BGer 8C_152/2014
 
BGer 8C_152/2014 vom 04.07.2014
{T 0/2}
8C_152/2014
 
Urteil vom 4. Juli 2014
 
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
Bundesrichter Frésard, Maillard,
Gerichtsschreiber Jancar.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Thomas Räber,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente; Revision),
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern, 3. Abteilung, vom 10. Januar 2014.
 
Sachverhalt:
 
A.
A.a. Der 1961 geborene A.________ ist als PC-Supporter ausgebildet und arbeitete vom 1. April 2000 bis 31. März 2004 bei der X.________ AG als Sachbearbeiter im Wareneingang sowie zuletzt vom 3. Mai bis 9. Juli 2004 bei der Y.________ AG als Lagerleiter in der Logistik. Am 5. August 2005 meldete er sich bei der IV-Stelle Luzern zum Leistungsbezug an. Mit Einspracheentscheid vom 21. Oktober 2008 sprach sie ihm ab 1. Mai 2005 eine ganze Invalidenrente (Invaliditätsgrad 100 %) zu.
A.b. Im April 2009 leitete die IV-Stelle eine Revision ein und zog diverse Arztberichte bei. Mit Vorbescheid vom 28. September 2010 stellte sie wegen erheblicher Verbesserung des Gesundheitszustands die Renteneinstellung in Aussicht. Am 7. Oktober 2010 teilte sie dem Versicherten mit, sie gewähre ihm Beratung und Unterstützung bei der Stellensuche; am 27. Oktober 2010 eröffnete sie ihm, die ganze Rente werde weiter ausgerichtet. Am 3. November 2011 erliess die IV-Stelle erneut einen Rentenaufhebungs-Vorbescheid. Mit Verfügung vom 10. August 2012 hob sie die Invalidenrente nach Zustellung der Verfügung auf Ende des folgenden Monats auf, da kein Gesundheitsschaden im Sinne der IV mehr ausgewiesen sei.
B. Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Kantonsgericht Luzern mit Entscheid vom 10. Januar 2014 ab.
C. Mit Beschwerde beantragt der Versicherte, in Aufhebung des kantonalen Entscheides sei die IV-Stelle zu verpflichten, ihm weiterhin eine volle Invalidenrente zu bezahlen; eventuell sei die Sache an diese zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen, um ein polydisziplinäres MEDAS-Gutachten durchführen zu lassen; subeventuell sei die IV-Stelle zu verpflichten, eine berufliche Eingliederung aktiv zu unterstützen und zu begleiten. Ferner verlangt der Versicherte die unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren.
Vorinstanz und IV-Stelle schliessen auf Abweisung der Beschwerde, die IV-Stelle mit der Ergänzung, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
1. Die Beschwerdegegnerin beantragt Nichteintreten. Gründe dafür werden von ihr indessen nicht angeführt und sind auch nicht ersichtlich.
2. Mit der Beschwerde kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren beanstandeten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG in Verbindung mit Art. 105 Abs. 2 BGG). Rechtsfragen sind die vollständige Feststellung erheblicher Tatsachen sowie die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes bzw. der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG und der Anforderungen an den Beweiswert von Arztberichten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Die aufgrund dieser Berichte gerichtlich festgestellte Gesundheitslage bzw. Arbeitsfähigkeit und die konkrete Beweiswürdigung sind Sachverhaltsfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397; nicht publ. E. 4.1 des Urteils BGE 135 V 254, veröffentlicht in SVR 2009 IV Nr. 53 S. 164 [9C_204/2009]).
3. Die Vorinstanz hat die Grundlagen über die Rentenrevision (Art. 17 Abs. 1 ATSG; BGE 134 V 131 E. 3 S. 132; SVR 2012 IV Nr. 18 S. 81 E. 4.1 [9C_418/2010]), die Bestimmung der Invalidität bei somatoformen Schmerzstörungen und äquivalenten Beschwerdebildern (BGE 130 V 396 352; vgl. auch BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 S. 13), den Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221) und den Beweiswert von Arztberichten (BGE 135 V 465 E. 4.4 S. 469 f., 125 V 351 E. 3 S. 352; vgl. auch E. 1 hievor) richtig dargelegt. Darauf wird verwiesen.
4. Streitig und zu prüfen ist, ob seit dem Einspracheentscheid vom 21. Oktober 2008, mit welchem dem Versicherten ab 1. Mai 2005 eine ganze Invalidenrente (Invaliditätsgrad 100 %) zugesprochen wurde, bis zur streitigen Rentenaufhebungsverfügung vom 10. August 2012 (BGE 132 V 215 E. 3.1.1 S. 320) eine erhebliche Verbesserung des Gesundheitszustandes eintrat, die eine Rentenrevision rechtfertigt.
5. Im Rahmen des Einspracheentscheides vom 21. Oktober 2008 ging die IV-Stelle somatischerseits davon aus, beim Versicherten bestünden degenerative Beschwerden an der Lendenwirbelsäule (LWS) in den Bereichen L4/5 und L5/S1; grundsätzlich sei ihm die bisherige Tätigkeit als PC-Supporter ganztags zumutbar; Einschränkungen bestünden beim Heben und Tragen von Lasten über 15 kg und Arbeiten in Zwangshaltung. In psychischer Hinsicht stellte die IV-Stelle auf das Gutachten des Psychiaters Dr. med. B.________ vom 2. Juli 2008 ab, worin eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung bei Alexithymie (ICD-10 F45.4), eine anankastische Persönlichkeitsstörung (ICD-10 F60.5) und eine leichte depressive Episode (ICD-10 F32.0) diagnostiziert wurden und von vollständiger Arbeitsunfähigkeit ausgegangen wurde.
 
