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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
[img]
{T 0/2}
9C_803/2012
Urteil vom 8. Juli 2013
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Nussbaumer.
Verfahrensbeteiligte
Avenir Krankenversicherung AG,
Rechtsdienst, Rue des Cèdres 5, 1920 Martigny,
Beschwerdeführerin,
gegen
H.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Krankenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid
des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 14. August 2012.
Sachverhalt:
A.
H.________ (geboren 1955) und seine Ehefrau I.________ waren seit mehreren Jahren im Rahmen der obligatorischen Krankenpflegeversicherung bei der Avenir Krankenversicherung AG (nachfolgend: Avenir), einer Krankenkasse der Groupe Mutuel versichert. Am 5. August 2010 wurde über H.________ der Konkurs eröffnet. Die Avenir gab am 6. Oktober 2010 eine Konkursforderung von Fr. 2571.30 ein, welche alle bis zum Zeitpunkt der Konkurseröffnung fällig gewordenen Forderungen beinhaltete. Mit Schreiben vom 19. Oktober 2010 kündigten H.________ und I.________ das Versicherungsverhältnis auf 31. Dezember 2010 und traten per 1. Januar 2011 bei der CSS Versicherung ein. Die Avenir akzeptierte die Kündigung wegen Zahlungsausständen für die Jahre 2009 und 2010 nicht.
Da H.________ im Laufe des Jahres 2011 keine Prämienzahlungen leistete, leitete die Avenir Betreibung für die Prämien der Monate Juni bis August 2011 ein. H.________ erhob gegen den Zahlungsbefehl Rechtsvorschlag. Mit Verfügung vom 16. Dezember 2011, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 1. Februar 2012, setzte die Kasse die Prämienforderung mit Fr. 951.60 zuzüglich Kosten von Fr. 253.- fest und hob den Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr. X des Betreibungsamtes Y.________ vom 8. Dezember 2011 vollständig auf.
B.
Die hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 14. August 2012 gut und hob den Einspracheentscheid vom 1. Februar 2012 und die Verfügung vom 27. Dezember 2011 (recte: 16. Dezember 2011) auf.
C.
Die Avenir führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, in Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheides sei ihr Einspracheentscheid vom 1. Februar 2012 zu bestätigen.
H.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Kantonales Gericht und Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 134 V 250 E. 1.2 S. 252 mit Hinweisen; 133 III 545 E. 2.2 S. 550; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Rüge- und Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
2.
2.1. Gemäss Art. 3 Abs. 1 KVG ist jede Person mit Wohnsitz in der Schweiz der obligatorischen Krankenpflegeversicherung unterstellt. Die versicherte Person kann unter Einhaltung einer dreimonatigen Kündigungsfrist den Versicherer auf das Ende eines Kalendersemesters wechseln (Art. 7 Abs. 1 KVG). Die Kündigungsfrist ist eingehalten, wenn die Kündigung am letzten Tag der gesetzlichen Frist beim Versicherer eingegangen ist. Bei Prämienerhöhung kann der Versicherer unter Einhaltung einer Kündigungsfrist von einem Monat seit Ankündigung der Prämienerhöhung auf das Ende des Monats gewechselt werden, vor welchem die neue Prämie Wirkung entfaltet (Art. 7 Abs. 2 KVG).
2.2. Nach Art. 64a Abs. 4 KVG (in der bis Ende Dezember 2011 gültig gewesenen und hier anwendbaren Fassung) können säumige Versicherte den Krankenversicherer nicht wechseln, solange sie ausstehende Prämien, Kostenbeteiligungen, Verzugszinsen und Betreibungskosten nicht vollständig bezahlt haben. Zielsetzung der Regelung ist der Schutz der Versichertengemeinschaft vor Prämienerhöhungen, die durch nicht einbringliche Zahlungsausstände von Versicherten bedingt sind, welche einen Versichererwechsel vornehmen, ohne zuvor die Zahlungsausstände beglichen zu haben (Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Krankenversicherung [Prämienverbilligung] und zum Bundesbeschluss über die Bundesbeiträge in der Krankenversicherung vom 26. Mai 2004, BBl 2004, 4327 ff., S. 4341; Urteile 9C_99/2011 vom 28. Februar 2011 E. 2.1 und 9C_477/2008 vom 26. August 2008 E. 4.2). Gleichzeitig soll verhindert werden, dass sich die Versicherten durch einen Versichererwechsel einem Leistungsaufschub nach Art. 64a Abs. 2 KVG entziehen können (Bundesrätliche Botschaft, a.a.O., S. 4341). Art. 64a Abs. 4 KVG ist mithin eine Schutzbestimmung zu Gunsten des Finanzhaushalts des bisherigen Versicherers. Er begründet ein gesetzliches Austrittsverbot der versicherten Person, weshalb der bisherige Versicherer verpflichtet ist, ihn anzuwenden ( GEBHARD EUGSTER, Die obligatorische Krankenpflegeversicherung, in: Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht [SBVR], Soziale Sicherheit, 2. Auflage 2007, S. 440 Rz 131).
