BGer 5A_51/2013
 
BGer 5A_51/2013 vom 10.11.2014
{T 0/2}
5A_51/2013
 
Urteil vom 10. November 2014
 
II. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter von Werdt, Präsident,
Bundesrichter Marazzi, Bovey,
Gerichtsschreiber Möckli.
 
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Rudolf Schaller,
Beschwerdeführerin,
gegen
1. B.________,
2. C.________,
beide vertreten durch Rechtsanwältin Lara Toma Pelucca,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Klage der Willensvollstrecker gegen die Vermächtnisnehmerin,
Beschwerde gegen den Entscheid des Appellationsgerichts des Kantons Tessin, II. Zivilkammer, vom 3. Dezember 2012.
 
Sachverhalt:
A. Am 15. Oktober 1998 verstarb D.D.________ mit letztem Wohnsitz in U.________. Als einzigen gesetzlichen Erben hinterliess er seinen Sohn E.D.________. Als Willensvollstrecker sind B.________ und C.________ eingesetzt.
B. Mit öffentlich beurkundetem Vertrag vom 27. August 1997 hatte D.D.________ seiner langjährigen Lebenspartnerin A.________ die Schenkung von Fr. 3 Mio. sowie eine lebenslängliche Rente von Fr. 25'000.-- bzw. von Fr. 15'000.-- pro Monat versprochen.
C. Am 4. September 2006 klagten C.________ und B.________ beim Prätor des Gerichtsbezirks Locarno-Stadt gegen A.________ auf Zahlung von Fr. 328'840.-- nebst Zins zu 5 %, berechnet auf Fr. 613'840.-- ab 7. Dezember 2004 und ab 1. Februar 2005 auf einem pro Monat um Fr. 15'000.-- reduzierten Betrag, sowie auf Beseitigung des Rechtsvorschlages in der Betreibung Nr. yyy.
D. Mit Beschwerde in Zivilsachen vom 17. Januar 2013 verlangt A.________ die Aufhebung des erst- und des zweitinstanzlichen Urteils sowie die Abweisung der Klage; ausserdem verlangt sie die Feststellung, dass der Kanton Tessin durch die Verschleppung des Verfahrens Art. 6 Ziff. 1 EMRK verletzt hat.
 
