Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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{T 0/2}
9C_785/2013
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Urteil vom 4. Dezember 2013
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Kernen, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Traub.
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
L.________, vertreten durch
Rechtsanwalt lic.iur. Urs Müller,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 24. September 2013.
Sachverhalt:
A.
A.a. Die 1972 geborene L.________ arbeitete bis Ende Juli 2009 und teilzeitlich wieder ab Januar 2012 als Produktionsmitarbeiterin in einer Stickerei. Sie leidet an einem chronischen Zervikalsyndrom und residuellen zervikoradikulären Syndrom C6 links (unter anderem aufgrund einer Diskushernie C6/7), an einer chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren sowie möglicherweise an einem Impingement der rechten Schulter (enger Subakromialraum bei Akromionhypertrophie; Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle [MEDAS] vom 20. Juni 2011). Gestützt auf medizinische und erwerbsbezogene Abklärungen lehnte die IV-Stelle des Kantons St. Gallen es ab, Rentenleistungen (Verfügung vom 17. Februar 2010) oder berufliche Massnahmen (Verfügung vom 11. März 2010) zu erbringen.
A.b. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hob die Verfügungen vom 17. Februar 2010 und 11. März 2010 auf und wies die Sache zur ergänzenden medizinischen Abklärung an die Verwaltung zurück (Entscheid vom 8. September 2010). Diese liess die Versicherte bei der MEDAS begutachten (oben erwähnte Expertise vom 20. Juni 2011, ergänzende Berichte vom 23. August und 13. Oktober 2011). Der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) der Invalidenversicherung erachtete die Schlussfolgerung der Administrativgutachter, L.________ sei in einer an ihre verminderte Belastbarkeit angepassten Tätigkeit zu 50 Prozent arbeitsfähig (zu vier bis viereinhalb Arbeitsstunden täglich), als nicht nachvollziehbar (Stellungnahme vom 11. November 2011). Der RAD nahm an, L.________ sei in einer leichten bis mittelschweren wechselbelastenden Tätigkeit, deren Anforderungen unter verschiedenen Aspekten auf die funktionellen Einschränkungen abgestimmt sind, vollständig arbeitsfähig.
Ausgehend hievon verneinte die IV-Stelle abermals einen Anspruch auf Rentenleistungen; der Invaliditätsgrad liege bei null Prozent (Verfügung vom 19. Juni 2012). Bereits zuvor hatte sie - unter Hinweis auf die zu 50 Prozent beim angestammten Arbeitgeber versehene Tätigkeit, über welches Pensum die Versicherte nicht hinausgehen wolle - berufliche Massnahmen abgelehnt (Mitteilung vom 23. Februar 2012).
B.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hiess die gegen die Verfügung vom 19. Juni 2012 erhobene Beschwerde gut; es sprach L.________ mit Wirkung ab November 2009 eine halbe Invalidenrente zu (Entscheid vom 24. September 2013).
C.
Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.
Erwägungen:
1.
1.1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, wie ihn die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
1.2. Somit steht dem vorinstanzlichen Sachgericht im Bereich der Beweiswürdigung ein erheblicher Ermessensspielraum zu. Das Bundesgericht greift auf Beschwerde hin nur ein, wenn die Vorinstanz diesen missbraucht, insbesondere offensichtlich unhaltbare Schlüsse zieht, erhebliche Beweise übersieht oder willkürlich ausser Acht lässt (BGE 132 III 209 E. 2.1 S. 211; zum Begriff der Willkür BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5; Urteil 9C_1019/2012 vom 23. August 2013 E. 1.2.3).
1.3. Im Rahmen der Anfechtung vorinstanzlicher Sachverhaltsfeststellungen muss substanziiert dargelegt werden, inwiefern die Voraussetzungen für eine Ausnahme gemäss Art. 105 Abs. 2 BGG gegeben sind und das Verfahren bei bundesrechtskonformer Ermittlung des Sachverhalts anders ausgegangen wäre. Andernfalls kann ein Sachverhalt, der vom im angefochtenen Entscheid festgestellten abweicht, nicht berücksichtigt werden (BGE 134 I 65 E. 1.5 S. 68). Die beschwerdeführende Partei kann sich also nicht damit begnügen, den bestrittenen Feststellungen eigene tatsächliche Behauptungen gegenüberzustellen oder darzulegen, wie die Beweise ihrer Ansicht nach zu würdigen gewesen wären. Vielmehr hat sie klar und substantiiert aufzuzeigen, inwiefern die gerügten Feststellungen (oder deren Unterlassung) offensichtlich unrichtig sind oder auf einer Rechtsverletzung beruhen (vgl. BGE 133 III 462 E. 2.4 S. 466; Urteil 4A_280/2013 vom 20. September 2013 E. 2).