2.3. Nach der Rechtsprechung ist eine über den mit Ausstellung eines Konkursverlustscheins erfolgten Abschluss des Konkursverfahrens hinaus dauernde Leistungssperre nicht zulässig, sofern der Schuldner nicht im Sinne von Art. 265 Abs. 2 SchKG zu neuem Vermögen gekommen ist (BGE 109 III 93 E. 1a S. 94; RKUV 2005 Nr. K 961 S. 52; RKUV 2005 KV 322 S. 94 E. 3; EUGSTER a.a.O., S. 442 Rz 135).
3.
Streitig ist, ob der Beschwerdegegner (und seine Ehefrau) der Beschwerdeführerin für die Monate Juni bis August 2011 Prämien schuldet. Dies hängt davon ab, ob die Kündigung vom 19. Oktober 2010 auf Ende 31. Dezember 2010 wirksam geworden ist.
3.1. Das kantonale Gericht stellte in tatsächlicher Hinsicht fest, dass für die Zeit ab Konkurseröffnung bis 31. Dezember 2010 keine offenen Forderungen mehr bestünden. Es erwog, wenn für Prämien und Kostenbeteiligungen ein Konkursverlustschein vorliege, könne der Versicherer einem Schuldner, der nicht zu neuem Vermögen gekommen sei, den Wechsel zu einem prämiengünstigeren Versicherer nicht verweigern. Eine solche Massnahme könne die wirtschaftliche Erholung des Versicherten tangieren. Diese in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze seien hier per analogiam anwendbar (Hinweis auf EUGSTER, a.a.O., S. 442 Note 135). Gleiches müsse auch gelten, wenn sich ein eröffnetes Konkursverfahren wegen den Verwertungsbemühungen des Konkursamtes verzögere, d.h. noch keine Konkursverlustscheine ausgestellt worden seien. Es sei denn auch nach wie vor möglich, dass die im Konkurs eingegebenen Prämienausstände aus der Konkursmasse (teilweise) beglichen würden. Da komplexe Konkursverfahren lange Zeit in Anspruch nehmen könnten, dürfe dem Schuldner für diese ganze Folgezeit nicht das Recht genommen werden, den Versicherer zu wechseln. Er müsse die Chance haben, seine Ausstände zu begleichen und auf einen möglichen nächsten Kündigungstermin den Versicherer zu wechseln. Da aber die Ausstände der Zeit vor der Konkurseröffnung vom Schuldner gar nicht beglichen werden dürften, seien nur die nach dem Datum der Konkurseröffnung fällig gewordenen Forderungen zu beachten. Das heisse in concreto die Ausstände vom 6. August bis 31. Dezember 2010 habe der Beschwerdegegner begleichen müssen, damit die Kündigung vom 19. Oktober 2010 ihre Wirkung entfalten und der Versichererwechsel per 1. Januar 2011 vorgenommen werden konnte. Da der Beschwerdegegner für den massgebenden Zeitraum alle Ausstände beglichen habe, die Kündigung fristgerecht erfolgt sei und der nachfolgende Versicherer den Versicherungsanschluss bestätigt habe, sei per 1. Januar 2011 ein gültiger Versichererwechsel vollzogen worden.
3.2.
3.2.1. Das kantonale Gericht stützt sich mit seinem Entscheid auf eine Rechtsprechung (vgl. E. 2.3 hievor), welche vor Erlass von Art. 64a KVG erging und sich auf die Leistungssperre bezog. Diese Rechtsprechung wandte es unter Hinweis auf die Auffassung von EUGSTER (a.a.O., S. 442 N. 135) per analogiam auf das Verbot des Versichererwechsels an und verneinte die Zulässigkeit eines Verbots zum Wechsel nicht nur bei Vorliegen eines Verlustscheins, sondern auch bei Verzögerung eines Konkursverfahrens wegen Verwertungsbemühungen des Konkursamtes, sofern der Versicherte alle seit der Konkurseröffnung entstandenen Prämien und Kostenbeteiligungen bezahlt hat.
