Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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{T 0/2}
9C_801/2014
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Urteil vom 10. März 2015
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.
Verfahrensbeteiligte
A._________,
Beschwerdeführer,
gegen
Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt,
Rechtsdienst, Grenzacherstrasse 62, 4005 Basel,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Krankenversicherung (Versicherungsunterstellung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 19. August 2014.
Sachverhalt:
A.
Der in Deutschland wohnhafte A._________ arbeitete ab ... 2002 aufgrund einer für die ganze Schweiz gültigen Grenzgängerbewilligung (G) beim Betrieb B.________ in Basel. Im November 2013 gelangte er an die Gemeinsame Einrichtung KVG und beantragte, in eine "gesetzliche Schweizer Krankenversicherung" zu wechseln, wozu er eine Bestätigung seines Versicherungsstatus benötige. Mit Verfügung vom 7. Januar 2014 lehnte das Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt das Gesuch von A._________ um "Aufhebung der Befreiung von der schweizerischen Krankenversicherungspflicht" ab, woran es mit Einspracheentscheid vom 10. Februar 2014 festhielt.
B.
Die Beschwerde des A._________ wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt nach zweifachem Schriftenwechsel mit Entscheid vom 19. August 2014 ab.
C.
A._________ hat Beschwerde eingereicht mit dem Antrag, es sei ihm "ein neues Optionsrecht zu gewähren".
Das Amt für Sozialbeiträge Basel-Stadt und das Bundesamt für Gesundheit haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
Erwägungen:
1.
Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG); es ist folglich weder an die in der Beschwerde vorgetragenen Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 134 I 65 E. 1.3 S. 67 f.; 134 V 250 E. 1.2 S. 252). Das Bundesgericht prüft unter Berücksichtigung der Begründungspflicht ( Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG sowie Art. 106 Abs. 2 BGG) indessen nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 134 I 313 E. 2 S. 315; 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
2.
2.1. Der in Deutschland wohnhafte Beschwerdeführer arbeitete ab ... 2002 als Grenzgänger in Basel. In diesem Zeitpunkt hatte er die Möglichkeit, der schweizerischen obligatorischen Krankenversicherung nach KVG beizutreten, wobei ein entsprechendes Gesuch innert sechs Monaten nach Beginn der Gültigkeit der Grenzgängerbewilligung zu stellen war (aArt. 3 Abs. 1 KVV und aArt. 7 Abs. 4 KVV, je in der bis 31. Mai 2002 geltenden Fassung). Diese Frist war bei Inkrafttreten des Abkommens vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen [FZA]; SR 0.142.112.681) und der damit einhergehenden Änderungen von KVG und KVV nicht abgelaufen. Die neue Ordnung war mangels spezieller Übergangsbestimmungen grundsätzlich sofort anwendbar (vgl. BGE 128 V 315 und Urteil 9C_921/2008 vom 23. April 2009 E. 5).
Die im Rahmen des FZA, insbesondere im Verhältnis der Schweiz zu Deutschland anwendbaren Verordnungen (EWG) des Rates Nr. 1408/71 vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.1), und Nr. 574/72 vom 21. März 1972 über die Durchführung der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (SR 0.831.109.268.11), wurden zum 1. April 2012 ersetzt. Seither gelten die neuen Verordnungen (EG) des Europäischen Parlaments und des Rates Nr. 883/2004 vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit und Nr. 987/2009 vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit. Diese Änderung, soweit hier von Interesse, ist nach zutreffender Auffassung der Vorinstanz ohne Bedeutung für die materiell streitige Frage, ob der Beschwerdeführer Anspruch darauf hat, dass er und allenfalls weitere Familienangehörige, insbesondere die beiden Kinder, der schweizerischen obligatorischen Krankenpflegeversicherung nach KVG und dazugehörige Verordnungen beitreten können.
2.2. Das kantonale Sozialversicherungsgericht ist aufgrund der einschlägigen staatsvertraglichen Bestimmungen zutreffend von der Anwendbarkeit der schweizerischen Rechtsvorschriften (ab 1. Juni 2002) ausgegangen. Danach gilt Folgendes.