2.
Das kantonale Gericht setzte sich mit Einwendungen des RAD gegen die Feststellungen und Schlussfolgerungen der MEDAS auseinander. Die Diagnosestellung biete keinen Anlass, am Beweiswert des Gutachtens zu zweifeln (E. 2.3). Ebensowenig könne davon die Rede sein, ein organisches Korrelat für die Beschwerden sei kaum nachweisbar. Der rheumatologische Teilgutachter habe deutlich gemacht, dass ein Zervikalsyndrom mit sekundärem myofaszialem Syndrom durchaus ein klinisch definierbares Substrat darstelle. Er habe einerseits das chronische Zervikalsyndrom und anderseits die mögliche Schulterbeeinträchtigung (Impingement rechts) als einschränkend eingestuft. Die linksbetonte neuropathische Schmerzsymptomatik werde durch die zervikothorakale Fehlform (Kyphose) mit assoziiertem lokalisiertem Fibromyalgiesyndrom verkompliziert; sie vermindere die Belastbarkeit von Schultergürtel und Nacken und den linksseitigen Faustschluss. Nachvollziehbar sei auch die Auffassung des Rheumatologen, das Zusammentreffen von Impingement und Zervikobrachialgien verschlechtere die Prognose deutlich. Was die Fibromyalgie angehe, habe der rheumatologische Sachverständige ausgeführt, dass mehrere Hinweise für eine fassbare Willensanstrengung der Versicherten vorlägen; diese habe die Berufstätigkeit trotz anhaltend symptomatischer Diskushernie in den Jahren 2009 und 2010 wiederaufgenommen und diszipliniert eine Physiotherapie beansprucht, was zu einer subjektiven Besserung geführt habe. Hinsichtlich dieser Befunde seien die Darlegungen des rheumatologischen Gutachters überzeugender als die auf einer blossen Würdigung der Akten beruhenden Einwände des RAD (E. 2.5). Weiter zog die Vorinstanz in Betracht, dass der psychiatrische Experte neben der diagnostizierten chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren keine relevanten soziokulturellen Belastungsfaktoren ausgemacht habe; eine umfangreiche Veränderung der Lebenssituation durch den Krankheitsprozess, die Schmerzen und deren Verarbeitung lasse selbst unter optimalen Bedingungen keine vollumfängliche Berufstätigkeit mehr zu (E. 2.6). Die polydisziplinäre Beurteilung der MEDAS sei begründet; abweichende ärztliche Einschätzungen stellten den Beweiswert der gutachtlichen Einschätzung, die Arbeitsunfähigkeit betrage in angepassten Arbeiten 50 Prozent, nicht in Frage (E. 2.7). Erwerblich gewichtet führe dies zu einem Invaliditätsgrad von rund 52 Prozent (E. 3). Die Beschwerdeführerin habe mit Wirkung ab November 2009 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente (E. 4 und 5.1).
3.
Die Vorinstanz hat das Administrativgutachten gewürdigt und befunden, dessen Beweiswert sei demjenigen der abweichenden Beurteilung des RAD überlegen. Darauf abstellend hat sie festgestellt, die organischen (durch den Rheumatologen erhobenen) Befunde führten zusammen mit einem (auch) psychisch zu verortenden Schmerzsyndrom zu einer hälftigen Arbeitsunfähigkeit. An diese Feststellung (zur Qualifizierung als Tatfrage: BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.) ist das Bundesgericht grundsätzlich gebunden (oben E. 1.1/2).
3.1. Was die vorinstanzlichen Feststellungen über den somatischen Gesundheitszustand und seiner funktionellen Folgen anbelangt, referiert die beschwerdeführende IV-Stelle einzig die schon im kantonalen Beschwerdeverfahren angeführte abweichende Meinung des RAD (Ziff. 2 und 3 der letztinstanzlichen Beschwerdeschrift; vgl. die Stellungnahme des RAD vom 11. November 2011). Damit stellt sie den beanstandeten vorinstanzlichen Feststellungen lediglich ihr eigenes Verständnis des medizinischen Sachverhalts gegenüber, ohne sich mit jenen inhaltlich auseinanderzusetzen. Solche Ausführungen vermögen die Bindung des Bundesgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen nicht in Frage zu stellen (vgl. oben E. 1.3).
