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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
[img]
{T 0/2}
8C_109/2013
Urteil vom 8. Juli 2013
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiberin Fleischanderl.
Verfahrensbeteiligte
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern 3,
Beschwerdeführer,
gegen
M.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dominique Chopard,
Beschwerdegegner,
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Kinderrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. Dezember 2012.
Sachverhalt:
A.
Der kosovarische Staatsangehörige M.________, geb. 1963, wohnhaft in der Schweiz, ist verheiratet und Vater von sechs Kindern (geb. 1986, 1987, 1990, 1992 [I.________], 1994 [G.________], 1994 [E.________]), die in Kosovo leben. Die IV-Stelle des Kantons Aargau sprach ihm mit Verfügung vom 12. Juli 2011 rückwirkend ab 1. August 2009 eine Dreiviertelsrente auf der Grundlage einer Invalidität von 67 % zu. Kinderrenten wurden keine zugesprochen.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 13. Dezember 2012 teilweise gut, indem es die angefochtene Verfügung aufhob und die Sache zur Vornahme ergänzender Abklärungen im Sinne der Erwägung 2.5 und zum anschliessenden Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückwies (Dispositiv-Ziffer 1). In Bezug auf den Anspruch auf Kinderrenten für die Kinder I.________, G.________ und E.________ wurde die Beschwerde gutgeheissen und die Verwaltung angewiesen, M.________ Kinderrenten nach Massgabe der Erwägung 2.6 des Entscheids zuzusprechen (Dispositiv-Ziffer 2).
C.
Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei die Verfügung der IV-Stelle vom 12. Juli 2011 zu bestätigen.
Während M.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, ersucht die IV-Stelle um deren Gutheissung.
Erwägungen:
1.
1.1. Das kantonale Gericht ist in seinem Entscheid zum Schluss gelangt, dass der Beschwerdegegner seit der Unabhängigkeitserklärung der serbischen Provinz Kosovo am 17. Februar 2008 (dazu im Detail E. 4.1 hiernach) als kosovarisch-serbischer Staatsangehöriger zu betrachten sei und sich in dieser Eigenschaft bezüglich des Anspruchs auf Kinderrenten für seine in Kosovo lebenden Kinder weiterhin auf das Abkommen vom 8. Juni 1962 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der (ehemaligen) Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über Sozialversicherung (SR 0.831.109.818.1 [in Kraft getreten am 1. März 1964]; nachfolgend: Sozialversicherungsabkommen) berufen könne. Während es vor diesem Hintergrund die Zusprechung von Zusatzrenten für die Kinder I.________, G.________ und E.________ bejahte (Entscheiddispositiv-Ziffer 2), wies es die Sache hinsichtlich der anderen Kinder zur Vornahme ergänzender Abklärungen an die IV-Stelle zurück (Entscheiddispositiv-Ziffer 1).
1.2. Beim vorinstanzlichen Entscheid handelt es sich bezogen auf Dispositiv-Ziffer 2 um einen Endentscheid, geht es dabei doch weitgehend um die blosse Umsetzung des kantonalgerichtlich Angeordneten durch die Verwaltung (vgl. Urteil [des Bundesgerichts] 9C_684/2007 vom 27. Dezember 2007 E. 1.1 mit Hinweisen, in: SVR 2008 IV Nr. 39 S. 131). Er ist deshalb ohne weiteres durch das BSV anfechtbar. Wie es sich bezüglich der Dispositiv-Ziffer 2 verhält - der Entscheid stellt insoweit nach der Terminologie des BGG einen Zwischenentscheid dar -, kann damit offen bleiben (vgl. dazu Urteile [des Bundesgerichts] 9C_329/2011 vom 27. September 2011 E. 3, in: SVR 2012 IV Nr. 23 S. 97 [Anfechtbarkeit des erstinstanzlichen Rückweisungsentscheids durch das BSV verneint], und 9C_301/2010 vom 21. Januar 2011 E. 1.2 [Anfechtbarkeit bejaht]).
2.
2.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.2. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; vgl. dazu BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 II 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft es - unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG) - grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254 mit Hinweisen).
3.
3.1. Gemäss Art. 35 Abs. 1 IVG haben Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Diese beträgt 40 % der dem massgebenden durchschnittlichen Jahreseinkommen entsprechenden Invalidenrente, wobei die gleichen Berechnungsregeln gelten wie für die jeweilige Invalidenrente (Art. 38 IVG). Nach Art. 6 Abs. 2 IVG werden für im Ausland wohnhafte Angehörige von ausländischen Rentenberechtigten keine Leistungen gewährt. Abweichende staatsvertragliche Regelungen bleiben vorbehalten.
