BGer 5A_229/2015 |
BGer 5A_229/2015 vom 30.04.2015 |
{T 0/2}
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5A_229/2015
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Urteil vom 30. April 2015 |
II. zivilrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter von Werdt, Präsident,
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Bundesrichter Marazzi, Bovey,
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Gerichtsschreiber Möckli.
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Verfahrensbeteiligte |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwältin Fabienne Brunner,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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B.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Silvio Mayer,
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Beschwerdegegner,
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C.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Oliver Bulaty.
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Gegenstand
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Rückführung eines Kindes,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts
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des Kantons Aargau, Kammer für Kindes- und Erwachsenenschutz, vom 19. Februar 2015.
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Sachverhalt: |
A. A.________ und B.________, beide Jahrgang 1975, sind die Eltern der am xx.xx.2005 als ihr eheliches Kind in Acapulco geborenen Tochter C.________. Beide Eltern haben seit Beginn ihrer Beziehung im März 2001 mit Ausnahme eines Jahres immer in Mexiko gelebt und dort auch ihren letzten gemeinsamen Wohnsitz gehabt. Im Zuge ihrer Ende Oktober 2013 erfolgten Trennung schlossen sie eine Vereinbarung, wonach ihnen die elterliche Sorge weiterhin gemeinsam zukommen, C.________ zukünftig bei der Mutter wohnen, dem Vater ein ausgedehntes Besuchsrecht zustehen und das Verlassen der Stadt oder des Landes mit dem Kind von der schriftlichen Zustimmung des anderen Elternteils abhängen soll. Im Juni 2014 reiste der Vater mit der Tochter im Einverständnis der Mutter für Ferien in die Schweiz. Er versprach der Mutter, das Kind am 16. September 2014 wieder zurück nach Mexiko zu bringen. Am 24. August 2014 teilte er ihr mit, er werde C.________ nicht mehr nach Mexiko reisen lassen.
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B. Am 26. Januar 2015 stellte die Mutter beim Obergericht des Kantons Aargau ein Gesuch um Rückführung des Kindes. Am 11. Februar 2015 wurde C.________ gerichtlich angehört. Am 17. Februar 2015 scheiterte der Mediationsversuch der Parteien. An der Verhandlung vom 19. Februar 2015 nahmen die Eltern und der Vertreter des Kindes teil. Mit Urteil gleichen Datums wies das Obergericht das Rückführungsgesuch ab.
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C. Gegen den schriftlich begründeten Entscheid hat die Mutter am 18. März 2015 eine Beschwerde erhoben mit den Begehren um Gutheissung des Rückführungsgesuchs und Anweisung des Departements Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau, den Rückführungsentscheid unverzüglich umzusetzen. Mit Vernehmlassungen vom 13. April 2015 bzw. 14. April 2015 verlangen der Kindesvertreter und der Vater die Abweisung der Beschwerde.
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Erwägungen: |
1. Bei Rückführungsentscheiden nach dem Haager Übereinkommen über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung (HKÜ, SR 0.211.230.02) geht es um die Regelung der Rechtshilfe zwischen den Vertragsstaaten (BGE 120 II 222 E. 2b S. 224), die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Respektierung und Durchsetzung ausländischen Zivilrechts steht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 1 BGG; BGE 133 III 584). Gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, welches als einzige kantonale Instanz entschieden hat (Art. 7 Abs. 1 des Bundesgesetzes über internationale Kindesentführung und die Haager Übereinkommen zum Schutz von Kindern und Erwachsenen, BG-KKE, SR 211.222.32), steht die Beschwerde in Zivilsachen offen. Mit ihr kann insbesondere die Verletzung von Bundesrecht (Art. 95 lit. a BGG) und von Völkerrecht (Art. 95 lit. b BGG) gerügt werden, wozu als Staatsvertrag auch das HKÜ gehört. Demgegenüber ist das Bundesgericht an die Sachverhaltsfeststellungen der Vorinstanz grundsätzlich gebunden (Art. 105 Abs. 1 BGG). Diesbezüglich kann einzig eine offensichtlich unrichtige, d.h. willkürliche Sachverhaltsfeststellung gerügt werden, wofür das strenge Rügeprinzip zum Tragen kommt und appellatorische Ausführungen ungenügend sind (Art. 97 Abs. 1 BGG; BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266).
