BGer 8C_225/2013
 
BGer 8C_225/2013 vom 05.09.2013
8C_225/2013 {T 0/2}
 
Urteil vom 5. September 2013
 
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Maillard,
Bundesrichterin Heine,
Gerichtsschreiber Grünvogel.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld,
Beschwerdeführerin,
gegen
S.________,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Erlass; Rückerstattung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
vom 13. Februar 2013.
 
Sachverhalt:
A. Die IV-Stelle Thurgau sprach der 1959 geborenen S.________ mit Verfügung vom 22. Oktober 2008 rückwirkend ab dem 1. Mai 2007 eine ganze Invalidenrente samt Kinderrenten zu. Die Rente wurde auf der Basis eines für massgebend betrachteten durchschnittlichen Jahreseinkommens von Fr. 27'846.- berechnet.
A.a. Mit Schreiben vom 23. November 2008 wies S.________ die IV-Stelle auf die fehlende Berücksichtigung der in den Jahren 1989 bis 2008 erzielten Einkünften aus der Landwirtschaft hin. Daraufhin änderte die IV-Stelle am 23. Januar 2009 die ursprüngliche Verfügung dahingehend ab, als sie die Renten nunmehr auf die Grundlage eines massgeblichen durchschnittlichen Jahreseinkommens von Fr. 80'712.- stellte, korrigierte dies aber mit Verfügung vom 11. September 2009 wegen nachträglich gemeldeter Einkommen erneut und ging alsdann von einem massgeblichen durchschnittlichen Jahresverdienst von Fr. 82'080.- aus.
Im September 2010 bemerkte die IV-Stelle, dass bei den beiden letzten Berechnungen S.________ fälschlicherweise auch Einkommen einer anderen versicherten Person mit gleichem Namen und Jahrgang hinzugerechnet waren. Sie legte die Rentenauszahlungen mit Verfügung vom 11. Februar 2011 neu auf die Basis eines massgeblichen durchschnittlichen Jahreseinkommens von Fr. 29'232.- und forderte für die Zeit vom 1. Mai 2007 bis 18. Februar 2011 Rentenleistungen im Umfang von insgesamt Fr. 109'740.- zurück. Auf Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau hin legte die IV-Stelle mit Verfügung vom 28. November 2011 die Rentenansprüche neu auf der Grundlage eines durchschnittlichen Jahresverdienstes von Fr. 43'152.- fest und reduzierte den Rückerstattungsbetrag auf Fr. 84'272.-.
A.b. Am 13. Februar 2012 ersuchte S.________ die IV-Stelle um Erlass der zwischenzeitig in Rechtskraft erwachsenen Rückerstattungsforderung. Das Gesuch wurde mit Verfügung vom 4. Juli 2012 wegen fehlenden guten Glaubens abgewiesen.
B. Auf Beschwerde hin bejahte das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 13. Februar 2013 den guten Glauben, prüfte als zweite, kumulativ zu erfüllende Erlassvoraussetzung das Vorliegen einer grossen Härte, bejahte diese teilweise und verfügte gestützt darauf den Erlass der Rückerstattungsforderung im Umfang von Fr. 53'302.95.
C. Dagegen führt die IV-Stelle Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
S.________ lässt sich zur Beschwerde nicht vernehmen.
 