6.
 
6.1.
6.1.1. In somatischer Hinsicht erwog die Vorinstanz im Wesentlichen, Prof. Dr. med. C.________, Uniklinik L.________, habe im Bericht vom 24. März 2009 unspezifische Lumbalgien bei Segmentdegeneration L4/5 und L5/S1 diagnostiziert und anamnestisch keine neuen Aspekte festgestellt. Der Rheumatologe Dr. med. D.________, Leitender Arzt am Spital U.________, habe gestützt auf ein Ganzkörper-MRI/Bechterew-Screening vom 26. März 2012 im Bericht vom 4. April 2012 ein chronifiziertes thorako- und lumbovertebrales Schmerzsyndrom mit/bei degenerativen Veränderungen L4/L5 und L5/S1 mit Spondylarthrose diagnostiziert; ansonsten bestünden eine unspezifische Schmerzgenese und keine Hinweise für eine entzündlich-rheumatische Affektion aus dem Spondylarthritis-Formenkreis; eine eigentliche fassbare Genese der Rückenschmerzen finde sich nicht; die degenerativen Veränderungen seien altersentsprechend nicht überdurchschnittlich und erklärten das chronifizierte Rückenschmerzbild nur ungenügend; es handle sich um sog. "unspezifische Rückenschmerzen". Weiter führte die Vorinstanz aus, erstmals am 17. Januar 2012 habe das Zentrum für Schmerzmedizin der Klinik S.________ eine Synovitis und Tenosynovitis, Trochanter links (ICD-10 M65.9) sowie Nackenschmerzen Trapezius links mit Ausstrahlung im Nacken, myofaszieller Genese (ICD-10 M54.02) diagnostiziert, ohne allerdings darzulegen, dass sich diese auf die Arbeitsfähigkeit auswirkten. Der festgestellte Lungenrundherd rechts habe als wahrscheinlich postentzündlich beurteilt werden können (vgl. Berichte des Spitals U.________ vom 11. und 16. April 2012). Damit habe sich in somatischer Hinsicht überwiegend wahrscheinlich keine Verschlechterung des Gesundheitszustands eingestellt.
6.1.2. Diesem vorinstanzlichen Ergebnis kann nicht ohne Weiteres beigepflichtet werden. Soweit sich IV-Stelle und Vorinstanz auf diverse Stellungnahmen des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) stützten, worin somatischerseits von unveränderter 100%iger Arbeitsfähigkeit ausgegangen wurde, ist zu beachten, dass der Versicherte im RAD - mit Ausnahme eines Triage-Gesprächs vom 29. September 2009 - ärztlich nicht untersucht wurde. Dieses Triage-Gespräch liegt aber zu lange zurück und kann deshalb nicht als Grundlage für die Beurteilung des Gesundheitszustandes im massgebenden Zeitpunkt der Verfügung vom 10. August 2012 dienen. Die Anforderungen an den Beweiswert von Aktenberichten (hierzu vgl. SVR 2010 UV Nr. 17 S. 63 E. 7.2 [8C_239/2008]; RKUV 1993 Nr. U 167 S. 95 E. 5d) erfüllen die RAD-Stellungnahmen ebenfalls nicht. Denn die Berichte der versicherungsexternen Ärzte, auf welche IV-Stelle und Vorinstanz im Rahmen des Revisionsverfahrens abstellten, enthalten keine hinreichenden Angaben zur Arbeitsfähigkeit des Versicherten, auf die es letztlich ankommt (vgl. BGE 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281; Urteil 8C_101/2014 vom 3. April 2014).
Die vom Versicherten ins Feld geführten Berichte stellen ebenfalls keine genügende Beurteilungsgrundlage dar. Soweit Dr. med. H.________, Facharzt für Allgemeinmedizin FMH, im Verlaufsbericht vom 20. Juni 2012 eine 100%ige Arbeitsunfähigkeit attestierte, ist dem entgegenzuhalten, dass er hierfür keine nähere Begründung anführte. Dr. med. I.________, Oberarzt Schmerzambulatorium am Universitätsspital V.________, gab zwar im Bericht vom 28. August 2012 an, seit einem Monat seien die Schmerzen des Versicherten zunehmend; indessen legte er dar, um die Aussage zur Arbeitsfähigkeit beurteilen zu können, eigne sich die Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit. Die weiteren vom Versicherten angerufenen Arztberichte enthalten ebenfalls keine hinreichenden Angaben zur Arbeitsfähigkeit.
 