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2. Das Obergericht ist von einem widerrechtlichen Zurückhalten des Kindes im Sinn von Art. 3 lit. a HKÜ ausgegangen. Es hat befunden, gemäss mexikanischem Recht bleibe das gemeinsame Sorge- und Aufenthaltsbestimmungsrecht nach einer Trennung oder Scheidung der Eltern bestehen und überdies hätten die Eltern dies nach ihrer Trennung auch ausdrücklich so vereinbart. Gemäss Bestätigung der mexikanischen Zentralbehörde könne diesfalls der Inhaber der Obhut nach mexikanischem Recht nicht einseitig über einen Wohnsitzwechsel des Kindes entscheiden. Die Mutter habe lediglich für einen beschränkten Ferienaufenthalt ihre Zustimmung gegeben. Durch den einseitigen Entscheid des Vaters, C.________ nicht mehr nach Mexiko zurückzubringen, verletze er das Sorgerecht der Mutter. Grundsätzlich bestehe somit eine Rückführungspflicht.
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3. Die Mutter bringt in ihrer Beschwerde vor, dass sich C.________ angesichts ihres Alters noch keine unbeeinflusste Meinung über die Rückführung bilden könne. Es sei davon auszugehen, dass sie unter starkem Einfluss ihres Vaters stehe. Es sei für C.________ nicht abschätzbar, ob die Erzählungen ihres Vaters der Wahrheit entsprächen. Sie habe bei ihrer Anhörung vor Gericht ausgeführt, in der Schweiz bleiben zu wollen, weil sie Angst vor Mexiko habe. Sie sei aber nicht über den Grund ihrer Angst befragt worden und Näheres gehe aus dem Anhörungsprotokoll nicht hervor. In Mexiko habe C.________ nie über solche Ängste berichtet. Im Rahmen eines Gespräches über Skype habe sie einmal erwähnt, dass ihr der Vater erzähle, in Mexiko würden jedes Jahr Tausende von Kindern entführt und umgebracht. Sodann habe sie auch erwähnt, sie hätte Angst vor Mexiko, weil ihr Vater dann ins Gefängnis gehen müsste. Es müsse deshalb davon ausgegangen werden, dass der Vater C.________ mit Schauermärchen über Mexiko füttere, um in ihr Ängste hervorzurufen. Auch das Obergericht gehe davon aus, dass der Wille des Kindes durch den Vater beeinflusst sei. Es mute abenteuerlich an und unterlaufe den Sinn des Übereinkommens, wenn das Obergericht zum Schluss komme, inzwischen habe das Kind die Geschichten so verinnerlicht, dass sie seinem eigenen Willen entsprächen, welchen es zu respektieren gelte. Sie (die Beschwerdeführerin) sei in der Lage, C.________ die Ängste bei einer Rückkehr zu nehmen, indem sie die Tochter über die tatsächliche Situation aufkläre und sie mit den ihr vertrauten Personen zusammenführe. C.________ werde rasch merken, dass ihre Befürchtungen, wonach sie in Schiessereien oder Entführungen verwickelt würde oder ihr Vater ins Gefängnis müsse, nicht zuträfen.
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4. Vorgängig zum Thema der Beschwerde ist der Einwand des Vaters abzuhandeln, wonach es an der Ausübung des Sorgerechts durch die Mutter in Mexiko gefehlt habe, welche gemäss Art. 3 Abs. 1 lit. b HKÜ Voraussetzung für das widerrechtliche Verbringen oder Zurückhalten sei. Dies kann im Rahmen der Vernehmlassung vorgebracht werden, weil der Vater zufolge Abweisung des Rückführungsgesuchs weder eine Veranlassung noch die Möglichkeit hatte, den obergerichtlichen Entscheid selbst anzufechten.
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5. Zu prüfen ist sodann der Ausschlussgrund von Art. 13 Abs. 2 HKÜ, welcher das Thema der Beschwerde bildet.
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5.1. Gemäss Art. 13 Abs. 2 HKÜ kann von einer Rückführung abgesehen werden, wenn festgestellt wird, dass sich das Kind der Rückgabe widersetzt und es ein Alter und eine Reife erreicht hat, die eine Berücksichtigung seiner Meinung als angebracht erscheinen lassen.
