BGer 9C_287/2013
 
BGer 9C_287/2013 vom 08.11.2013
{T 0/2}
9C_287/2013
 
Urteil vom 8. November 2013
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
Gerichtsschreiber Furrer.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle Basel-Stadt, Lange Gasse 7, 4052 Basel,
Beschwerdeführerin,
gegen
C.________,
vertreten durch Advokat Stephan Müller,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 4. Februar 2013.
 
Sachverhalt:
A. Die 1971 geborene C.________ absolvierte im April 1992 eine Lehre als Fotolithografin. 1994 wanderte sie nach M.________ aus, wo sie heiratete und zwei Söhne gebar (Jahrgänge 1998 und 1999). Ende Dezember 2001 kehrte sie zusammen mit ihrer Familie in die Schweiz zurück. Im März 2004 trennten sich die Eheleute und am 5. Februar 2008 wurde die Ehe geschieden.
C.________ meldete sich am 5. November 2009 bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Basel-Stadt führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch, namentlich veranlasste sie eine polydisziplinäre Begutachtung durch die A.________, Spital X._______ (Gutachten vom 18. November 2010 und 17. Februar 2012) und ordnete eine Abklärung der Verhältnisse im Haushalt an (Bericht vom 6. Mai 2011, Stellungnahme vom 27. März 2012). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 3. August 2012 einen Rentenanspruch, ausgehend von einem Erwerbsanteil von 84 %, einem Haushaltsanteil von 16 % und einem Invaliditätsgrad von 36 %.
B. In Gutheissung der hiegegen von C.________ erhobenen Beschwerde hob das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt mit Entscheid vom 4. Februar 2013 die Verfügung vom 3. August 2012 auf und sprach C.________ rückwirkend ab 1. November 2010 eine halbe, ab 1. Februar 2011 eine ganze und ab 1. Mai 2012 wiederum eine halbe Rente zu.
C. Die IV-Stelle erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und der Anspruch auf eine Invalidenrente zu verneinen. In verfahrensrechtlicher Hinsicht ersucht die IV-Stelle um aufschiebende Wirkung ihrer Beschwerde.
Die Beschwerdegegnerin und das kantonale Gericht schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Gleichzeitig ersucht die Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
D. Mit Verfügung vom 12. Juli 2013 wurde der Beschwerde die aufschiebende Wirkung erteilt.
 
Erwägungen:
1. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Vorinstanz den Anspruch auf eine Invalidenrente zu Recht bejaht hat und in diesem Zusammenhang nur mehr, in welchem Umfang die Beschwerdegegnerin ohne Gesundheitsschaden erwerbstätig wäre.
2.2. Ob und gegebenenfalls in welchem zeitlichen Umfang eine in einem Aufgabenbereich tätige versicherte Person (Art. 5 Abs. 1 IVG in Verbindung mit Art. 8 Abs. 3 ATSG) ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erwerbstätig wäre (Statusfrage), ergibt sich aus der Prüfung, was sie bei im Übrigen unveränderten Umständen täte, wenn keine gesundheitliche Beeinträchtigung bestünde. Entscheidend ist somit nicht, welches Ausmass der Erwerbstätigkeit der versicherten Person im Gesundheitsfall zugemutet werden könnte, sondern in welchem Pensum sie hypothetisch erwerbstätig wäre (BGE 133 V 504 E. 3.3 S. 507; Urteil 9C_49/2008 vom 28. Juli 2008 E. 3.3; je mit Hinweisen). Bei im Haushalt tätigen Versicherten im Besonderen (vgl. Art. 27 IVV) sind die persönlichen, familiären, sozialen und erwerblichen Verhältnisse ebenso wie allfällige Erziehungs- und Betreuungsaufgaben gegenüber Kindern, das Alter, die beruflichen Fähigkeiten und die Ausbildung sowie die persönlichen Neigungen und Begabungen zu berücksichtigen. Massgebend sind die Verhältnisse, wie sie sich bis zum Erlass der Verfügung entwickelt haben, wobei für die hypothetische Annahme einer im Gesundheitsfall ausgeübten (Teil-) Erwerbstätigkeit der im Sozialversicherungsrecht übliche Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erforderlich ist (BGE 137 V 334 E. 3.2 S. 338; 130 V 393 E. 3.3 S. 396; 125 V 146 E. 2c S. 150; je mit Hinweisen).
 