3.2. Streitig und zu prüfen ist, ob sich der in der Schweiz lebende Beschwerdegegner als kosovarischer Staatsangehöriger und Hauptrentenberechtigter bezüglich des Anspruchs auf Kinderrenten für seine in Kosovo lebenden Kinder auf das Sozialversicherungsabkommen berufen kann. Während die Vorinstanz dies bejaht, sprechen sich BSV und IV-Stelle dagegen aus.
4.
4.1. Es steht fest und ist unbestritten, dass das Sozialversicherungsabkommen im Verhältnis zur Republik Serbien bis heute seine Gültigkeit bewahrt hat (vgl. Liste der Sozialversicherungsabkommen [abrufbar unter http://www.bsv.admin.ch: Themen/Internationales/Abkommen]). Am 17. Februar 2008 hat sich die serbische Provinz Kosovo für unabhängig erklärt. Der Bundesrat hat den Kosovo am 27. Februar 2008 als unabhängigen Staat anerkannt. Damit entstand aus der Sicht der Schweiz ein eigenständiges Staatsgebilde (BGE 130 II 217 E. 5.3 Abs. 1 S. 222; Samantha Besson, Droit international public, 2011, S. 48; Kälin/Epiney/Caroni/Künzli, Völkerrecht, 3. Aufl. 2010, S. 150). Das Bundesgericht bezeichnet den Kosovo denn auch als souveränen Staat (Urteil 2C_738/2008 vom 15. April 2009 E. 3.3 Abs. 3). Am 22. Juli 2010 ist der Internationale Gerichtshof zum Schluss gekommen, dass die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos kein Völkerrecht verletzt. Insbesondere stand die Resolution 1244 des UNO-Sicherheitsrates aus dem Jahr 1999 der Unabhängigkeitserklärung Kosovos nicht entgegen (International Court of Justice, Year 2010, 22 July, General List No. 141, Rz. 84 und 119). Kosovo ist mittlerweile (Stand: 13. Juni 2013) von 100 der insgesamt 193 UNO-Mitgliedstaaten diplomatisch anerkannt, darunter 22 der 27 EU-Mitgliedsstaaten sowie die USA ( http://www.kosova.org; zum Ganzen: Urteil [des Bundesgerichts] 9C_662/2012 vom 19. Juni 2013 E. 3, zur Publikation vorgesehen).
4.2. In seinem vorstehend erwähnten Grundsatzurteil 9C_662/2012 vom 19. Juni 2013 hat das Bundesgericht erkannt, dass die ehemals serbische Provinz und heutige Republik Kosovo mit ihrer Sezession eine - sowohl in territorialer als auch (vertrags-) rechtlicher Hinsicht - völkerrechtlich wirksame Änderung herbeigeführt hat und die Nichtweiteranwendung des Sozialversicherungsabkommens durch die Schweiz auf die neue Gebietskörperschaft ab 1. April 2010 rechtmässig ist (E. 2 - 8).
5.
5.1. Im Weiteren wurde im Urteil 9C_662/2012 erwogen, aus der Tatsache, dass die Republik Kosovo die multiple Staatsbürgerschaft zulasse, könne nicht abgeleitet werden, dass kosovarische Staatsangehörige ohne weiteres kosovarisch-serbische Doppelbürger seien. Ein Automatismus oder der Grundsatz, dass Personen aus dem Kosovo neben der Staatsangehörigkeit des Kosovos auch die serbische Staatsangehörigkeit besässen, sei zu verneinen. Dennoch könne das Vorliegen einer kosovarisch-serbischen Doppelbürgerschaft aber nicht ausgeschlossen werden. Eine solche sei indessen nicht nur überzeugend zu behaupten, sondern rechtsgenüglich zu belegen (E. 9 - 12, insb. E. 12.2; vgl. auch Mitteilungen an die AHV-Ausgleichskassen und EL-Durchführungsstellen Nr. 326 des BSV vom 20. Februar 2013 [nachfolgend: Mitteilungen]).
