BGer 6B_808/2013
 
BGer 6B_808/2013 vom 19.05.2014
{T 0/2}
6B_808/2013
 
Urteil vom 19. Mai 2014
 
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Mathys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber Hochuli.
 
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Advokat Dr. Andreas Noll,
Beschwerdeführer,
gegen
1.  Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt,
2. A.________,
vertreten durch Advokatin Evelyne Alder,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Versuchte vorsätzliche Tötung; Beweiswürdigung, Unschuldsvermutung, rechtliches Gehör,
Beschwerde gegen das Urteil des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 2. Juli 2013.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.
 
C.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Offensichtlich unrichtig ist die Sachverhaltsfeststellung, wenn sie willkürlich ist (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 5; 134 IV 36 E. 1.4.1 S. 39; vgl. zum Begriff der Willkür BGE 138 I 305 E. 4.3 S. 319; 137 I 1 E. 2.4 S. 5 mit Hinweisen). Die Rüge der willkürlichen Feststellung des Sachverhalts prüft das Bundesgericht gemäss Art. 106 Abs. 2 BGG nur insoweit, als sie in der Beschwerde explizit vorgebracht und substantiiert begründet worden ist. In der Beschwerde muss im Einzelnen dargelegt werden, inwiefern der angefochtene Entscheid an einem qualifizierten und offensichtlichen Mangel leidet (BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176; 136 II 489 E. 2.8 S. 494; 133 IV 286 E. 1.4 S. 287; je mit Hinweisen). Dem Grundsatz "in dubio pro reo" kommt in der vom Beschwerdeführer angerufenen Funktion als Beweiswürdigungsregel im Verfahren vor dem Bundesgericht keine über das Willkürverbot von Art. 9 BV hinausgehende Bedeutung zu (BGE 127 I 38 E. 2a S. 40; 124 IV 86 E. 2a S. 87 f.; je mit Hinweisen).
 
1.2.
1.2.1. Der Beschwerdeführer beanstandet, die Stichverletzung, von welcher beide Vorinstanzen und die Beschwerdegegnerin 1 ausgegangen seien, befinde sich nicht oberhalb des hinteren linken Beckenkammes, sondern 6 cm unterhalb desselben. Indem die Beschwerdegegnerin 1 von einem falschen Sachverhalt ausgegangen sei, habe sie den aus Art. 29 Abs. 2 und Art. 32 Abs. 2 BV sowie aus Art. 6 Ziff. 3 lit. a und b EMRK abgeleiteten und nunmehr in Art. 9 Abs. 1 StPO festgeschriebenen Anklagegrundsatz verletzt. Basierend auf dem korrigierten Sachverhalt komme höchstens eine einfache Körperverletzung mit einem gefährlichen Gegenstand und versuchte Nötigung in Frage.
1.2.2. Die Vorinstanz hat gestützt auf die im bisherigen Verfahren unbestritten gebliebenen Feststellungen zur Stichwunde in tatsächlicher Hinsicht erkannt, dass der Beschwerdeführer dem Opfer das Messer mit mindestens seiner gesamten Klingenlänge von 8 cm über dem linken Beckenkamm nach oben und zur Körpermitte hin in den Körper gestossen habe, dadurch in unmittelbare Nähe zu lebenswichtigen Organen vorgedrungen sei und dementsprechend gemäss Gutachten des Instituts für Rechtsmedizin der Universität Basel vom 13. August 2012 (nachfolgend: IRM-Gutachten) im Rahmen des dynamischen Geschehens eine potentielle Lebensgefahr bestanden habe.
1.2.3. Neue Tatsachen und Beweismittel dürfen vor Bundesgericht nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt (Art. 99 Abs. 1 BGG; BGE 135 III 121 E. 3 S. 124). Dies ist in der Beschwerde darzulegen (BGE 134 V 223 E. 2.2.1 S. 226 mit Hinweis).
 
