BGer 2C_893/2013
 
BGer 2C_893/2013 vom 24.03.2014
{T 0/2}
2C_893/2013
 
Urteil vom 24. März 2014
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Seiler, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichterin Aubry Girardin,
Bundesrichter Stadelmann,
Gerichtsschreiberin Genner.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
Beschwerdeführer,
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Surber,
gegen
Migrationsamt des Kantons St. Gallen,
Sicherheits- und Justizdepartement des Kantons St. Gallen.
Gegenstand
Widerruf der Niederlassungsbewilligung,
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 21. August 2013.
 
Sachverhalt:
 
A.
- Verfügung des Untersuchungsamts Gossau vom 5. Juli 2006: Busse von Fr. 300.-- wegen mehrfacher Verletzung von Verkehrsregeln und Übertretung des Strassenverkehrsgesetzes;
- Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 20. November 2007: Bedingte Geldstrafe von 55 Tagessätzen à je Fr. 100.-- (Probezeit drei Jahre) und Busse von Fr. 1'000.-- wegen versuchten Raubs, Drohung und Tätlichkeit;
- Verfügung des Untersuchungsamts St. Gallen vom 9. Februar 2009: Bedingte Geldstrafe von 30 Tagessätzen à je Fr. 60.-- (Probezeit zwei Jahre) und Busse von Fr. 1'500.-- wegen Führens eines Motorfahrzeugs in fahrunfähigem Zustand (Blutalkoholkonzentration von mind. 1.11 o/oo) und Verletzung von Verkehrsregeln; die Probezeit der am 20. November 2007 ausgesprochenen Geldstrafe wurde um ein Jahr verlängert;
- Verfügung des Bezirksamts Münchwilen vom 10. August 2009: Busse von Fr. 400.-- wegen Verletzung der Verkehrsregeln;
- Urteil des Kreisgerichts Wil vom 17. August 2011: Freiheitsstrafe von fünf Jahren wegen vorsätzlicher Tötung, mehrfacher versuchter Tötung und mehrfacher vorsätzlicher einfacher Körperverletzung; die am 20. November 2007 und am 9. Februar 2009 bedingt ausgesprochenen Geldstrafen wurden widerrufen bzw. für vollziehbar erklärt.
 
B.
 
C.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Der letztinstanzliche, verfahrensabschliessende Entscheid eines kantonalen Gerichts auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts unterliegt grundsätzlich der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (vgl. Art. 82 lit. a, Art. 86 Abs. 1 lit. d, Art. 90 BGG). Gemäss Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG ist die Beschwerde unzulässig gegen Entscheide auf dem Gebiet des Ausländerrechts betreffend Bewilligungen, auf die weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch einräumt. Gegen Entscheide über den Widerruf einer Niederlassungsbewilligung ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten zulässig, weil grundsätzlich ein Anspruch auf das Fortbestehen dieser Bewilligung gegeben ist (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4). Ob der Anspruch im konkreten Fall zu bejahen ist, bildet Gegenstand der materiellen Beurteilung (BGE 137 I 284 E. 1.3 S. 287).
1.2. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, so dass auf die Beschwerde einzutreten ist.
 
2.
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und 96 BGG geltend gemacht werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280; 136 II 304 E. 2.5 S. 314). Die Anwendung von kantonalem Gesetzes- und Verordnungsrecht prüft das Bundesgericht nur unter dem Aspekt der Willkür (BGE 139 I 169 E. 6.1 S. 172 f. mit Hinweisen), ebenso die Rüge, der Sachverhalt sei unvollständig oder offensichtlich unrichtig festgestellt worden (vgl. BGE 137 I 58 E. 4.1.2 S. 62; 133 II 249 E. 1.2.2 S. 252).
2.2. Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt. Der Beschwerdeführer legt eine Lohnabrechnung der S.________ GmbH vom 23. September 2013 vor. Dieses Beweismittel ist nach dem angefochtenen Urteil entstanden. Als echtes Novum ist es daher im vorliegenden Verfahren unbeachtlich (vgl. BGE 139 III 120 E. 3.1.2 S. 123; 133 IV 342 E. 2.1 S. 344). Ferner reicht der Beschwerdeführer ein undatiertes Schreiben von Y.________ ein, welche sich als seine Lebensgefährtin vorstellt. Es kann offen bleiben, ob das Schreiben ein echtes oder unechtes Novum darstellt. Nachdem sich der Beschwerdeführer bereits im vorinstanzlichen Verfahren auf das Recht auf Familienleben berief, hätte er der Vorinstanz ein derartiges Schreiben ohne Weiteres vorlegen können. Das Beweismittel ist daher im bundesgerichtlichen Verfahren unzulässig (vgl. BGE 136 III 123 E. 4.4.3 S. 129).
 
