BGer 1B_444/2013
 
BGer 1B_444/2013 vom 31.01.2014
{T 0/2}
1B_444/2013
 
Urteil vom 31. Januar 2014
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
Gerichtsschreiber Störi.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Spörli,
gegen
Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten.
Gegenstand
unentgeltliche Verteidigung im Strafverfahren,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, vom 5. November 2013.
 
Sachverhalt:
A. Die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten führt gegen X.________ gestützt auf einen Rapport der Kantonspolizei Aargau ein Strafverfahren. Danach hat sie X.________ am 7. Februar 2012 beim Bahnhof A.________ in B.________ gestellt, als er, ohne im Besitz eines Führerausweises zu sein, einen nicht eingelösten Personenwagen lenkte. Bei der Einvernahme habe X.________ zudem zugegeben, gelegentlich Cannabis konsumiert zu haben.
Am 17. Juli 2012 ersuchte X.________ die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten, ihm Rechtsanwalt Thomas Spörli, Zürich, als notwendigen amtlichen Verteidiger beizugeben.
Am 23. September 2013 wies die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten das Gesuch ab. Sie erwog, es seien weder die Voraussetzungen von Art. 130 StPO für eine notwendige Verteidigung noch diejenigen von Art. 132 StPO für eine amtliche Verteidigung erfüllt.
Am 5. November 2013 wies das Obergericht des Kantons Aargau die Beschwerde von X.________ gegen diese Verfügung der Staatsanwaltschaft ab.
B. Mit Beschwerde in Strafsachen vom 13. Dezember 2013 beantragt X.________, diesen Entscheid des Obergerichts aufzuheben und ihm Rechtsanwalt Spörli mit Wirkung ab dem 17. Juli 2012 als notwendigen oder eventuell als amtlichen Verteidiger beizugeben. Subeventuell sei die Sache ans Obergericht zu neuer Beurteilung zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
C. Das Obergericht verzichtet auf Vernehmlassung. Die Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten beantragt, die Beschwerde abzuweisen.
 
Erwägungen:
1. Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid, mit dem das Obergericht die Ablehnung des Gesuchs des Beschuldigten um Einsetzung eines amtlichen Verteidigers schützte; dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen zulässig (Art. 78 Abs. 1, Art. 80 BGG). Er schliesst das Verfahren indessen nicht ab; es handelt sich mithin um einen Zwischenentscheid, gegen den die Beschwerde nach Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil rechtlicher Natur (BGE 133 IV 139 E. 4) bewirken könnte. Das ist bei der Verweigerung der amtlichen Verteidigung der Fall (BGE 133 IV 335 E. 4 mit Hinweisen; Urteil 1B_436/2011 vom 21. September 2011, E. 1). Der Beschwerdeführerin, der im Strafverfahren beschuldigt wird und dessen Gesuch um amtliche Verteidigung abgewiesen wurde, ist zur Beschwerde befugt (Art. 81 Abs. 1 BGG). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
 