3.2.2. Ursprünglich waren die Rechtsfolgen bei Zahlungsverzug der Versicherten nicht im KVG (abgesehen von altArt. 88 KVG), sondern in Art. 9 KVV (in der Fassung vom 27. Juni 1995; AS 1995 S. 3867) geregelt. Dieser Verordnungsartikel sah zwei Formen von Verwaltungszwang für die Durchsetzung der Prämienzahlungs- und Kostenbeteiligungspflicht der Versicherten vor: Der in Abs. 2 geregelte Leistungsaufschub bei Ausstellung eines Verlustscheines und das in Abs. 3 enthaltene Verbot des Versichererwechsels. Beide auf Verordnungsstufe geregelten Formen des Verwaltungszwangs erachtete die höchstrichterliche Rechtsprechung als unzulässig. Eine über den Abschluss des Konkursverfahrens hinaus andauernde Leistungssperre wurde mit Art. 265 Abs. 2 SchKG als unvereinbar betrachtet (BGE 109 III 93 E. 1a S. 94; RKUV 2005 Nr. K 961 S. 52; RKUV 2005 KV 322 S. 94 E. 3). Das Verbot des Versichererwechsels war unter dem bis 31. Dezember 2005 gültigen Recht mangels gesetzlicher Grundlage nicht erlaubt (BGE 125 V 266; Urteil K 39/03 vom 29. Dezember 2003 E. 4.3). Für beide Formen des Verwaltungszwangs wurde mit dem neu geschaffenen, am 1. Januar 2006 in Kraft getretenen Art. 64a KVG (BG vom 18. März 2005 [Prämienverbilligung]; AS 2005 3587; BBl 2004 4327) eine gesetzliche Grundlage geschaffen. Nach dem klaren Willen des Gesetzgebers (vgl. E. 2.2 hievor) begrenzt Art. 64a Abs. 4 KVG die Freizügigkeit beim Versichererwechsel (Urteile 9C_660/2007 vom 25. April 2008 E. 3.1, 9C_477/2008 vom 26. August 2008 E. 4.2 und 9C_99/2011 vom 28. Februar 2011, E. 2.1). Angesichts der mit Art. 64a Abs. 4 KVG nunmehr bestehenden Rechtsgrundlage, welche der Gesetzgeber in der Absicht geschaffen hat, bei Prämien- und Kostenbeteiligungsausständen einen Versichererwechsel auszuschliessen, ist die bisherige Rechtsprechung nicht mehr anwendbar. Namentlich steht mit dem Willen des Gesetzgebers in Widerspruch, den Zeitpunkt des zulässigen Versichererwechsels noch vor die Ausstellung des Konkursverlustscheines vorzuverschieben. Anlässlich der Revision von Art. 64a KVG mit Bundesgesetz vom 19. März 2010, in Kraft seit 1. Januar 2012 (AS 2011 3523), hat der Gesetzgeber die Möglichkeit des Leistungsaufschubs stark eingeengt (vgl. Art. 64a Abs. 7 KVG), in Art. 64a Abs. 6 KVG indessen daran festgehalten, dass die säumige versicherte Person in Abweichung von Art. 7 KVG den Versicherer nicht wechseln kann, solange sie die ausstehenden Prämien und Kostenbeteiligungen sowie die Verzugszinse und Betreibungskosten nicht vollständig bezahlt hat. Ob das Verbot des Versichererwechsels auch gilt, wenn ein Konkurs- oder Pfändungsverlustschein vorliegt (vgl. GEBHARD EUGSTER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Krankenversicherung [KVG], Rz. 4 zu Art. 64a, S. 450), kann offenbleiben, da im Zeitpunkt des Einspracheentscheids das Konkursverfahren gegen den Beschwerdegegner noch nicht abgeschlossen war. Immerhin ist darauf hinzuweisen, dass Art. 64a KVG in der Fassung gemäss Ziff. I des BG vom 19. März 2010 eine Kostenbeteiligung der Kantone von 85% bei Vorliegen eines Verlustscheins oder eines gleichwertigen Rechtstitels (Abs. 3 und 4) vorsieht, am Wechselverbot jedoch festhält, solange die versicherte Person säumig ist (Abs. 6).
3.3. Nach dem Gesagten verletzt der kantonale Entscheid Art. 64a Abs. 4 KVG und damit Bundesrecht. Die Höhe der eingeforderten Prämien und der Zinsen hat der Beschwerdegegner im kantonalen Verfahren nicht bestritten. Demzufolge ist der vorinstanzliche Entscheid aufzuheben mit der Folge, dass der Einspracheentscheid vom 1. Februar 2012 wieder in Kraft tritt und damit der in der Betreibung Nr. X des Betreibungsamtes Y.________ vom 8. Dezember 2011 erhobene Rechtsvorschlag als beseitigt gilt.
4.
Die Gerichtskosten werden dem Beschwerdegegner als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs.1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. August 2012 aufgehoben.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 8. Juli 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Der Gerichtsschreiber: Nussbaumer