1.3.
1.3.1. Im Weiteren kritisiert der Beschwerdeführer die vorinstanzliche Beweiswürdigung. Das kantonale Gericht habe zu Unrecht nur die Aussagen des Beschwerdegegners 2, nicht aber diejenigen des Beschwerdeführers zum Kerngeschehen als glaubwürdig taxiert. Es habe dagegen nicht in Betracht gezogen, dass sich nicht nur die Aussagen des Beschwerdeführers, sondern auch diejenigen des Beschwerdegegners 2 als unglaubwürdig erweisen könnten.
1.3.2. Die Vorinstanz hat die Aussagen des Beschwerdeführers, des Beschwerdegegners 2 und der Zeugen einlässlich und sorgfältig gewürdigt. Ohne über die Widersprüche in den Angaben des Beschwerdegegners 2 unter anderem betreffend Motiv und Häufigkeit seiner Aufenthalte in V.________ hinwegzusehen, hielt sie fest, für die zu klärenden Kernfragen nach der Bedrohung des Opfers und der Zufügung der Stichverletzung spiele es keine Rolle, ob es bei der Auseinandersetzung um Drogengeschäfte gegangen sei. Die Glaubwürdigkeit der Angaben des Beschwerdegegners 2 zum Kerngeschehen werde nicht dadurch gemindert, dass er sich zum Grund seiner Anwesenheit auf der U.________ bei der Gruppe von Afrikanern und zur Ursache des Gerangels nicht schlüssig geäussert habe. Daran ändere auch nichts, dass sich der Beschwerdegegner 2 geweigert habe, sich einer Drogenanalyse durch das Institut für Rechtsmedizin zu unterziehen. Entscheidend sei praxisgemäss nicht die allgemeine Glaubwürdigkeit einer aussagenden Person, sondern die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage. Unabhängige Zeugen bestätigten keineswegs, dass der Beschwerdeführer mit der Auseinandersetzung nichts zu tun gehabt habe und nur schlichtend eingreifen wollte. Im zentralen Punkt zum Kerngeschehen habe sich der Beschwerdeführer in Bezug auf das Auftauchen, den Einsatz und das Wegwerfen des Klappmessers in unauflösbare Widersprüche verwickelt. Dies sei nicht mit dem Aussageverhalten einer - angeblich zu Unrecht - beschuldigten Person zu erklären. Es mache vielmehr den Anschein, als habe der Beschwerdeführer seine Aussagen dem jeweiligen Stand der Ermittlungen angepasst. Letzterer habe schliesslich eingestandenermassen das Messer in der Hand gehabt und weggeworfen. Danach sei es jedoch nicht auf dem von ihm behaupteten, sondern auf dem vom Beschwerdegegner 2 beschriebenen Fluchtweg gefunden worden. Dies lege den Schluss nahe, dass der Beschwerdeführer durch seine Aussage das Auffinden der Tatwaffe zu verhindern versuchte. Er sei vom Beschwerdegegner 2 bei der Festnahme eindeutig als Angreifer identifiziert worden. Auch wenn der Beschwerdegegner 2 den unmittelbaren Angriff mit dem Messerstich nicht habe auf sich zukommen sehen, weil er sich zu diesem Zeitpunkt vom Täter abgewandt hatte, bestünden keine Zweifel an der Tatherrschaft des Beschwerdeführers. Denn unmittelbar nach dem Stich, den der Beschwerdegegner 2 zunächst als Faustschlag wahrnahm, habe er sich zum Beschwerdeführer umgedreht, welcher das Messer in der Hand hielt. Nach Angaben der medizinischen Gutachterin könne die Verletzung nur durch einen willentlich geführten, wuchtigen Stich erfolgt sein. Es sei daher auszuschliessen, dass die Stichwunde unbeabsichtigt - etwa im Rahmen des vom Beschwerdeführer beschriebenen Gerangels um das Messer - entstanden sei. Auch der vom Beschwerdegegner 2 geschilderte zweite Stich sei anhand eines entsprechendes Loches am linken Ärmel des Pullovers dokumentiert. Demgegenüber lasse nichts darauf schliessen, dass der Beschwerdeführer anlässlich der Auseinandersetzung Schläge in sein Gesicht erhalten habe.
1.3.3. Insgesamt zeigt der Beschwerdeführer nicht auf, inwiefern die vorinstanzliche Beweiswürdigung schlechterdings unhaltbar sei. Dass eine andere Lösung oder Würdigung auch vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, genügt für die Begründung von Willkür nicht (BGE 138 I 49 E. 7.1 S. 51 mit Hinweisen).
1.4. Ist von der Lokalisierung des Messerstichs im Bereich der linken Hüfte über dem linken Beckenkamm gemäss Vorinstanz auszugehen (E. 1.2 hievor), bestreitet der Beschwerdeführer zu Recht nicht, dass dieser Messerstich "in unmittelbarer Nähe zu wichtigen inneren Organen (Milz, Niere, Darmtrakt, Bauchfell und womöglich sogar Lunge) zu liegen" kam. Von einer Verletzung des Anklagegrundsatzes kann nach dem Gesagten keine Rede sein.
 
