BGer 4A_526/2014
 
BGer 4A_526/2014 vom 17.12.2014
{T 0/2}
4A_526/2014
 
Urteil vom 17. Dezember 2014
 
I. zivilrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Hohl, Kiss,
Gerichtsschreiber Kölz.
 
Verfahrensbeteiligte
Versicherung A.________ AG,
Beschwerdeführerin,
gegen
B.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Karin Herzog,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Taggeldleistungen,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen,
Abteilung III, vom 9. Juli 2014.
 
Sachverhalt:
 
A.
B.________ (Versicherte, Beschwerdegegnerin), geboren 1966, war seit 1. April 2009 mit einem Teilpensum von 80 % als Aussendienstmitarbeiterin bei der C.________ AG angestellt. Dadurch war sie aufgrund einer Kollektivversicherungspolice bei der Versicherung A.________ AG (Versicherung, Beschwerdeführerin) krankentaggeldversichert. Am 17. September 2010 teilte die Arbeitgeberin der Versicherung mit, die Versicherte sei am 6. September 2010 erkrankt. Es liege ihr ein Arztzeugnis für eine Arbeitsunfähigkeit von 100 % bis 3. Oktober 2010 vor. In der Folge wurde die Versicherte weiterhin zu 100 % arbeitsunfähig geschrieben. Die Versicherung leistete die versicherten Taggelder (à Fr. 180.87 bzw. Fr. 181.-- pro Tag).
 
B.
Mit Klage vom 17. Januar 2013 gelangte die Versicherte an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und beantragte, die Versicherung sei zu verpflichten, ihr den Betrag von Fr. 20'181.50 nebst Zins zu 5 % seit 17. Januar 2013 zu bezahlen. Zur Begründung führte sie insbesondere an, das Gutachten von Dr. E.________ vom 26. März 2012 genüge den Anforderungen der Rechtsprechung aus mehreren Gründen nicht und vermöge eine volle Arbeitsfähigkeit nicht zu beweisen. Der offene Taggeldanspruch von Fr. 20'181.50 errechne sich aus der Differenzzahlung von 50 % für Mai 2012 und den 96 Taggeldern für die Zeit vom 1. Juni bis 4. September 2012. Die Versicherung trug auf Abweisung der Klage an. Sie hielt gestützt auf die Beurteilungen von Dr. E.________ und von Dr. med. F.________, Spezialärztin FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, die auf Ersuchen der Versicherung das Gutachten von Dr. E.________ beurteilt und für schlüssig befunden hatte, an der vollständigen Arbeitsfähigkeit der Versicherten spätestens ab 1. April 2012 fest. In der Replik stellte die Versicherte das zusätzliche Begehren, es sei festzustellen, "dass der Versicherungsvertrag mit der Erschöpfung der Bezugsrechte per 4. September 2012 erloschen ist".
 
C.
Die Versicherung beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, der Entscheid des Versicherungsgerichts vom 9. Juli 2014 sei hinsichtlich der Leistungsverpflichtung der Beschwerdeführerin und der Parteikosten aufzuheben. Das Leistungsbegehren der Beschwerdegegnerin auf Bezahlung von Taggeldern in der Höhe von Fr. 20'181.50 nebst Zins zu 5 % seit 17. Januar 2013 sei abzuweisen.
 
Erwägungen:
 
1.
Zu beurteilen ist die Leistungspflicht aus einer Zusatzversicherung zur sozialen Krankenversicherung. Derartige Zusatzversicherungen unterstehen gemäss Art. 12 Abs. 2 und 3 Krankenversicherungsgesetz (KVG; SR 832.10) dem Versicherungsvertragsgesetz (VVG; SR 221.229.1). Streitigkeiten aus solchen Versicherungen sind privatrechtlicher Natur, weshalb als Rechtsmittel an das Bundesgericht die Beschwerde in Zivilsachen in Betracht kommt (BGE 138 III 2 E. 1.1; 133 III 439 E. 2.1 mit Hinweisen).
 
