Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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{T 0/2}
6B_622/2014
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Urteil vom 20. Januar 2015
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber Held.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Armin Durrer,
Beschwerdeführer,
gegen
1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
Frey-Herosé-Strasse 20, Wielandhaus, 5001 Aarau,
2. A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Renate Senn,
Beschwerdegegnerinnen.
Gegenstand
Vergewaltigung; Willkür,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, vom 8. Mai 2014.
Erwägungen:
1.
Die Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach stellte das aufgrund einer Strafanzeige von A.________ gegen X.________ eröffnete Strafverfahren wegen sexueller Nötigung und Vergewaltigung am 10. Dezember 2010 ein. Die Beschwerdekammer des Obergerichts des Kantons Aargau hiess die hiergegen von A.________ erhobene Beschwerde am 5. Mai 2011 gut und wies die Staatsanwaltschaft an, Anklage zu erheben. Das Bezirksgericht Brugg sprach X.________ am 28. Februar 2012 vom Vorwurf der sexuellen Nötigung und Vergewaltigung frei und wies die Zivilforderungen von A.________ ab.
A.________ focht das Urteil des Bezirksgerichts Brugg an. Das Obergericht des Kantons Aargau sprach X.________ am 8. Mai 2014 im schriftlichen Berufungsverfahren vom Vorwurf der sexuellen Nötigung frei und verurteilte ihn wegen Vergewaltigung zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von drei Jahren. Es verpflichtete ihn, A.________ eine Genugtuung von Fr. 10'000.-- zu zahlen.
2.
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben, er sei vom Vorwurf der Vergewaltigung freizusprechen, und die Zivilforderungen seien abzuweisen. Er rügt eine willkürliche Beweiswürdigung und eine unrichtige Anwendung von Bundesrecht. Das Gutachten des Psychiatrischen Dienstes Aargau AG (PDAG) vom 13. März 2014 sei nicht schlüssig und komme zu keinen klaren Ergebnissen. Es stehe im Widerspruch zu den Aussagen der Mutter, der Beiständin und der behandelnden Psychiaterin der Beschwerdegegnerin 2. Er habe nicht erkennen können, dass die Beschwerdegegnerin 2 ihre Ablehnung des Geschlechtsverkehrs nicht zum Ausdruck habe bringen und sich nicht wehren bzw. um Hilfe rufen können. Dies ergebe sich schon aus der Tatsache, dass hinsichtlich der Fähigkeit der Beschwerdegegnerin 2 zur Willensäusserung ein Gutachten erforderlich gewesen ist. Zudem verletze die Vorinstanz Art. 190 Abs. 1 StGB. Sie lege nicht dar, inwieweit der Beschwerdeführer die Beschwerdegegnerin 2 zum Geschlechtsverkehr gedrängt habe. Indem er sich mit seinem Körpergewicht auf sie gelegt hat, habe er kein grösseres Mass an körperlicher Kraft aufgewendet, als zum blossen Vollzug des Aktes (in Missionarsstellung) notwendig gewesen sei. Der Beschwerdegegnerin 2 wäre ohne Weiteres zumutbar gewesen, sich zu wehren.
Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau sowie A.________ haben auf Vernehmlassungen verzichtet.
3.
Die Vorinstanz erwägt, aufgrund der glaubhaften und nachvollziehbaren Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 sei erstellt, dass der (unbestrittene) Geschlechtsverkehr gegen deren Willen stattgefunden habe. Laut Gutachten des PDAG sei davon auszugehen, der Beschwerdeführer habe aufgrund der geistigen Behinderung der Beschwerdegegnerin 2 nicht nur damit rechnen müssen, diese lehne den Geschlechtsverkehr mit ihm ab, sondern erkennen können, dass sie ihre Ablehnung nicht direkt habe zum Ausdruck bringen und sich nicht wehren respektive um Hilfe schreien können. Dennoch habe er sich über ihren erkennbaren Willen hinweggesetzt und im Wissen darum, dass sich die Beschwerdegegnerin 2 nur ungenügend habe wehren können, auf den Geschlechtsverkehr gedrängt. Er habe sich so auf sie gelegt, dass es ihr nicht mehr gelungen sei, unter ihm wegzurutschen. Damit habe er ihre psychische Widerstandsfähigkeit gebrochen, so dass sie den Beischlaf duldete, was er in Kauf genommen habe.
Dass im Gutachten des PDAG von Mutmassungen und Wahrscheinlichkeiten die Rede sei, beeinträchtige dessen Erkenntnisse nicht. Menschliches Verhalten lasse sich kaum je rationalisieren, und es könne nie mit abschliessender Sicherheit vorausgesagt werden, wie sich eine Person in einer bestimmten Situation tatsächlich verhalten werde. Das Gutachten diene auch nicht zur Erstellung des Sachverhalts, sondern einzig als Stütze der Erkenntnisse, zu denen das Gericht in Würdigung der gesamten Umstände gelange.
4.