2.2.1. Nach Art. 3 Abs. 3 lit. a KVG kann der Bundesrat die Versicherungspflicht auf Personen ohne Wohnsitz in der Schweiz ausdehnen, die in der Schweiz tätig sind. Gemäss Art. 1 Abs. 2 lit. d KVV sind u.a. versicherungspflichtig Personen, welche in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wohnen und nach dem in Artikel 95a Buchstabe a des Gesetzes genannten Abkommen vom 21. Juni 1999 zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft einerseits und der Europäischen Gemeinschaft sowie ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Freizügigkeit (Freizügigkeitsabkommen) sowie seinem Anhang II der schweizerischen Versicherung unterstellt sind. Versicherungspflichtige Personen nach dieser Bestimmung sind verpflichtet, sich innert drei Monaten nach Entstehung der Versicherungspflicht in der Schweiz zu versichern. Versichern sie sich innert dieser Frist, so beginnt die Versicherung im Zeitpunkt der Unterstellung unter die schweizerische Versicherung. Versichern sie sich später, beginnt die Versicherung im Zeitpunkt des Beitritts (Art. 7 Abs. 8 KVV i.V.m. Art. 5 Abs. 1 Satz 2 KVG).
Nach Art. 2 Abs. 6 KVV sind auf Gesuch hin von der Versicherungspflicht ausgenommen Personen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union wohnen, sofern sie nach dem Freizügigkeitsabkommen sowie seinem Anhang II von der Versicherungspflicht befreit werden können und nachweisen, dass sie im Wohnstaat und während eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union und in der Schweiz für den Krankheitsfall gedeckt sind.
2.2.2. Nach Art. 3 Abs. 1 KVV werden nicht der Versicherungspflicht nach Artikel 1 Absatz 2 Buchstaben d und e unterstellte Grenzgänger und Grenzgängerinnen, die in der Schweiz eine Erwerbstätigkeit ausüben, sowie ihre Familienangehörigen, sofern diese im Ausland nicht eine krankenversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit ausüben, auf eigenes Gesuch hin der schweizerischen Versicherung unterstellt. Dazu müssen sie sich gemäss Art. 7 Abs. 4 KVV innert drei Monaten nach Beginn der Gültigkeit der Grenzgängerbewilligung versichern. Bei rechtzeitigem Beitritt beginnt die Versicherung im Zeitpunkt des Beginns der Gültigkeit der Bewilligung. Versichern sie sich später, beginnt die Versicherung im Zeitpunkt des Beitritts.
3.
3.1. Der Beschwerdeführer, der Wohnsitz in Deutschland hat und seit ... 2002 in der Schweiz arbeitet, fällt unter Art. 1 Abs. 2 lit. d KVV. Davon ist offenbar auch die Vorinstanz ausgegangen. Jedenfalls hat sie diese Bestimmung bei den Rechtsgrundlagen aufgeführt; Art. 3 Abs. 1 KVV hat sie dagegen nirgends erwähnt. Damit unterstand er aber ungeachtet einer Krankenversicherungsdeckung im Wohnstaat ab 1. Juni 2002 der Versicherungspflicht in der Schweiz und er hatte sich hier zu versichern. Die Ausnahme von dieser Versicherungspflicht erforderte nach Art. 2 Abs. 6 KVV ein entsprechendes Gesuch, welches nach Anhang II FZA (Abschnitt A Ziff. 1 lit. i Abs. 3b/aa) grundsätzlich innerhalb von drei Monaten nach Entstehung der Versicherungspflicht in der Schweiz zu stellen war (BGE 136 V 295 E. 2.3.3 S. 301). Das ist unbestrittenermassen bis heute nicht geschehen.