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5.2. Die Mutter hatte im kantonalen Verfahren vorgebracht, während der Skype-Kontakte stehe stets der Vater neben C.________ und überwache all ihre Aussagen, so dass sie ihre Meinung gar nie frei äussern könne. Indes hat C.________ ihren Wunsch, nicht nach Mexiko zurückzugehen, mehrmals kundgetan, als sie nachweislich nicht unter direkter Beobachtung des Vaters stand, nämlich bei der gerichtlichen Anhörung sowie gegenüber dem Kindesvertreter und dem Kinderarzt Dr. D.________, so dass die Äusserung ohne weiteres dem Kind selbst zugeschrieben werden kann. Das Obergericht ist allerdings davon ausgegangen, dass dieses nicht einen autonom gebildeten Willen geäussert, sondern die väterlichen Ansichten und Erzählungen verinnerlicht hat, und zwar so stark, dass ungeachtet der Fremdbestimmung auf die Äusserungen des Kindes abzustellen und dieses nicht zurückzuführen sei.
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5.3. Beruhen die Äusserungen des Kindes nicht auf autonomer Willensbildung, bedeutet dies nach dem in E. 5.1 Gesagten in (staatsvertrags-) rechtlicher Hinsicht, dass es - unabhängig vom Alter des Kindes - an der entscheidenden Voraussetzung für die Anwendung von Art. 13 Abs. 2 HKÜ gebricht.
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6. Gemäss Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ ist der ersuchte Staat nicht zur Rückgabe des Kindes verpflichtet, wenn die sich der Rückgabe widersetzende Person oder Behörde nachweist, dass dies mit einer schwerwiegenden Gefahr eines körperlichen oder seelischen Schadens für das Kind verbunden ist oder das Kind auf andere Weise in eine unzumutbare Lage bringt (Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ).
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6.1. Nach allgemeiner Rechtsprechung ist der Ausschlussgrund der schwerwiegenden Gefahr restriktiv auszulegen (Urteil 5A_913/2010 vom 4. Februar 2011 E. 5.2; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Grosse Kammer, Entscheid Nr. 27853/09 vom 26. November 2013 Rz. 107; Bundesverfassungsgericht Deutschland, Entscheid BvR 1206/98 vom 29. Oktober 1998 Rz. 48; Oberster Gerichtshof Österreich, Entscheide 5Ob47/09m vom 12. Mai 2009 und 2Ob103/09z vom 16. Juli 2009). Eine schwerwiegende Gefahr liegt beispielsweise vor bei einer Rückführung in ein Kriegs- oder Seuchengebiet oder wenn zu befürchten ist, dass das Kind nach der Rückgabe misshandelt oder missbraucht wird, ohne dass die Behörden rechtzeitig einschreiten würden (Urteile 5A_913/2010 vom 4. Februar 2011 E. 5.1; 5A_674/2011 vom 31. Oktober 2011 E. 3.2; 5A_840/2011 vom 13. Januar 2012 E. 3.1).
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6.2. Vorliegend kann ausgeschlossen werden, dass dem Kind aufgrund der Art der Unterbringung in irgendeiner Weise ein Schaden drohen würde. Noch als Familie sind die Eltern mit dem Kind aus Acapulco - das anerkanntermassen als gefährlich gilt - nach La Paz im Bundesstaat Baja California Sur umgezogen. Nach einem weiteren Umzug innerhalb von La Paz wohnt die Mutter inzwischen, wie sie anlässlich der gerichtlichen Anhörung ausgeführt hat und was vom Vater nicht bestritten worden ist, in einem Haus mit Hinterhof und Garten in einer Gegend, wo es viele Personen aus Nordamerika hat, was sich positiv auf die Umgebung auswirke. Die Schule sei in drei Gehminuten erreichbar und C.________ könnte zu Fuss dorthin gehen. Die Mutter hat eine Ausbildung in Sozialwissenschaften und doktoriert zur Zeit auf diesem Gebiet. Sie verdiene an der Universität umgerechnet rund Fr. 730.-- bis 740.--, was ausreiche; sie sei gut organisiert mit dem Geld, habe eine sehr tiefe Miete und ihre Mutter (Grossmutter von C.________) unterstütze sie bei Bedarf zusätzlich. Bei beruflichen Abwesenheiten der Mutter würde wohl die Grossmutter, welche gerne zur Mutter nach La Paz ziehen würde, die Betreuung sicherstellen, wie sie dies schon vorher - insbesondere auch nach der Darstellung des Vaters - getan hat. Die Art der Unterbringung und Betreuung von C.________ in Mexiko dürfte sich mithin nicht allzu sehr von derjenigen in der Schweiz unterscheiden, wo der Vater nach seinen Aussagen anlässlich der gerichtlichen Anhörung von der Sozialhilfe und seiner schweizerischen Freundin lebt, wobei er mit dieser die Abmachung hat, dass er etwa Fr. 1'000.-- durch Kinderhüten dazuverdient.