2.
2.1. Ein Beschuldigter muss unter anderem dann notwendig verteidigt werden, wenn ihm eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr droht (Art. 130 lit. b StPO). Mitzuberücksichtigen ist dabei ein drohender Widerruf bedingt ausgefällter Freiheitsstrafen (BGE 129 I 281 E. 4.1; Urteil 6B_411/2011 vom 20. September 2011 E. 1.4.2).
2.1.1. Nach der Auffassung des Obergerichts (E. 2.2.2.3 S. 6 f.), das sich dabei auf zwei Lehrmeinungen stützt (Niklaus Ruckstuhl, in: Niggli/Heer/Wiprächtiger, Basler Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2011, N. 18 zu Art. 130; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar, 2011, N. 7 f. zu Art. 130. Die übrigen Kommentatoren äussern sich zu dieser Frage, soweit ersichtlich, nicht.), ist in analoger Anwendung von Art. 352 Abs. 3 StPO auch die Widerrufsmöglichkeit bedingter Geldstrafen nach Massgabe der Umrechnungssätze von Art. 36 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 2 StGB zu berücksichtigten. Die beiden Autoren begründen ihre Auffassung allerdings nicht näher, und der Verweis von Ruckstuhl auf die Botschaft (BBl 2006 S. 1180) ist nicht schlüssig. An dieser Stelle wird nur aufgeführt, von welchen Kriterien sich der Gesetzgeber bei der Bestimmung des Begriffs des Bagatellfalls, in welchem keine amtliche Verteidigung gewährt wird, leiten liess.
2.1.2. Die vorinstanzliche Auslegung ist keineswegs zwingend. Strafbefehlsverfahren sind zulässig, wenn die Staatsanwaltschaft unter Einrechnung einer allfällig zu widerrufenden bedingten Strafe oder bedingten Entlassung eine Busse, eine Geldstrafe von höchstens 180 Tagessätzen, gemeinnützige Arbeit von höchstens 720 Stunden oder eine Freiheitsstrafe von höchstens 6 Monaten für ausreichend hält (Art. 352 Abs. 1 StGB). Abs. 3 bestimmt, dass im Strafbefehlsverfahren Geldstrafe, gemeinnütziger Arbeit und Freiheitsstrafe verbunden werden können, sofern die ausgesprochene Strafe insgesamt einer Freiheitsstrafe von höchstens 6 Monaten entspricht. Für die Umschreibung des Anwendungsbereichs des Strafbefehlsverfahrens schreibt somit der Gesetzgeber die Umrechnung von Geldstrafe und gemeinnütziger Arbeit in Freiheitsstrafe nach den erwähnten Umrechnungssätzen von Art. 36 Abs. 1 und Art. 39 Abs. 2 StGB ausdrücklich vor.
Wenn der Gesetzgeber Freiheitsstrafe, Geldstrafe und gemeinnützige Arbeit auch in Bezug auf die notwendige Verteidigung hätte gleichstellen wollen, hätte er dies durch eine entsprechende Formulierung von Art. 130 lit. b StPO leicht tun können. Er tat dies nicht, und ob es sich dabei um eine versehentliche Unterlassung handelt, ist fraglich. Es erscheint jedenfalls durchaus plausibel, dass er die notwendige Verteidigung nur die für schwerste Sanktionsart, die Freiheitsstrafe, nicht aber für Geldstrafen - auch nicht für hohe - vorsehen wollte. Folgte man der Meinung der erwähnten Autoren und des Obergerichts, müssten konsequenterweise auch Ersttäter notwendig verteidigt werden, denen eine mit einer Geldstrafe verbundene Freiheitsstrafe droht, wenn der Freiheitsentzug und die Anzahl der Tagessätze zusammengerechnet ein Jahr übersteigen. Für eine solche extensive Auslegung von Art. 130 lit. b StPO über den Wortlaut hinaus besteht kein Anlass, denn die weiteren Kriterien für die Annahme notwendiger Verteidigung - Art. 130 lit. a und c - e StPO - bieten ausreichend Gewähr dafür, dass ein Beschuldigter auch in einem minder schweren Straffall verteidigt wird, wenn dies zur Wahrung seiner Verteidigungsrechte geboten ist.
2.2. Liegt kein Fall notwendiger Verteidigung vor, ist eine amtliche Verteidigung anzuordnen, wenn eine Verteidigung zur Wahrung der Interessen des Beschuldigten geboten ist, weil der Straffall in rechtlicher oder tatsächlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, denen der Beschuldigte allein nicht gewachsen wäre und er nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, sich privat vertreten zu lassen. Kein Anspruch auf amtliche Verteidigung besteht in einem Bagatellfall (Art. 132 Abs. 1 lit. b und Abs. 2 StPO). Ein solcher liegt jedenfalls dann nicht mehr vor, wenn eine Freiheitsstrafe von über 4 Monaten, eine Geldstrafe von über 120 Tagessätzen oder gemeinnützige Arbeit von über 480 Stunden zu erwarten sind (Art. 132 Abs. 3 StPO).
 
3.
3.1. Der Beschwerdeführer weist folgende Vorstrafen auf:
Am 23. Juni 2006 verurteilte die Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau den Beschwerdeführer wegen Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 1 StGB) und Angriffs (Art. 134 StGB) zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 10 Tagen bei einer Probezeit von einem Jahr.
Am 24. November 2010 verurteilte ihn das Bezirksgericht Zürich wegen Geldwäscherei (Art. 305bis Abs. 1 StGB) und grober Verletzung der Verkehrsregeln (Art. 90 Abs. 2 SVG) zu einer bedingten Geldstrafe von 275 Tagessätzen und einer Busse von Fr. 1'000.--. Die Probezeit setzte es auf drei Jahre und verlängerte diejenige der 2006 verhängten Freiheitsstrafe um 6 Monate.
Am 10. Juli 2012 verurteilte ihn das Bezirksgericht Dietikon wegen mehrfachen Betrugs (Art. 146 Abs. 1 StGB) und mehrfacher Urkundenfälschung (Art. 251 Ziff. 1 Abs. 1 und 2 StGB) zu einer Geldstrafe von 210 Tagessätzen, wobei es die Hälfte davon bedingt aufschob und die Probezeit auf 5 Jahre ansetzte. Die Probezeit der 2010 ausgefällten Geldstrafe verlängerte es um 1 ½ Jahre.
3.2. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Spritztour fand am 7. Februar 2012 statt, mithin innerhalb der ihm mit Urteil vom 24. November 2010 angesetzten Probezeit, aber vor seiner bisher letzten Verurteilung vom 10. Juli 2012. Damit hat der Strafrichter im Falle einer Verurteilung nach Art. 49 Abs. 2 StGB eine Zusatzstrafe zum Urteil vom 10. Juli 2012 auszusprechen und nach Art. 46 StGB über den allfälligen Widerruf der 24. November 2010 bedingt ausgefällten Geldstrafe von 275 Tagessätzen zu befinden.
 