6.2.
6.2.1. In psychischer Hinsicht führte die Vorinstanz im Wesentlichen aus, im Verlaufsbericht vom 27. Juli 2010 habe Dr. med. B.________ eine akzentuierte Persönlichkeit mit perfektionistischen Zügen (ICD-10 F73.1) und einen Status nach leichter depressiver Episode, remittiert unter Antidepressiva (ICD-10 F32.0), diagnostiziert; weiter habe er ausgeführt, seit drei Monaten sei die Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischen Gründen nicht mehr eingeschränkt. Im Bericht vom 6. Januar 2011 habe er eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit aus psychischer Sicht verneint. Im Bericht vom 6. Juni 2012 hätten die Dres. med. O.________, Oberarzt Psychiatrie FA Neurologie/Psychiatrie/Psychotherapie, und S.________, MSc, Chefarzt Klinik S.________, in psychischer Hinsicht eine Schmerzstörung in Verbindung mit psychischen Faktoren und Verhaltensfaktoren bei andernorts klassifizierten Krankheiten (siehe somatische Diagnosen; ICD-10 F54) und eine nichtorganische Insomnie (ICD-10 F51.0) diagnostiziert und dargelegt, die vordiagnostizierte depressive Erkrankung sei weitgehend remittiert. Auf den Bericht des Dr. med. H.________ von Ende Juni 2012, der unter anderem von einer Depression ausgegangen sei, könne mangels psychiatrischer Fachkompetenz und mangels eingehenden Ausführungen nicht abgestellt werden. Insgesamt sei mithin festzuhalten, dass sich der psychische Gesundheitszustand wesentlich verbessert und im Zeitpunkt der strittigen Verfügung keine Arbeitsunfähigkeit mehr bestanden habe.
6.2.2. Hierzu ist festzuhalten, dass die Berichte des Dr. med. B.________ vom 27. Juli 2010 und 6. Januar 2011 im Hinblick auf die streitige Verfügung vom 10. August 2012 zu lange zurückliegen. Auf den von der Vorinstanz weiter ins Feld geführten Bericht der Klinik S.________ vom 6. Juni 2012 kann nicht abgestellt werden, da er keine Angaben zur Arbeitsfähigkeit enthält (vgl. auch E. 6.1.2 hievor); eine weiterbestehende (Teil-) Arbeitsunfähigkeit aus psychischen Gründen kann aufgrund dieses Berichts - entgegen der Vorinstanz - nicht von vornherein ausgeschlossen werden, zumal darin neu die Diagnosen ICD-10 F51.0 und F54 gestellt wurden und die depressive Erkrankung nicht als gänzlich, sondern als weitgehend remittiert angesehen wurde. Soweit IV-Stelle und Vorinstanz in psychischer Hinsicht auf die Stellungnahmen des RAD abstellten, kann dem nicht gefolgt werden, da der RAD keine Arztperson psychiatrischer Fachrichtung beizog.
6.3. Nach dem Gesagten wurde der rechtserhebliche Sachverhalt ungenügend abgeklärt, womit eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes (BGE 138 V 218 E. 6 S. 221) vorliegt. Mithin ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie ein polydisziplinäres medizinisches Gutachten einhole und danach über den Rentenanspruch neu befinde (vgl. auch Urteil 8C_675/2012 vom 7. Dezember 2012 E. 5.3).
7. Die unterliegende IV-Stelle trägt die Verfahrenskosten (Art. 66 Abs. 1, Art. 68 Abs. 2 BGG; BGE 137 V 210 E. 7.1 S. 271). Das Gesuch des Versicherten um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ist damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 10. Januar 2014 und die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 10. August 2012 werden aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verfügung an die Beschwerdegegnerin zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Rechtsvertreter des Beschwerdeführers für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
4. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Kantonsgericht Luzern zurückgewiesen.
5. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 4. Juli 2014
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Leuzinger
Der Gerichtsschreiber: Jancar