3.
3.1. Die Vorinstanz habe Art. 30 Abs. 3 BV und Art. 55 Abs. 1 des Gesetzes des Kantons St. Gallen vom 16. Mai 1965 über die Verwaltungsrechtspflege (VRP/SG; sGS 951.1) verletzt, indem es seinen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgewiesen habe.
3.1.1. Wie die Vorinstanz korrekt erwogen hat, ist Art. 30 Abs. 3 BV nicht einschlägig: Diese Bestimmung schreibt lediglich vor, dass Gerichtsverhandlung und Urteilsverkündung in der Regel öffentlich sind. Ein grundsätzlicher Anspruch auf mündliche Verhandlung lässt sich daraus nicht ableiten; ein solcher besteht nur, wenn die Streitsache unter Art. 6 Ziff. 1 EMRK fällt, wenn das anwendbare Verfahrensrecht dies vorsieht oder wenn sich eine entsprechende Notwendigkeit aus dem Beweisrecht ergibt (Urteil 8C_964/2012 vom 16. September 2013 E. 3.2 mit Hinweis auf BGE 128 I 288 E. 2.6 S. 293 f.). Der Beschwerdeführer beruft sich zu Recht nicht auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK, denn Entscheide über die Einreise, den Aufenthalt und die Entfernung ausländischer Personen betreffen keine zivilrechtlichen Ansprüche im Sinn dieser Bestimmung (Nichtzulassungsentscheid des EGMR Ilic gegen Kroatien vom 19. September 2000 [Nr. 42389/98]). Art. 6 Ziff. 1 EMRK kommt daher im Verfahren betreffend den Widerruf der Niederlassungsbewilligung nicht zur Anwendung.
3.1.2. Gemäss Art. 55 Abs. 1 VRP/SG wird eine mündliche Verhandlung angeordnet, wenn sie zur Wahrung der Parteirechte notwendig ist oder zweckmässig erscheint. Die Vorinstanz erwog, der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer habe im Beschwerdeverfahren seinen Standpunkt ausführlich zum Ausdruck bringen können. Zur Wahrung seiner Parteirechte sei eine mündliche Verhandlung deshalb nicht erforderlich. Auch bestehe aus Zweckmässigkeitsüberlegungen kein Anlass, eine solche durchzuführen.
3.2. Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe das rechtliche Gehör verletzt, indem sie auf die Einholung eines psychiatrischen Gutachtens verzichtet und die vorliegenden Berichte einseitig gewürdigt habe.
 