2.
2.1. Wie dargelegt (vgl. E. 1.2.3 hievor), ist auf die vom Beschwerdeführer erstmals vor Bundesgericht neu vorgetragene Tatsachenbehauptung betreffend angeblich fehlerhafter Sachverhaltsfeststellung hinsichtlich der Lokalisierung der Stichwunde nicht einzutreten, weshalb er aus dem von ihm behaupteten "korrigierten Sachverhalt" nichts zu seinen Gunsten abzuleiten vermag.
 
2.2.
2.2.1. Vorsätzlich begeht ein Verbrechen oder Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt oder wer die Verwirklichung der Tat für möglich hält und in Kauf nimmt (Art. 12 Abs. 2 StGB). Eventualvorsatz, welcher zur Erfüllung des subjektiven Tatbestandes von Art. 111 StGB genügt (Christian Schwarzenegger, in: Basler Kommentar, Strafrecht II, 3. Aufl. 2013, Art. 111 StGB N. 7; vgl. Stratenwerth/Wohlers, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommentar, 3. Aufl. 2013, Art. 111 StGB N. 6; BGE 103 IV 65 E. I.2 S. 67 ff.), ist nach ständiger Rechtsprechung gegeben, wenn der Täter die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, aber dennoch handelt, weil er den Erfolg für den Fall seines Eintritts in Kauf nimmt, sich mit ihm abfindet, mag er ihm auch unerwünscht sein (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 4 mit Hinweis).
2.2.2. Was der Täter wusste, wollte und in Kauf nahm, betrifft sogenannte innere Tatsachen, welche vor Bundesgericht nur im Rahmen von Art. 97 Abs. 1 BGG gerügt werden können. Rechtsfrage ist hingegen, ob im Lichte der festgestellten Tatsachen der Schluss auf Eventualvorsatz begründet ist (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 4; 135 IV 152 E. 2.3.2 S. 156; je mit Hinweisen). Da sich Tat- und Rechtsfragen insoweit teilweise überschneiden, hat der Sachrichter die in diesem Zusammenhang relevanten Tatsachen möglichst erschöpfend darzustellen, damit erkennbar wird, aus welchen Umständen er auf Eventualvorsatz geschlossen hat. Das Bundesgericht kann in einem gewissen Ausmass die richtige Bewertung dieser Umstände im Hinblick auf den Rechtsbegriff des Eventualvorsatzes überprüfen (BGE 133 IV 9 E. 4.1 S. 17 mit Hinweisen).
2.2.3. Für den Nachweis des Vorsatzes darf der Richter vom Wissen des Täters auf den Willen schliessen, wenn sich diesem die Verwirklichung der Gefahr als so wahrscheinlich aufdrängte, dass die Bereitschaft, sie als Folge hinzunehmen, vernünftigerweise nur als Inkaufnahme des Erfolgs ausgelegt werden kann (BGE 137 IV 1 E. 4.2.3 S. 4 mit Hinweis). Je grösser die Wahrscheinlichkeit der Tatbestandsverwirklichung ist und je schwerer die Rechtsgutsverletzung wiegt, desto näher liegt die Schlussfolgerung, der Täter habe die Tatbestandsverwirklichung in Kauf genommen (BGE 135 IV 12 E. 2.3.2 S. 17; 133 IV 222 E. 5.3 