2.
Streitig ist der Taggeldanspruch der Beschwerdegegnerin für die Zeit nach April 2012, bis 4. September 2012.
2.1. Leistungsvoraussetzung gemäss Art. 8.1 AVB D.________ ist eine ärztlich attestierte Arbeitsunfähigkeit von mindestens 25 % aufgrund einer Krankheit, die es der versicherten Person ganz oder teilweise verunmöglicht, ihre bisherige oder eine andere zumutbare Erwerbstätigkeit auszuüben.
2.2. Die Beschwerdeführerin geht gestützt auf das von ihr eingeholte Gutachten von Dr. E.________ vom 26. März 2012 davon aus, dass im fraglichen Zeitraum keine Arbeitsunfähigkeit vorliege. Dr. E.________ verneinte gemäss den verbindlichen Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz zum Zeitpunkt der Begutachtung eine Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit. So hielt er die (Akten-) anamnestische depressive Episode im Rahmen einer rezidivierenden depressiven Störung gegenwärtig für remittiert (ICD-10: F33.4) und die (Akten-) anamnestische Panikstörung (ICD-10: F41.0) für gegenwärtig subsyndromal. Auch das Tabakabhängigkeitssyndrom mit gegenwärtigem Substanzgebrauch (ICD-10: F17.24) habe keine Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Für die Neurasthenie (ICD-10: F48.0) bei emotional instabilen Persönlichkeitszügen prüfte er die sogenannten Foerster-Kriterien und kam zum Schluss, es sei der Beschwerdegegnerin zumutbar, eine "Willensanspannung" zu erbringen und die Auswirkungen der Neurasthenie zu überwinden. Aus versicherungspsychiatrischer Sicht könne daher keine Beeinträchtigung der Arbeitsfähigkeit angenommen werden.
2.3. Die Vorinstanz stellte nicht auf dieses Gutachten ab. Sie hielt fest, es erfülle zwar an sich die Anforderungen an die Beweiskraft eines Gutachtens. Dr. E.________ habe jedoch trotz einschränkender Auswirkungen der von ihm diagnostizierten Neurasthenie auf die Arbeitsfähigkeit eine Arbeitsunfähigkeit in Anwendung der "Überwindbarkeitspraxis" aus versicherungspsychiatrischer Sicht verneint. Die Vorinstanz hielt dem entgegen, die "Überwindbarkeitspraxis" finde auf Ansprüche aus einer Taggeldversicherungen keine Anwendung. Stattdessen seien echtzeitliche Atteste der behandelnden Ärzte heranzuziehen. Solche habe Dr. G.________ am 11. Mai 2012 und am 6. Juli 2012 zuhanden der IV ausgestellt. Dr. G.________, welche die psychiatrische Weiterbehandlung der Beschwerdegegnerin im Ambulatorium des Psychiatrischen Zentrums St. Gallen ab 1. März 2012 übernommen hatte, sei von einer vollen Arbeitsunfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Aussendienstmitarbeiterin und von der Zumutbarkeit der Aufnahme einer angepassten Tätigkeit zu 30 % ab 1. Mai 2012 bis 30. Juni 2012 ausgegangen. Diese Arbeitsfähigkeit habe sie für in nächster Zeit auf 50 % steigerbar gehalten.
2.4. Die Beschwerdeführerin beanstandet, dass die Vorinstanz die Überwindbarkeitsrechtsprechung bei somatoformen Schmerzstörungen nach BGE 130 V 352 im vorliegenden Fall für nicht anwendbar gehalten habe, obwohl das Bundesgericht im Urteil 4A_5/2011 befunden habe, dass die Überwindbarkeitsrechtsprechung auch im Bereich von Taggeldleistungen nach VVG zu berücksichtigen sei. Wie es sich damit verhält, kann indessen offen bleiben. Die Frage nach der Anwendbarkeit der Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352 ist nämlich für die Entscheidung des vorliegenden Falles nicht ausschlaggebend, da sich die Beweiswürdigung der Vorinstanz, mithin die Beurteilung der Arbeitsunfähigkeit aufgrund der vorhandenen medizinischen Unterlagen, unabhängig davon Die Beweiswürdigung ist nicht schon dann willkürlich, wenn sie nicht mit der Darstellung der beschwerdeführenden Partei übereinstimmt, sondern bloss, wenn sie offensichtlich unhaltbar ist (BGE 135 II 356 E. 4.2.1; 129 I 8 E. 2.1).
2.5. Auch unter dem Aspekt der Gewährung einer angemessenen Übergangsfrist, um den Wechsel in eine angepasste Tätigkeit vorzubereiten (dazu BGE 133 III 527 E. 3.2.1 S. 531), ist die Klagegutheissung nicht zu beanstanden:
 
3.
Die Beschwerde erweist sich als unbegründet und ist abzuweisen. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend wird die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.-- zu entschädigen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, Abteilung III, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 17. Dezember 2014
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Klett
Der Gerichtsschreiber: Kölz