Erwägungen:
1. Streitig ist der Erlass der mit rechtskräftiger Verfügung vom 28. No-vember 2011 geforderten Rückerstattung von Fr. 84'272.-.
2. Wie das kantonale Gericht zutreffend dargelegt hat, sind unrechtmässig bezogene Leistungen gemäss Art. 25 Abs. 1 ATSG zurückzuerstatten (Satz 1); wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Satz 2). Nach der Rechtsprechung entfällt der gute Glaube als Erlassvoraussetzung von vornherein, wenn der Rückerstattungstatbestand (Melde- oder Auskunftspflichtverletzung) durch ein arglistiges oder grobfahrlässiges Verhalten herbeigeführt worden ist. Andererseits kann sich die versicherte Person auf den guten Glauben berufen, wenn ihre fehlerhafte Handlung oder Unterlassung nur eine leichte Verletzung der Melde- oder Auskunftspflicht darstellt (BGE 112 V 97 E. 2c S. 103 mit Hinweisen).
3. Gemäss der vor Inkrafttreten des BGG ergangenen und weiterhin gültigen Rechtsprechung ist bei der Frage nach der Gutgläubigkeit beim Leistungsbezug hinsichtlich der Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts zu unterscheiden zwischen dem guten Glauben als fehlendem Unrechtsbewusstsein und der Frage, ob sich jemand unter den gegebenen Umständen auf den guten Glauben berufen kann oder ob er bei zumutbarer Aufmerksamkeit den bestehenden Rechtsmangel hätte erkennen sollen. Die Frage nach dem Unrechtsbewusstsein gehört zum inneren Tatbestand und wird daher als Tatfrage nach Massgabe von Art. 105 Abs. 1 BGG von der Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich beurteilt. Demgegenüber gilt die Frage nach der gebotenen Aufmerksamkeit als frei überprüfbare Rechtsfrage, soweit es darum geht, festzustellen, ob sich jemand angesichts der jeweiligen tatsächlichen Verhältnisse auf den guten Glauben berufen kann (BGE 122 V 221 E. 3 S. 223).
4. Die Vorinstanz bezeichnete die Rentenberechnung als für den Laien nicht ohne weiteres nachvollziehbar und sah im Umstand, dass es sich bei den Rentenberechnungen für die Verfügungen vom 23. Januar und 11. September 2009 bereits um eine Neuberechnung gehandelt hat, "einen gewissen Vertrauensschutz" der Beschwerdegegnerin auf eine nunmehr korrekt erfolgte Berechnung begründet, welche sie von einer nochmaligen Überprüfung derselben im Detail befreien würde; auch habe die Versicherte nicht davon ausgehen müssen, dass die neue Berechnung wiederum einen groben Fehler aufweisen würde; es kämen die zum damaligen Zeitpunkt ausgewiesenen psychischen Probleme dazu, wegen derer die Versicherte ihre damals vorhandene Energie auf die Bewältigung des gewöhnlichen Alltags konzentriert habe, so dass es ihr am Bewusstsein für den ungerechtfertigten Leistungsbezug gefehlt habe.
Die Beschwerdeführerin zieht die Feststellungen der Vorinstanz zum fehlenden Unrechtsbewusststein beim Leistungsbezug nicht in Zweifel, geht indessen davon aus, die Beschwerdegegnerin hätte bei zumutbarer Aufmerksamkeit die Fehlerhaftigkeit der Rentenverfügungen vom 23. Januar und 11. September 2009 erkennen müssen.
4.1. Auch wenn den Rentenverfügungen spezielle Berechnungsblätter beigelegt sind, lässt sich für einen Laien deren Berechnung nur schwerlich im Detail nachvollziehen. Insoweit ist der Vorinstanz zu folgen. Indessen entbindet dies den Verfügungsadressaten nicht, die Verfügung zumindest einer Plausibilitätskontrolle zu unterziehen. Dazu gehört etwa, die in den Berechnungsblättern ausgewiesenen Erwerbseinkommen und das sich daraus ergebende, in der Verfügung direkt angeführte, für die Bestimmung der Rentenhöhe massgebliche Erwerbseinkommen nach offenkundigen Fehlern zu sichten. Einen solchen offenkundigen Irrtum erkannte die Versicherte bei der ersten Verfügung: Auf der Zusammenstellung waren keinerlei Einkünfte aus der Landwirtschaft ausgewiesen, obwohl in den Jahren 1989 bis 2008 ein solches mit der Arbeitslosenkasse abgerechnet worden war.