S. 226). Allerdings kann nicht unbesehen aus dem Wissen des Täters um die Möglichkeit des Erfolgseintritts auf dessen Inkaufnahme geschlossen werden. Sicheres Wissen um die unmittelbare Lebensgefahr, also um die Möglichkeit des Todes, ist nicht identisch mit sicherem Wissen um den Erfolgseintritt und kann sowohl mit (eventuellem) Tötungsvorsatz als auch bewusster Fahrlässigkeit bezüglich der Todesfolge einhergehen. Ein Tötungsvorsatz ist zu verneinen, wenn der Täter trotz der erkannten möglichen Lebensgefahr handelt, aber darauf vertraut, die Todesgefahr werde sich nicht realisieren. Zur Annahme eines Tötungsvorsatzes müssen zum Wissenselement weitere Umstände hinzukommen (BGE 133 IV 9 E. 4.1 S. 17; zur Verneinung des Eventualvorsatzes vgl. Urteil 6B_775/2011 vom 4. Juni 2012 E. 2.4). Solche Umstände liegen namentlich vor, wenn der Täter das ihm bekannte Risiko in keiner Weise kalkulieren und dosieren kann und der Geschädigte keinerlei Abwehrchancen hat (BGE 133 IV 1 E. 4.5 S. 7; 131 IV 1 E. 2.2 S. 5; Urteil 6B_754/2012 vom 18. Juli 2013 E. 3.2.4).
2.3. Der Schluss der Vorinstanz auf ein eventualvorsätzliches Handeln des Beschwerdeführers verletzt kein Bundesrecht. Wer in einer dynamischen Auseinandersetzung unkontrolliert mit einem Messer in den Bauch/Unterleib eines Menschen sticht, muss in aller Regel mit schweren Verletzungen rechnen. Das Risiko einer tödlichen Verletzung ist generell als hoch einzustufen. Dies gilt selbst für Verletzungen mit einer eher kurzen Messerklinge (Urteil 6B_475/2012 vom 27. November 2012 E. 4.2 mit Hinweis). Gemäss angefochtenem Entscheid lag der Einstich nur wenige Zentimeter neben anatomischen Strukturen, deren Verletzung lebensgefährlich gewesen wäre. Der Beschwerdeführer stach in einem dynamischen Tatverlauf mit grosser Wucht unkontrolliert zu und konnte nicht genau steuern, wo und wie (tief) er A.________ verletzte. Es war damit letztlich Zufall, dass die eindringende Messerklinge keine inneren Organe und Blutgefässe lebensgefährlich traf. Eine Todesfolge lag damit im allgemein bekannten Rahmen des Kausalverlaufs, was auch dem Beschwerdeführer bewusst und von seinem Vorsatz erfasst war (Urteil 6B_475/2012 vom 27. November 2012 E. 4.2).
2.4. Der vorinstanzliche Schuldspruch wegen versuchter (eventual-) vorsätzlicher Tötung und versuchter Nötigung verletzt kein Bundesrecht. Sind auch im Übrigen keine Gründe ersichtlich, weshalb der angefochtene Entscheid als bundesrechtswidrig zu beanstanden wäre, ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann.
 
3.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. 
2. 
3. 
4. 
Lausanne, 19. Mai 2014
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Mathys
Der Gerichtsschreiber: Hochuli