3.2. Nach Auffassung der Vorinstanz hatte der Beschwerdeführer ab Inkrafttreten des FZA am 1. Juni 2002 die Wahl gehabt, entweder eine Krankenversicherung in der Schweiz abzuschliessen oder eine (gesetzliche oder private) Versicherungsdeckung in seinem Wohnstaat in Anspruch zu nehmen. Da er seit Beginn der Erwerbstätigkeit in Basel in Deutschland kranken- und pflegeversichert gewesen sei und sich nicht bis 31. Dezember 2002 in der Schweiz krankenversichert habe, hätte er sich sinngemäss für die zweite Variante entschieden. Ebenso habe er nicht von der Möglichkeit der Befreiung von der Aufhebung der schweizerischen Krankenversicherungspflicht binnen drei Monaten nach der Heirat und der Geburt der beiden Kinder Gebrauch gemacht. Damit habe er das - grundsätzlich einmalige und unwiderrufliche - Optionsrecht (mehrfach) stillschweigend bzw. faktisch zugunsten der (Weiter-) Versicherung in seinem Wohnstaat Deutschland ausgeübt, weshalb ein Wechsel seines Krankenversicherungsstatus im November 2013 ausser Betracht falle.
3.3. Bei Personen, die nach Art. 1 Abs. 2 lit. d KVV versicherungspflichtig sind, besteht ein eigentliches Optionsrecht lediglich insofern, als sie die Befreiung von der Unterstellung unter die schweizerische obligatorische Krankenpflegeversicherung verlangen können unter der Voraussetzung, dass eine (gleichwertige) Versicherung im Wohnstaat besteht (BGE 136 V 295 E. 2.3.2-3 S. 300 f.; 135 V 339 E. 4.3.2 S. 343 f.; 131 V 202 E. 2.2.1 S. 204 ff.; alle betreffend Grenzgänger, die im Ausland wohnten und in der Schweiz arbeiteten). Aus dieser gesetzlichen Konzeption bzw. aus dem Grundsatz der Versicherungspflicht am Erwerbsort folgt, dass das Recht, davon ausgenommen zu sein, nicht stillschweigend (konkludent) ausgeübt werden kann. Nach Art. 2 Abs. 6 KVV ist denn auch ausdrücklich ein Gesuch zu stellen und der Nachweis zu erbringen, dass im Wohnstaat und während eines Aufenthalts in einem anderen Mitgliedstaat der EU und in der Schweiz Deckung für den Krankheitsfall besteht (vgl. Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Band XIV, 2. Aufl. 2007, S. 423 f. Rz. 76). Das im (nicht verbindlichen) Merkblatt "Obligatorische Krankenversicherung: Kurzinformation für Grenzgängerinnen und Grenzgänger mit EU-/EFTA-Bürgerrecht mit Wohnsitz in Deutschland, Österreich oder Italien und Erwerbsort in Basel-Stadt" des Beschwerdegegners und der Gemeinsamen Einrichtung KVG zum Optionsrecht Gesagte trifft auf Personen zu, die nach Art. 3 Abs. 1 KVV nicht der Versicherungspflicht unterstellt sind (vgl. dazu Eugster, a.a.O., S. 418 Rz. 56). Abgesehen davon können solche Personen nach dem klaren Wortlaut von Art. 7 Abs. 4 Satz 3 KVV jederzeit ein Beitrittsgesuch mit Wirkung ex nunc stellen, was unter dem Gesichtspunkt des Gleichbehandlungsgebots (Art. 8 Abs. 1 BV) bzw. verfassungskonformer Auslegung von Verordnungsrecht (BGE 137 V 20 E. 5.1 S. 26) von Bedeutung ist.
4.
Der angefochtene Entscheid, der dem Beschwerdeführer und seinen Familienangehörigen, insbesondere den beiden Kindern den Beitritt zur schweizerischen obligatorischen Krankenpflegeversicherung verwehrt, verletzt Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG). Der Beschwerdegegner wird darüber neu zu verfügen haben.
5.
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdegegner kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 19. August 2014 und der Einspracheentscheid des Amtes für Sozialbeiträge Basel-Stadt vom 10. Februar 2014 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie über das Gesuch des Beschwerdeführers, allenfalls zusammen mit weiteren Familienangehörigen zur schweizerischen obligatorischen Krankenpflegeversicherung zu wechseln, neu verfüge.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 10. März 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Glanzmann
Der Gerichtsschreiber: Fessler