Zwar konnte die Versicherte ihr Augenmerk bei der Überprüfung der zweiten Verfügung zunächst auf die von ihr bereits beanstandeten Punkte legen. Dabei durfte sie sich aber nicht darauf beschränken, allein zu prüfen, ob neue Einkommen berücksichtigt worden sind. Vielmehr war auch zu fragen, ob das Ergebnis, d.h. das nunmehr für massgeblich erachtete Jahreseinkommen in der Höhe von Fr. 80'712.-, in Berücksichtigung der ungefähren Einkommenssituation in der Landwirtschaft im Vergleich zum ersten von Fr. 27'846.- plausibel erscheine. Gründe, die versicherte Person von einer solchen Prüfungspflicht zu befreien, sind keine ersichtlich. Allein im Umstand, dass es sich bei der zu überprüfenden Verfügung um eine Korrektur eines Berechnungsfehlers wegen fehlender Berücksichtigung von Einkommen aus einer Tätigkeit handelt, ist nichts Derartiges zu erblicken. Ist die Neuberechnung - wie vorliegend - auf Veranlassung der versicherten Person erfolgt, ist gegenteils erst recht zu erwarten, dass diese im Rahmen einer Plausibilitätskontrolle auch prüft, ob ihre Beanstandung nunmehr korrekt umgesetzt erscheint.
4.2. Wie die Verwaltung zutreffend geltend macht, hätten der Versicherten bereits angesichts der Höhe des auf der Hauptseite der Rentenverfügung ausgewiesenen massgeblichen durchschnittlichen Einkommens erhebliche Zweifel an der Richtigkeit der neuen Rentenberechnung aufkommen müssen, lag dieses doch mit Fr. 80'712.- neu rund Fr. 53'000.- höher und damit beinahe dreimal so hoch wie das bisherige, wogegen der tatsächlich abgerechnete Verdienst in der Landwirtschaft all die Jahre zwischen Fr. 7'623.- bis Fr. 26'400.- geschwankt hat. Zwar darf und durfte nicht erwartet werden, dass die Versicherte ihre Einkommenssituation in allen Einzelheiten in Erinnerung hat und hatte. Bei einer derart hohen Abweichung ist aber bei allem Verständnis für die von ihr dargelegte, im kantonalen Entscheid wiedergegebene Lebenssituation davon auszugehen, dass sich bei gebotener Aufmerksamkeit Fragen zur Rechtmässigkeit des neu von der Verwaltung eingesetzten Durchschnittswertes hätten auftauchen müssen. Zur gebotenen Aufmerksamkeit gehört auch, sich ein grobes Bild über seine ungefähren Einkommensverhältnisse aus der Landwirtschaft zu verschaffen, falls dies nicht ohnehin schon geschehen sein sollte. Alsdann hätte es an ihr gelegen, entweder dazu direkt die Verwaltung zu kontaktieren oder aber zunächst noch auf den in den Beiblättern zur Anrechnung aufgeführten Einkommen die Antwort zu finden. Dass sie dazu aus gesundheitlichen Gründen bei zumutbarer Willensanstrengung nicht in die Lage versetzt gewesen wäre, ist nicht erstellt. Allenfalls hätte sie auch jemanden zur Hilfe beiziehen können. Eine einfache Überprüfung der auf den Beiblättern aufgeführten Einkommen hätte eine augenfällige Diskrepanz zur tatsächlichen wirtschaftlichen Situation der Beschwerdegegnerin und damit zur Fehlerhaftigkeit der Verfügung offengelegt: So wird etwa für das Jahr 2006 ein Einkommenstotal von Fr. 103'920.- angeführt.
4.3. Dadurch, dass die Versicherte die neue Rentenverfügung nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit überprüft hatte, hat sie den für sie leicht erkennbaren Mangel übersehen und es damit auch unterlassen, die Verwaltung darauf hinzuweisen. Dieses Fehlverhalten kann nicht als leichte Nachlässigkeit gewertet werden.
5. Kann sich die Beschwerdegegnerin unter den gegebenen Umständen nicht auf den guten Glauben berufen, entfällt die Erlassmöglichkeit ungeachtet dessen, ob die Rückerstattungsforderung zu einer grossen Härte führt oder nicht. Die Beschwerde ist gutzuheissen.
6. Die Gerichtskosten sind ausgangsgemäss der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66. Abs. 1 BGG). Der Verwaltung wird in Nachachtung von Art. 68 Abs. 3 BGG trotz des Obsiegens keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 13. Februar 2013 wird aufgehoben.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau zurückgewiesen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 5. September 2013
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Leuzinger
Der Gerichtsschreiber: Grünvogel