4.
4.1. Es ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer durch die Verurteilung zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe einen Widerrufsgrund im Sinn von Art. 63 Abs. 2 AuG (SR 142.20) in Verbindung mit Art. 62 lit. b AuG gesetzt hat (zum Erfordernis der "längerfristigen Freiheitsstrafe" im Sinn von Art. 62 lit. b AuG vgl. BGE 139 I 16 E. 2.1 S. 18 f.; 135 II 377 E. 4.2 S. 379 ff.).
4.2. Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Rechts auf Familienleben nach Art. 8 EMRK geltend.
4.2.1. Der Verweis auf das Urteil des EGMR 
4.2.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, die Beziehung zu seiner Partnerin Y.________ dauere nun bereits sechs Jahre und habe die schwierige Zeit überstanden. Es liege auf der Hand, dass die Beziehung aufgrund des Strafvollzugs bis Ende Juli 2013 nicht in eheähnlicher Weise habe gelebt werden könnten. Der Kontakt sei jedoch über die gesamte Zeit im Rahmen des Möglichen intensiv gepflegt worden und das Paar wolle eine gemeinsame Zukunft aufbauen.
4.2.3. Auch der Hinweis auf die guten Beziehungen zu den Mitgliedern seiner Stammfamilie hilft dem Beschwerdeführer nicht. Das Recht auf Familienleben schützt in erster Linie die Kernfamilie, d. h. das Zusammenleben der Ehegatten (bzw. bei gegebenen Voraussetzungen der Konkubinatspartner) untereinander und gegebenenfalls mit ihren minderjährigen Kindern (BGE 135 I 143 E. 1.3.2 S. 146). Die Beziehung erwachsener Rechtsuchender zu Eltern, Geschwistern, Grosseltern oder sonstigen Verwandten kann nur unter besonderen Umständen, welche hier weder dargetan noch ersichtlich sind, unter den Schutz von Art. 8 Ziff. 1 EMRK fallen.
4.3. Der Beschwerdeführer macht keine Verletzung des Rechts auf Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Ziff. 1 EMRK geltend. Weil er in der Schweiz geboren und aufgewachsen ist, könnte er sich grundsätzlich darauf berufen (Urteil des EGMR 
4.4. Es bleibt zu prüfen, ob die Massnahme verhältnismässig im Sinn von Art. 96 Abs. 1 AuG ist. Dabei sind namentlich die Schwere des Verschuldens, der Grad der Integration sowie die dem Betroffenen drohenden Nachteile zu berücksichtigen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts sind umso strengere Anforderungen an eine fremdenpolizeiliche Massnahme zu stellen, je länger eine ausländische Person in der Schweiz anwesend war. Die Niederlassungsbewilligung eines Ausländers, der sich schon seit langer Zeit hier aufhält, soll nur mit besonderer Zurückhaltung widerrufen werden; allerdings ist dies bei wiederholter bzw. schwerer Straffälligkeit selbst dann nicht ausgeschlossen, wenn er hier geboren ist und sein ganzes bisheriges Leben im Land verbracht hat (vgl. BGE 139 I 31 E. 2.3.1 S. 33, 16 E. 2.2.1 S. 19; 135 II 377 E. 4.3 S. 381).
4.4.1. Ausgangspunkt und Massstab für die Schwere des Verschuldens und die fremdenpolizeiliche Interessenabwägung ist die vom Strafgericht verhängte Strafe (BGE 129 II 215 E. 3.1 S. 216). Der Beschwerdeführer ist zu einer fünfjährigen Freiheitsstrafe verurteilt worden, weil er eine Frau mit einem 30 cm langen Fleischmesser erstochen und drei andere Personen verletzt hatte, indem er wahllos um sich stach. Ein weiteres potentielles Opfer hatte einem Messerstich in den Hals ausweichen können.
4.4.2. Es besteht somit ein erhebliches sicherheitspolitisches Interesse am Widerruf der Niederlassungsbewilligung bzw. an der Wegweisung des Beschwerdeführers. Die dagegen vorgebrachten Sachverhaltsrügen sind unbegründet:
4.4.3. Im Übrigen deutet nichts darauf hin, das die Rückkehr des Beschwerdeführers in den Kosovo als unzumutbar erscheinen liesse. Zwar hat er sein ganzes bisheriges Leben in der Schweiz verbracht, was einen Neuanfang schwierig macht. Der Beschwerdeführer hat jedoch in der Schweiz eine Ausbildung abgeschlossen und erste berufliche Erfahrungen gesammelt. Dies dürfte ihm helfen, sich im Kosovo, den er von Ferienaufenthalten her kennt, zurechtzufinden. Ein Teil der Verwandtschaft lebt ebenfalls dort. Der Beschwerdeführer ist jung, ledig und kinderlos, so dass eine Eingliederung in seinem Herkunftsland nicht unüberwindlich ist.
4.5. Zusammenfassend erweist sich der Widerruf der Niederlassungsbewilligung als verhältnismässig.
 
5.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. 
2. 
3. 
Lausanne, 24. März 2014
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Seiler
Die Gerichtsschreiberin: Genner