Erwägungen:
1. Angefochten ist das Urteil der letzten kantonalen Instanz in einer vermögensrechtlichen Zivilrechtsstreitigkeit mit Fr. 30'000.-- übersteigendem Streitwert; die Beschwerde in Zivilsachen steht damit vom Grundsatz her offen (Art. 72 Abs. 1, Art. 74 Abs. 1 lit. b, Art. 75 Abs. 1 und Art. 90 BGG), wobei auf Einzelheiten im Sachzusammenhang einzugehen sein wird. Sie ist im Übrigen rechtzeitig eingereicht worden (Art. 100 Abs. 1 BGG). Umstritten ist hingegen die rechtzeitige Einreichung der Beschwerdeantwort.
2. Das Appellationsgericht folgte dem Einwand der Beschwerdeführerin, wonach der erstinstanzliche Richter die Klageänderung nicht hätte zulassen dürfen und deshalb über die ursprünglichen Begehren hätte entscheiden müssen. In der Sache selbst ergebe sich, dass der Einwand, sie sei gar nicht Vermächtnisnehmerin und könne deshalb nicht mit Erbschaftssteuern belastet sein, erst in appellatorio und damit verspätet erhoben worden sei; Gleiches gelte für die Behauptung, aus den testamentarischen Anordnungen ergebe sich, dass sie nicht mit Steuern belastet werden dürfe. Schliesslich habe sie im Zusammenhang mit der Verrechnung erstinstanzlich nicht aufgezeigt, inwiefern sie im Sinn von Art. 125 Ziff. 2 OR unbedingt auf die Unterhaltsrente angewiesen wäre, obwohl dies Thema gewesen sei. Es sei mithin davon auszugehen, dass der von den Willensvollstreckern bzw. dem Nachlass beglichene Steuerbetrag durch die Beschwerdeführerin zu erstatten und er mit der monatlichen Unterhaltsrente effektiv verrechnet worden sei; daraus sei zu folgern, dass die Leistungsklage in diesem Punkt mangels Interesse gegenstandslos geworden und vom Protokoll abzuschreiben sei.
3. In erster Linie macht die Beschwerdeführerin eine Verletzung von Bundesrecht im Zusammenhang mit der materiellen Rechtskraft geltend und rügt einen Widerspruch zwischen Dispositiv und Begründung sowie Unklarheit in Bezug auf das Beurteilte. Ferner rügt sie eine Verletzung von Art. 120 Abs. 1 und 3 OR, von Art. 124 Abs. 1 und Art. 125 Abs. 2 OR sowie von Art. 62 OR und sie äussert sich auch zur eingeklagten Forderung, die sie nicht für berechtigt hält; schliesslich wird das rechtliche Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) und das Recht auf ein faires Verfahren (Art. 6 Ziff. 1 EMRK) als verletzt gerügt.
3.1. Was ihr erstes Anliegen betrifft, macht die Beschwerdeführerin geltend, mit der Abschreibung des Verfahrens wegen Gegenstandslosigkeit werde das Prozessthema in umfassender Weise geändert. Nachdem das Appellationsgericht die erstinstanzliche Klageänderung als unzulässig bezeichnet habe, hätte es über die Forderung von Fr. 328'840.-- entscheiden müssen bzw. nur darüber entscheiden dürfen. Das Dispositiv, mit welchem die Leistungsbegehren als gegenstandslos bezeichnet worden seien, entspreche indes nicht der Urteilsbegründung, denn die Erwägung, dass die Steuerforderung mit den Unterhaltsansprüchen verrechnet worden sei, sowie die Bezifferung des Streitwertes auf Fr. 613'840.-- liessen darauf schliessen, dass mit dem Urteil ein Forderungsumfang in dieser gesamten Höhe beurteilt worden sei. Diese Inkongruenz verletze das Recht auf ein für jedermann verständliches Urteil; im Hinblick auf das sistierte Klageverfahren in Zug sei nicht klar, was nun im materielle Rechtskraft erwachsen bzw. als 
3.2. Materielle Rechtskraft bedeutet, dass ein zwischen zwei Parteien ergangenes Urteil in einem späteren Prozess verbindlich ist. In positiver Hinsicht bindet die materielle Rechtskraft das Gericht in einem späteren Prozess an alles, was im Urteilsdispositiv des früheren Prozesses festgestellt wurde (sog. Präjudizialitäts- oder Bindungswirkung; vgl. BGE 116 II 738 E. 3 S. 744; 121 III 474 E. 4a S. 478; 139 III 126 E. 3.1 S. 128). In negativer Hinsicht verbietet die materielle Rechtskraft jedem späteren Gericht, auf eine Klage einzutreten, deren Streitgegenstand mit dem rechtskräftig beurteilten identisch ist, sofern der Kläger nicht ein schutzwürdiges Interesse an der Wiederholung des früheren Entscheides geltend machen kann (BGE 121 III 474 E. 2 S. 477; 139 III 126 E. 3.1 S. 129). Nach konstanter Rechtsprechung war die materielle Rechtskraft bereits vor Inkrafttreten der schweizerischen Zivilprozessordnung eine Frage des Bundesrechts, sofern der zu beurteilende Anspruch auf Bundesrecht beruhte (BGE 119 II 89 E. 2a S. 90; 121 III 474 E. 2 S. 476; zuletzt Urteil 4A_568/2013 vom 16. April 2014 E. 2.2). Wie die weiteren Ausführungen zeigen, hat das Appellationsgericht in dieser Hinsicht Bundesrecht verletzt.