5.2. Im vorliegenden Fall ist mit dem Beschwerde führenden BSV von der alleinigen kosovarischen Staatsangehörigkeit des Beschwerdegegners auszugehen. Zum einen hatte er in der Anmeldung zum IV-Leistungsbezug an erster Stelle eine entsprechende Zugehörigkeit erwähnt. Zwar wurde zusätzlich auch Serbien aufgeführt. Wie sich aus der im Vergleich zu den übrigen Angaben anders gearteten Handschrift ergibt, wurde diese Nationalität jedoch offensichtlich erst nachträglich durch eine andere Person hinzugefügt. Als erlernten Beruf gab der Beschwerdegegner zudem "Zimmermann in Kosovo" an. Es liegen sodann auch keine anderweitigen Anhaltspunkte vor, die auf eine Doppelbürgerschaft schliessen lassen. Namentlich leben die Ehefrau und die Kinder in Kosovo (Gemeinde A.________/B.________) und sind kosovarische Staatsangehörige (vgl. die vorinstanzlich eingereichten Unterlagen [Geburtsurkunden der Kinder, "Life Certificates" etc.). Da der Beschwerdegegner schliesslich auch keine derartige Verbindung geltend macht - die Ausführungen in der kantonalen Beschwerdeschrift beschränken sich auf allgemeine Erörterungen zur Staatenzugehörigkeit und auch die letztinstanzliche Vernehmlassung enthält keine in dieser Hinsicht konkreteren Hinweise (siehe dazu auch die Mitteilungen) -, hat es bei der Feststellung sein Bewenden, dass er für den Zeitpunkt ab 1. April 2010 grundsätzlich Angehöriger eines Nichtvertragsstaates ist. Es kann somit offen bleiben, ob und inwieweit die Annahme einer Doppelbürgerschaft für die vorliegende Frage überhaupt dienlich wäre. Art. 5 in Verbindung mit Art. 1 des serbischen Staatsangehörigkeitsgesetzes (veröffentlicht im Amtsblatt der Republik Serbien Nr. 135 vom 21. Dezember 2004 [abrufbar unter http://www.eudo-citizenship.eu : Databases, National Citizenship Laws]) stipuliert nämlich, dass ein serbischer Staatsangehöriger, der die Staatsbürgerschaft eines fremden Staates besitzt, als Serbe betrachtet wird, wenn er sich auf Territorium der Republik Serbien befindet (vgl. zitiertes Urteil 9C_662/2012 vom 19. Juni 2013 E. 12.2).
6.
6.1. Die Nichtweiterführung des Sozialversicherungsabkommens mit Kosovo hat zur Folge, dass Staatsangehörige des Kosovos künftig nicht mehr die Rechtsstellung als Vertragsausländerinnen und -ausländer innehaben. Sie gelten neu als Nichtvertragsausländerinnen und -ausländer. Dieser Statuswechsel hat einerseits Auswirkungen auf die Anspruchsvoraussetzungen (versicherungsmässige Voraussetzungen) und führt anderseits dazu, dass Renten der Invalidenversicherung von Staatsangehörigen des Kosovos, die für den Zeitraum nach dem 31. März 2010 zugesprochen werden, gemäss Art. 6 Abs. 2 Satz 2 IVG nicht mehr ins Ausland exportierbar sind. Sie werden nurmehr innerhalb der Schweiz gewährt. Die laufenden Renten geniessen demgegenüber gemäss Art. 25 des Sozialversicherungsabkommens den Besitzstand.
6.2. Die IV-Stelle hat dem Beschwerdegegner mit Verfügung vom 12. Juli 2011 rückwirkend per 1. August 2009 eine Dreiviertelsrente zugesprochen. Die versicherungsmässigen Voraussetzungen für die Ausrichtung einer Rente waren mithin ab Anfang August 2009 gegeben. In zeitlicher Hinsicht sind regelmässig diejenigen Rechtssätze massgebend, die bei der Erfüllung des zu Rechtsfolgen führenden Tatbestandes Geltung haben (BGE 130 V 445 E. 1.2.1 S. 447; 127 V 466 E. 1 S. 467). Dieser auch im vorliegenden Fall geltende Grundsatz führt zum Schluss, dass im Moment der Entstehung des Rentenanspruchs des Beschwerdegegners das Sozialversicherungsabkommen für ihn noch Gültigkeit besass. Keine relevante Bedeutung beizumessen ist im betreffenden Zusammenhang demgegenüber dem Zeitpunkt des Verfügungserlasses, haftet diesem doch stets eine gewisse Willkür an bzw. hängt er stark von nicht oder nur durch die Verwaltung beeinflussbaren Faktoren ab. Soweit dem IV-Rundschreiben Nr. 290 des BSV vom 29. Januar 2010 in Bezug auf den zeitlich relevanten Anknüpfungspunkt etwas Gegenteiliges zu entnehmen ist, kann darauf nicht abgestellt werden.
Findet das Sozialversicherungsabkommen auf den Beschwerdegegner nach dem Gesagten intertemporalrechtlich dennoch Anwendung, woraus die Zulässigkeit eines Exports von ihm zustehenden Kinderrenten in den Kosovo resultiert, erweist sich der vorinstanzliche Entscheid im Ergebnis als rechtens.
7.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem Beschwerde führenden BSV aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es hat dem anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner überdies eine dem Aufwand angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Der Beschwerdeführer hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der IV-Stelle des Kantons Aargau und dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 8. Juli 2013
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Leuzinger
Die Gerichtsschreiberin: Fleischanderl