3.
3.1. Das kantonale Gericht hat zur Statusfrage erwogen, die Beschwerdegegnerin sei bei der Haushaltabklärung mit der Frage nach ihrer hypothetischen Erwerbstätigkeit im Gesundheitsfall überfordert gewesen, weshalb die IV-Stelle zu Recht allein auf objektive Umstände abgestellt habe. Es sei unbestritten, dass die geschiedene und von der Fürsorge abhängige Beschwerdegegnerin als Gesunde mindestens zur Bestreitung des Existenzbedarfs ihrer dreiköpfigen Familie erwerbstätig sein müsste. Das Alter der Söhne - im Zeitpunkt der IV-Anmeldung 10- bzw. knapp 12-jährig - würde eine Fremdbetreuung zulassen. Gestützt auf die Angaben der Budgetberatung habe die IV-Stelle den Existenzbedarf auf Fr. 3'750.- veranschlagt und ausgehend von den Tabellenlöhnen der vom Bundesamt für Statistik herausgegebenen Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) ein für die Deckung des Existenzbedarfs notwendiges Pensum von 84 % errechnet. Dabei habe sie verkannt, dass es sich bei den Tabellenlöhnen um Bruttolöhne handle. Unter Berücksichtigung der Sozialabzüge wäre für die Deckung des Existenzbedarfs ein Pensum von 96 % notwendig. Da ein solches kaum angeboten werden dürfte, sei überwiegend wahrscheinlich, dass die Beschwerdegegnerin als Gesunde ab November 2009 vollerwerbstätig gewesen wäre. Hinweise dafür, dass sie sich aus freien Stücken dauerhaft mit einem Einkommen am Rande des Existenzminimums begnügt hätte, ergäben sich aus ihrer Erwerbsbiografie nicht. Dass sie in der Vergangenheit so gelebt habe, sei auf die schon bis in die frühe Jugend zurückreichende Drogensucht (mit vorübergehender Auswanderung nach M.________), die Kinderbetreuung und die nachfolgend in den Vordergrund getretenen gesundheitlichen Beschwerden zurückzuführen.
3.2. Die Beschwerdeführerin wirft dem kantonalen Gericht eine Verletzung von Bundesrecht vor, weil es von der allgemeinen Bemessungsmethode ausgegangen sei und den Untersuchungsgrundsatz verletzt habe. Sie macht geltend, die Vorinstanz habe die Statusfrage allein aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung mit Hilfe eines Budgets für den typischen Mindestbedarf einer Familie beantwortet. Damit sei nur der finanzielle Aspekt beachtet worden, welcher nicht alleine ausschlaggebend sei für die Ermittlung des Status. Bei der Beurteilung, ob die Beschwerdegegnerin sich mit einem Finanzbedarf am Rande des Existenzminimums begnügt hätte, dürfe ihre Drogensucht sowie die Zeit im Ausland nicht weggedacht werden. Seit 1992 sei sie nie mehr einer relevanten Erwerbstätigkeit nachgegangen, weder in M.________, noch in der Schweiz. Die Aufgabenteilung in der Familie habe der klassischen Form mit dem Ehemann als Ernährer entsprochen. Auch nach der Trennung im Jahr 2004 habe sie keine Erwerbstätigkeit aufgenommen. Demnach bestünden diverse Indizien gegen die Aufnahme einer vollen Erwerbstätigkeit, und die Annahme einer Erwerbstätigkeit im Umfang von 84 % erscheine bereits sehr grosszügig.
3.3. Das kantonale Gericht hält vernehmlassungsweise fest, es sei zutreffend, dass die Beschwerdegegnerin nie ein grösseres Erwerbseinkommen erzielt habe. Dies lasse sich aber mit ihrer früheren Drogensucht und der Betreuung der kleinen Kinder erklären. Beide Gründe lägen heute nicht mehr vor.
3.4. Die Beschwerdegegnerin führt aus, die Behauptung der Beschwerdeführerin, sie sei seit 1992 nie mehr einer relevanten Erwerbstätigkeit nachgegangen, sei offensichtlich falsch, zumal sie doch am 11. Juni 2007 mit der Aufnahme einer Tätigkeit bei der T.________ AG ins Erwerbsleben zurückgekehrt sei, bevor sie am 30. Juli 2007 einen Unfall erlitten habe.
3.5. Bei der Bestimmung der im konkreten Fall anwendbaren Invaliditätsbemessungsmethode und damit der Beantwortung der entscheidenden Statusfrage handelt es sich um eine hypothetische Beurteilung, die auch hypothetische Willensentscheidungen der versicherten Person berücksichtigen muss. Diese sind indessen als innere Tatsachen einer direkten Beweisführung nicht zugänglich und müssen in aller Regel aus äusseren Indizien erschlossen werden. Die Beurteilung hypothetischer Geschehensabläufe ist eine Tatfrage, soweit sie auf Beweiswürdigung beruht, selbst wenn darin auch Schlussfolgerungen aus der allgemeinen Lebenserfahrung mitberücksichtigt werden (BGE 115 II 440 E. 5b S. 448; Urteil 9C_559/2009 vom 18. Dezember 2009 E. 3, in: SVR 2010 IV Nr. 35 S. 111). Die auf einer Würdigung konkreter Umstände basierende Festsetzung des hypothetischen Umfanges der Erwerbstätigkeit ist für das Bundesgericht daher verbindlich, ausser wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung beruht. Rechtsfragen sind hingegen Folgerungen, die ausschliesslich - losgelöst vom konkreten Sachverhalt - auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützt werden oder die Frage, ob aus festgestellten Indizien mit Recht auf bestimmte Rechtsfolgen geschlossen worden ist (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_112/2011 vom 5. August 2011 E. 3).
 
