.2.1. Die IV-Stelle bringt gewichtige Gründe vor, die Zweifel an der Einschätzung der Ärzte des Instituts X.________ einer psychisch bedingten vollständigen Arbeitsunfähigkeit (im Zeitpunkt der Untersuchung vom 28. Juli 2010 bei eher schlechter Prognose) wecken. Vorab bezeichnet eine schwere depressive Episode im Sinne von ICD-10 F32.2 grundsätzlich eine vorübergehende Störung (vgl. Daniel Hell und Andere, Kurzes Lehrbuch der Psychiatrie, 3. Aufl. 2011 S. 117 unten). Länger (mehr als sechs, selten zwölf Monate) dauernde Störungen werden unter ICD-10 F33 (rezidivierende depressive Störung) oder ICD-10 F34 (anhaltende affektive Störung) erfasst (Urteil 8C_80/2011 vom 14. Juni 2011 E. 6.3.2 mit Hinweis). Weiter hatte sich das depressive Zustandsbild im Zeitraum von März 2009 bis Mai 2010 vollständig remittiert, und es besteht die Chance, den Gesundheitszustand und damit die erwerbliche Leistungsfähigkeit durch eine adäquate psychiatrisch-psychotherapeutische und allenfalls psychopharmakologische Therapie zu verbessern, wie die Vorinstanz nicht offensichtlich unrichtig festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Allerdings sagt die Behandelbarkeit einer psychischen Störung, für sich allein betrachtet, nichts über deren invalidisierenden Charakter aus (BGE 127 V 294 E. 4c S. 298).
3.2.2. Weiter steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner bisher in keiner psychotherapeutischen Behandlung stand und er auch keine Medikamente einnimmt. In diesem Zusammenhang erwähnt die IV-Stelle richtig, dass grundsätzlich kein Rentenanspruch entstehen kann, solange zumutbare therapeutische und andere schadenmindernde Vorkehren nicht ausgeschöpft werden. Solange durch eine tatsächlich realisierbare Veränderung der für die gesundheitliche Situation bedeutsamen Rahmenbedingungen eine wesentliche Verbesserung des (psychischen) Gesundheitszustandes und damit der dadurch eingeschränkten Arbeitsfähigkeit bewirkt werden kann, liegt kein invalidisierender Gesundheitsschaden im Sinne des Gesetzes vor (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts I 820/05 vom 27. Dezember 2006 E. 2.1.2 mit Hinweis). Umgekehrt kann aber aus dem Fehlen einer (psychiatrischen oder psychotherapeutischen) Behandlung nicht auf das Fehlen eines psychischen Gesundheitsschadens geschlossen werden. Wie es sich damit verhält, kann indessen offenbleiben, ebenso, ob eine umfassende medizinische Behandlung eine relevante Verbesserung des Gesundheitszustandes und damit der Arbeitsfähigkeit bewirkt hätte, was die Vorinstanz als nicht ausreichend wahrscheinlich bezeichnet hat.
3.2.3. Zum Gesagten kommt entscheidend dazu, dass die Ärzte des Instituts X.________ von einer aktuellen schweren Episode ausgingen und davon, dass 2009 eine Verschlechterung stattgefunden habe, wogegen im Administrativgutachten des BEGAZ vom 7. Juli 2009 aus psychiatrischer Sicht ein Status nach depressiver Episode, aktuell remittiert (ICD-10 F32) diagnostiziert worden war. Dieser Widerspruch lässt sich - im Rahmen umfassender, sorgfältiger und objektiver Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG; BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400) - nicht in willkürfreier Weise auflösen. Vielmehr ist eine nochmalige Begutachtung unabdingbar, um über den Anspruch des Beschwerdegegners auf eine Invalidenrente entscheiden zu können. Der angefochtene Entscheid beruht somit auf unvollständiger Beweisgrundlage (Urteil 8C_748/2012 vom 23. März 2013 E. 2.2) und ist daher aufzuheben.
 
4.
Die Vorinstanz wird ein Gerichtsgutachten einzuholen haben (BGE 137 V 210) und danach neu entscheiden. Dabei wird sie zu beachten haben (Art. 106 Abs. 1 BGG), dass sich der Beschwerdegegner im September 2008 bei der Invalidenversicherung angemeldet hatte. Der Rentenanspruch konnte somit frühestens nach Ablauf von sechs Monaten im März 2009 entstehen (Art. 29 Abs. 1 IVG; zum Normzweck BGE 138 V 475 E. 3.2.1 S. 478) und nicht schon am 1. Dezember 2008 bei bzw. unmittelbar nach Ablauf der Wartezeit gemäss Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG. Frühest möglicher Rentenbeginn ist somit der 1. März 2009 (Art. 29 Abs. 3 IVG).
 
5.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 30. Oktober 2012 aufgehoben . Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der Ostschweizerischen Ausgleichskasse und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 19. Juni 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Der Gerichtsschreiber: Fessler