4.
4.1. Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, mit dem nicht eingelösten Fahrzeug seines Vaters ohne dessen Einwilligung eine Spritzfahrt unternommen zu haben, ohne im Besitz eines Führerausweises zu sein. Dazu soll er gelegentlich Haschisch konsumiert haben. Der Tatvorwurf bezieht sich damit u.a. auf verschiedene Vergehen - Entwenden eines Fahrzeugs zum Gebrauch im Sinn von Art. 94 Abs. 1 lit. a SVG, Fahren ohne Berechtigung im Sinn von Art. 95 Abs. 1 lit. a SVG, Missbrauch von Ausweisen und Schildern im Sinn von Art. 97 Abs. 1 lit. a SVG - womit sich allein für diese Taten ein oberer Strafrahmen von 4 ½ Jahren ergibt; unter Berücksichtigung der Verurteilung vom 10. Juli 2012 u.a. wegen eines Verbrechens (mehrfacher Betrug im Sinn von Art. 146 Abs. 1 StGB, bedroht mit Freiheitsstrafe bis zu 5 Jahren) läge der obere Strafrahmen gar bei 7 ½ Jahren (Art. 49 Abs. 1 und 2 StGB). Der Tatvorwurf wiegt indessen auch nach der Einschätzung der zuständigen Staatsanwaltschaft Staatsanwaltschaft nicht so schwer, dass, auch vor dem Hintergrund der Vorstrafen, eine Strafe im Bereich des oberen Strafrahmens in Betracht fiele. Konkret droht ihm eine Geldstrafe oder eine Freiheitsstrafe von jedenfalls weniger als einem Jahr. Ob er darüber hinaus mit einem Widerruf der bedingt ausgefällten Geldstrafe von 275 Tagessätzen zu rechnen hat, ist hier nach dem Gesagten (oben E. 2.1) nicht zu beurteilen. So oder so hat der Beschwerdeführer keinen Anspruch auf notwendige Verteidigung.
4.2. Die dem Beschwerdeführer vorgeworfene Spritztour liegt in tatsächlicher Hinsicht einfach. Den gelegentlichen Konsum von Haschisch hat er zugegeben. Auch beweismässig ist der Fall unproblematisch, geht es doch im Wesentlichen um die Würdigung der Aussagen der beiden Polizeibeamten, die ihn am 7. Februar 2012 stellten, sowie derjenigen seines als Beifahrer mitbeschuldigten Bruders. Der Fall bietet zudem keine rechtlichen Schwierigkeiten, denen der prozesserfahrene Beschwerdeführer nicht gewachsen wäre. Die Regeln des Strassenverkehrsrechts, gegen die er verstossen haben soll, sind grundlegend und mussten ihm schon deswegen bekannt gewesen sein, weil er die Führerprüfung bestanden hat und zeitweise im Besitz eines Führerausweises war. Der Beschwerdeführer hat damit keinen Anspruch auf amtliche Verteidigung, das Obergericht hat kein Bundesrecht verletzt, indem es die Abweisung des entsprechenden Gesuchs durch die Staatsanwaltschaft schützte.
4.3. Unter diesen Umständen kann offen bleiben, ob es sich um einen Bagatellfall im Sinn von Art. 132 Abs. 2 und 3 StPO handelt.
5. Die Beschwerde ist somit als unbegründet abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens würde der Beschwerdeführer an sich die kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war und die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers ausgewiesen scheint (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
2.1. Es werden keine Kosten erhoben.
2.2. Rechtsanwalt Thomas Spörli, Zürich, wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtlicher Verteidiger eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der Bundesgerichtskasse entschädigt.
3. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft Muri-Bremgarten und dem Obergericht des Kantons Aargau, Beschwerdekammer in Strafsachen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 31. Januar 2014
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Störi