3.3. Die Beschwerdeführerin macht zu Recht geltend, dass ursprünglich ein Leistungsbegehren eingeklagt worden ist und als Folge, dass das Appellationsgericht die erstinstanzliche Klageänderung als unzulässig betrachtete, ein solches zu beurteilen gewesen wäre. Somit hätte aber die Klage nicht einfach mit dem Verweis auf eine erfolgte Verrechnung als gegenstandslos vom Protokoll abgeschrieben werden dürfen. Wird mit der Klageforderung eine Gegenforderung zur Verrechnung gebracht, ist das Klagebegehren im Urteilsdispositiv vielmehr abzuweisen ( KUMMER, Grundriss des Zivilprozessrechts, 4. Aufl., Bern 1984, S. 146; KUMMER, Das Klagerecht und die materielle Rechtskraft im schweizerischen Recht, Bern 1954, S. 116).
3.4. Wie die Beschwerdeführerin zu Recht beanstandet, geht aus dem angefochtenen Urteil zusätzlich nicht klar hervor, ob das Appellationsgericht nur die ursprünglich eingeklagte Forderung von Fr. 328'840.-- oder aber den gesamten Betrag von Fr. 613'840.-- beurteilen wollte. Dass in E. 15 des angefochtenen Entscheides von "credito d'imposta inizialmente azionato dagli attori" die Rede ist, lässt auf Ersteres schliessen. Hingegen wird im weiteren Verlauf von E. 15 ganz allgemein von einer vollständigen Tilgung durch Verrechnung mit der Unterhaltsrente gesprochen und im Übrigen auf E. 12 verwiesen; dort hat das Appellationsgericht abgehandelt, dass die Beschwerdeführerin (entgegen ihrer verspäteten anderslautenden Behauptung) Vermächtnisnehmerin sei und sie den auf sie entfallenden Steueranteil tragen müsse ("a ragione che si può ritenere che l'imposta, non contestata nel suo ammontare, doveva rimanere a suo carico"). Schliesslich geht das Appellationsgericht in E. 18 von einem Streitwert von Fr. 613'840.-- aus. Die Erwägungen sind mithin zweideutig. Ebenso wenig schafft das Dispositiv eine Klärung; es ist angesichts der vorstehenden Ausführungen zu den Urteilserwägungen nicht nachvollziehbar, auf was sich die Formulierung "Le ulteriori richieste condannatorie" genau bezieht.
3.5. Nach dem Gesagten ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur Ausfällung eines neuen und bundesrechtskonformen Urteils an das Appellationsgericht zurückzuweisen.
3.6. In formeller Hinsicht rügt die Beschwerdeführerin, dass sie für die Replik nur einen Teil der Akten erhalten habe, und dies erst sieben Tage vor Fristablauf. Sofort, d.h. am Montag, 11. April 2011, habe sie die fehlenden Akten eingefordert und um eine neue Frist für die Replik ersucht. Am 13. April 2011 sei die Verfügung der Kammerpräsidentin eingetroffen, wonach die vom Kantonsgericht edierten Akten (unter Verweis auf eine entsprechende Praxis und die Kenntnis der Dokumente aus dem früheren Verfahren) beim Gericht eingesehen werden könnten. Dieses Angebot sei für den sie nach dem erfolgten Anwaltswechsel vertretenden Genfer Anwalt mit Blick auf die Wahrung der am 15. April 2011 auslaufenden Frist illusorisch und schikanös gewesen, umso mehr als sich das Appellationsgericht nach dem Abschluss des Schriftenwechsels selbst ein Jahr und acht Monate Zeit gelassen habe, um das Urteil zu fällen.
4. Mit der Aufhebung des angefochtenen Urteils und der Rückweisung an das Appellationsgericht ist die Beschwerdeführerin im Grundsatz durchgedrungen, weshalb die Beschwerdegegner kosten- und entschädigungspflichtig werden (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. In dahingehender Gutheissung der Beschwerde wird das Urteil des Appellationsgerichtes des Kantons Tessin, II. Zivilkammer, vom 3. Dezember 2012 aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an das Appellationsgericht zurückgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 5'000.-- werden den Beschwerdegegnern auferlegt.
3. Die Beschwerdegegner haben die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 6'000.-- zu entschädigen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Appellationsgericht des Kantons Tessin, II. Zivilkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 10. November 2014
Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: von Werdt
Der Gerichtsschreiber: Möckli