4.1. Das Bundesgericht hat in seiner jüngeren Rechtsprechung - der auch Entscheide der Vorinstanz zugrunde lagen (Urteile 6B_4/2014 vom 28. April 2014 E. 4; 6B_599/2012 vom 5. April 2013 E. 3.3.2 und 4.3) - wiederholt betont, dass das Berufungsverfahren grundsätzlich mündlich ist und das schriftliche Berufungsverfahren nach der Intention des Gesetzgebers die Ausnahme bildet (BGE 139 IV 290 E. 1.1 S. 291 f.; Urteile 6B_419/2013 vom 26. September 2013 E. 1.1; 6B_634/2012 vom 11. April 2013 E. 2.3.2; je mit Hinweisen; vgl. auch Botschaft zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts vom 21. Dezember 2005, BBl 2006 1316 Ziff. 2.9.3.2 zu Art. 412 StPO). Aussagen sind in der Regel vom urteilenden Gericht zu würdigen (BGE 137 IV 122 E. 33). In Situationen, in denen "Aussage gegen Aussage" steht, ist die unmittelbare Wahrnehmung der aussagenden Personen durch das Gericht unverzichtbar, andernfalls beruht die Aussagenwürdigung auf einer unvollständigen Grundlage (letztmals Urteile 6B_529/2014 vom 10. Dezember 2014 E. 4.4.1 - 4.4.3, zur Publikation vorgesehen; 6B_98/2014 vom 30. September 2014 E. 3.8; vor Erlass des angefochtenen Entscheids: Urteile 6B_856/2013 vom 3. April 2014 E. 2.2; 6B_718/2013 vom 27. Februar 2014 E. 2.5; je mit Hinweisen).
4.2. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung erweist sich in mehrfacher Hinsicht als unvollständig und somit als willkürlich. Die Vorinstanz würdigt die Aussagen des Beschwerdeführers und weiterer Auskunftspersonen nicht. Sie beschränkt sich über weite Strecken darauf, die Einlassungen der Beschwerdegegnerin 2 wiederzugeben, ohne sich mit diesen im Einzelnen inhaltlich auseinanderzusetzen und diese auf ihre Schlüssigkeit oder allfällige Widersprüche zu überprüfen (vgl. hierzu: Urteil des Bezirksgerichts Brugg vom 28. Februar 2012, act. 375 ff.; Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach vom 10. Dezember 2010, act. 213). Es ist nicht ersichtlich, wie die Vorinstanz ohne persönlichen Eindruck der Beschwerdegegnerin 2 beurteilen will, ob deren belastende Aussagen glaubhaft und überzeugend sind. Derartige Feststellungen sind nur gestützt auf die Einvernahmeprotokolle und ohne Würdigung der Aussagen sämtlicher Auskunftspersonen sowie der entgegenstehenden Einlassungen des Beschwerdeführers nicht möglich.
Zudem war die persönliche Einvernahme der Beschwerdegegnerin 2 und des Beschwerdeführers durch die Vorinstanz Voraussetzung, um das Gutachten des PDAG, das hinsichtlich des Verhaltens der Beschwerdegegnerin 2 in Drucksituationen nur Mutmassungen und Wahrscheinlichkeiten äussert und diesbezüglich von den Aussagen der Mutter und der Beiständin der Beschwerdegegnerin 2 abweicht, auf dessen Schlüssigkeit zu überprüfen. Die Vorinstanz verkennt, dass die Beurteilung, wie sich die Beschwerdegegnerin 2 in Drucksituationen verhält bzw. ob dieses Verhalten für Dritte erkennbar ist, keine forensisch-psychiatrische Fragestellung beinhaltet, die das Fachwissen eines medizinischen Sachverständigen erfordert, sondern eine vom Gericht eigenständig vorzunehmende Sachverhaltsfeststellung respektive Beweiswürdigung betrifft. Die behandelnde Psychiaterin der Beschwerdegegnerin 2 hält in ihrer Notiz über das Erstgespräch mit der Beschwerdegegnerin 2 fest, diese befinde sich "im EPFD in Behandlung nach Vergewaltigung" und habe sexuelle Übergriffe auf sie als Siebenjährige sowie eine Vergewaltigung als Vierzehnjährige geschildert. Der gerichtlich zu beurteilende Vorfall vom 12. Januar 2010 wird hingegen nicht erwähnt. Ergänzungsfragen an den Gutachter und die gerichtliche Einvernahme der Psychiaterin, die im Rahmen der Gutachtenerstellung nicht kontaktiert wurde, hätten sich aufgedrängt und erscheinen für eine umfassende Beurteilung unumgänglich.
5.
Die Beschwerde ist im Verfahren nach Art. 109 BGG gutzuheissen und die Sache zur Sachverhaltsfeststellung zurückzuweisen. Insofern kann offenbleiben, ob der - nach Aussagen der Beschwerdegegnerin 2 - schlanke und 170 cm grosse Beschwerdeführer Gewalt im Sinne von Art. 190 StGB angewendet hat, indem er sich auf die laut Gutachten des PDAG 164 cm grosse und 75 kg schwere Beschwerdegegnerin 2 gelegt hat und ihr somit verunmöglicht habe, unter ihm wegzurutschen.
6.
Es sind keine Gerichtskosten zu erheben, da die Beschwerdegegnerin 2 keine Anträge gestellt hat ( Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG ). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen, das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 8. Mai 2014 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Aargau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- auszurichten.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 1. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. Januar 2015
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Held