4.
4.1. Grundsätzlich zu Recht macht die Beschwerdeführerin geltend, der wirtschaftlichen Notwendigkeit des Ausmasses der Erwerbstätigkeit allein könne keine entscheidende Bedeutung zukommen ( ULRICH MEYER, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung [IVG], 2. Aufl. 2010, S. 288). Soweit sie jedoch rügt, die Vorinstanz habe die Statusfrage ausschliesslich aufgrund der allgemeinen Lebenserfahrung mit Hilfe einer Berechnung des Existenzbedarfs beantwortet, dringt sie nicht durch. Das kantonale Gericht hat den konkreten Sachverhalt durchaus in seine Prüfung miteinbezogen und zumindest hinreichend gewürdigt, auch wenn die Begründung etwas kurz ausgefallen ist. Die konkreten Verhältnisse der Beschwerdegegnerin hat es namentlich insoweit gewürdigt, als es sich mit dem Alter der Söhne respektive den Möglichkeiten der (Fremd-) Betreuung im Falle der Vollerwerbstätigkeit auseinandergesetzt hat. Weiter hat es - entgegen der Beschwerdeführerin - nicht verkannt, dass die Beschwerdegegnerin lange Zeit am Rande des Existenzminimums gelebt hat (IK-Auszug vom 19. November 2009; Abklärungsbericht Haushalt vom 6. Mai 2011). Dies hat die Vorinstanz indes nicht als Ausdruck einer "bewussten Lebensentscheidung" gewertet, sondern als Folge der zu dieser Zeit bestehenden Lebensumstände wie dem Auslandaufenthalt, dem Betreuungsaufwand der zwei kleinen Kinder und vor allem der bis in die frühe Jugend zurückreichende Drogensucht. Vernehmlassungsweise hat sie ergänzt, diese Umstände lägen im massgebenden Zeitraum nicht mehr vor. Ist die Folgerung der Vorinstanz somit nicht losgelöst vom konkreten Sachverhalt auf die allgemeine Lebenserfahrung gestützt worden, handelt es sich bei der Statusfestlegung nicht um eine frei prüfbare Rechtsfrage, sondern um eine Tatfrage (E. 3.5), die das Bundesgericht seiner Urteilsfindung grundsätzlich zugrunde zu legen hat (E. 1).
4.2. Sodann bringt die Beschwerdeführerin nichts vor, was die Feststellungen der Vorinstanz als bundesrechtswidrig erscheinen liesse. Insbesondere ist eine Beweiswürdigung nicht bereits dann willkürlich, wenn eine andere Lösung ebenfalls vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, sondern erst dann, wenn der Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, zur tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht oder auf einem offenkundigen Fehler beruht (BGE 135 V 2 E. 1.3 S. 4 f.). Solches vermag die Beschwerdeführerin nicht darzutun. Zu Recht hat die Vorinstanz berücksichtigt, dass die Beschwerdegegnerin im Jahr 2004 einen Drogenentzug prästiert (Gutachten vom 17. Februar 2012 S. 13 f.) und sich der Betreuungsaufwand der (schulpflichtigen) Kinder vermindert hat (welche im Übrigen das Mittagessen teilweise beim Vater einnahmen und auch Wochenenden bei ihm verbrachten; Abklärungsbericht vom 6. Mai 2011 Ziff. 2b). Zu berücksichtigen ist auch, dass die Beschwerdegegnerin mit der Aufnahme der Teilzeitstelle im Jahr 2007 den Willen zum Wiedereinstieg in das Berufsleben zum Ausdruck gebracht hat. Unter diesen Umständen ist die vorinstanzliche Annahme einer Vollerwerbstätigkeit im Gesundheitsfall weder willkürlich noch sonstwie bundesrechtswidrig.
4.3. Nach dem Gesagten hat es bei der Festlegung des Status durch die Vorinstanz sein Bewenden. Die Invaliditätsbemessung ist weiter nicht bestritten. Es besteht kein Anlass zu einer näheren Prüfung.
5. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend wird die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.- zu entschädigen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 8. November 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Der Gerichtsschreiber: Furrer