3.2. Hinsichtlich der psychischen Komponente des Beschwerdebildes bringt die Beschwerdeführerin vor, die Vorinstanz übernehme blind die an sich eine Rechtsfrage betreffende "falsche Einschätzung des psychiatrischen Gutachters über das Vorhandensein der Försterkriterien" (Ziff. 6). So habe der vorinstanzlich angenommene mehrjährige, chronifizierte Krankheitsverlauf mit unveränderter oder progredienter Symptomatik ohne längerdauernde Rückbildung keine medizinische Grundlage (zu den Morbiditätskriterien: BGE 137 V 64 E. 4.1 S. 67 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 131 V 49 S. 51). Dabei stützt sich die Beschwerdeführerin auf die Beurteilung des
neurologischen Teilgutachters. Aus dem angefochtenen Entscheid ergibt sich indes, dass das betreffende Erkenntnis im Wesentlichen auf der Feststellung beruht, die Darlegungen des
rheumatologischen Gutachters seien "überzeugender als die auf einer blossen Würdigung der Akten ohne Exploration der Beschwerdeführerin vorgebrachten Einwände des RAD" (E. 2.6 in Verbindung mit E. 2.5 a.E.). Es wird nicht ersichtlich, inwiefern die rechtliche Würdigung der Vorinstanz (vgl. BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 66) diesbezüglich auf einer offensichtlich unrichtigen Sachverhaltsgrundlage beruhen sollte.
Sodann macht die Beschwerdeführerin geltend, das weitere Kriterium eines sozialen Rückzugs in allen Belangen des Lebens sei offenkundig nicht gegeben, zumal die familiären Beziehungen intakt seien, die Versicherte die öffentlichen Verkehrsmittel benutze und sie weiterhin teilweise erwerbstätig sei. Dieser Einwand wird den tatsächlichen Voraussetzungen des vorliegenden Falls offenkundig nicht gerecht: Ein sozialer Rückzug ist stets ins Verhältnis zur geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit zu setzen. Denn das Kriterium zielt auf die Frage ab, ob die Aktivitätenniveaus im erwerblichen und im aussererwerblichen Bereich miteinander vereinbar sind. Folglich kann im Falle der zu 50 Prozent teilerwerbstätigen Beschwerdegegnerin nicht allein ein
totaler sozialer Rückzug eine Arbeitsunfähigkeit im komplementären Umfang erhärten (Urteil 9C_148/2012 vom 17. September 2012 E. 2.2.4 = SVR 2013 IV Nr. 6 S. 13).
Die vorinstanzliche Würdigung der psychiatrischen Einschätzung der MEDAS als beweiswertig - und die Bestätigung ihrer Schlussfolgerung über die Arbeitsfähigkeit aus rechtlicher Sicht - ist umso weniger willkürlich, als das kantonale Gericht zusätzlich darauf abgestellt hat, dass der psychiatrische Experte neben der diagnostizierten chronischen Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren keine relevanten soziokulturellen Belastungsfaktoren fand und seine Beurteilung auch auf den Umstand stützte, dass die Versicherte "ihren ernsthaften Willen und ihr umfangreiches Bemühen um eine möglichst weitgehende Erhaltung der Arbeitsfähigkeit unter Beweis gestellt" habe (E. 2.6 des angefochtenen Entscheids).
3.3. Im Zusammenhang mit der Rechtsfrage, ob die einschlägigen Kriterien in genügender Intensität und Konstanz vorliegen, um gesamthaft den Schluss auf eine invalidisierende Gesundheitsschädigung zu erlauben (BGE 137 V 64 E. 1.2 S. 66), ist namentlich auch zu beachten, dass die Gutachter bereits aus dem rheumatologischen Befund eine hälftige Arbeitsunfähigkeit herleiten (MEDAS-Expertise S. 16 ff.); die beanstandete psychiatrische Einschätzung bestätigt mithin die massgebende Beeinträchtigung des Leistungsvermögens bloss. Unter diesen Umständen verstösst die vorinstanzliche Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit von 50 Prozent nicht gegen Bundesrecht.
3.4. Augenfällige Anhaltspunkte für eine anderweitig rechtswidrige Bemessung des Invaliditätsgrades bestehen nicht (vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254; 110 V 48 E. 4a S. 53). Die Vorinstanz hat somit insgesamt kein Bundesrecht verletzt, als sie einen mit Wirkung ab November 2009 bestehenden Anspruch auf eine halbe Invalidenrente bejahte.
4.
Das Gesuch der Beschwerdeführerin um aufschiebende Wirkung der Beschwerde wird mit diesem Entscheid gegenstandslos.
5.
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. Dezember 2013
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Kernen
Der Gerichtsschreiber: Traub