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6.3. Weiter stellt sich die Frage, ob dem Kind unter Sicherheitsaspekten (Entführung oder gar Ermordung) eine Gefahr drohen könnte. Der Vater schilderte Mexiko im kantonalen Verfahren wiederholt als ein Land in einem desaströsen Zustand, in welchem geraubt, entführt und hingerichtet werde, Schutzgelder erpresst, Lösegelder gefordert und jährlich 100'000 Kinder entführt würden und überall Korruption herrsche (namentlich Stellungnahme vom 3. Februar 2015, S. 13).
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6.4. Schliesslich ist auf die in E. 5.3 angesprochene Frage einzugehen, ob C.________ bei einer Rückführung ein schwerwiegender psychischer Schaden drohen könnte. Davon ist ebenfalls nicht auszugehen. Sie wird von allen Seiten als kluges und lebendiges Kind dargestellt. Sie hat mit ihrer Mutter immer Spanisch gesprochen und wurde in Mexiko auf Englisch eingeschult. Es kann davon ausgegangen werden, dass sie - auch aufgrund ihrer guten schulischen Leistungen im ungewohnten schweizerischen Umfeld - umso mehr in Mexiko rasch wieder schulischen Anschluss fände, sei dies auf Spanisch oder auf Englisch. Im Übrigen hat C.________ an keiner Stelle über negative Vorfälle in Mexiko berichtet, welche sie selbst in irgendeiner Weise erlebt hätte. Bei der gerichtlichen Anhörung hat sie von ihren mexikanischen wie auch von ihren schweizerischen Schulkameraden gesprochen. Zumal sie sich in der Schweiz, die für sie fremd war, schnell und gut zurecht gefunden hat, darf davon ausgegangen werden, dass dem ebenso der Fall wäre, wenn sie wieder in eine ihr bereits vertraute Gegend zurückkehren würde. Was schliesslich ihre - aufgrund der väterlichen Schilderungen über Mexiko momentan zweifellos vorhandenen - Ängste anbelangt, sind keine diesbezüglichen negativen Prädispositionen bekannt, so dass es dem natürlichen Lauf der Dinge widersprechen würde, wenn sich C.________ nach einigen Wochen des konkreten Lebensalltages in Mexiko und mit der Hilfe ihrer Mutter nicht wieder von diesen befreien könnte.
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6.5. Insgesamt ergibt sich, dass keine schwerwiegenden Gefahren im Sinn von Art. 13 Abs. 1 lit. b HKÜ konkret drohen und für eine Betreuung durch die Mutter, für eine adäquate Unterbringung und für landesentsprechende schulische Möglichkeiten gesorgt ist.
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7. Nach dem Gesagten ist die Rückführung von C.________ nach Mexiko anzuordnen. Die Mutter beantragt die Erteilung eines entsprechenden Vollzugsauftrages an das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau als Vollzugsbehörde.
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8. Es werden keine Gerichtskosten erhoben und die Rechtsvertreter der Beteiligten sind aus der Gerichtskasse zu entschädigen (Art. 26 Abs. 2 HKÜ), wobei dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass die Rechtsschriften sich auf das Thema des Kindeswillens beschränkten und relativ kurz ausfielen.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. In dahingehender Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau vom 19. Februar 2015 aufgehoben und die Sache mit der verbindlichen Vorgabe der Rückführung von C.________ zur weiteren Behandlung im Sinn der Erwägungen an das Obergericht zurückgewiesen.
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2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3. Aus der Gerichtskasse wird Rechtsanwältin Fabienne Brunner mit Fr. 2'000.--, Rechtsanwalt Silvio Mayer mit Fr. 1'500.-- und Rechtsanwalt Oliver Bulaty mit Fr. 1'000.-- entschädigt.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien, C.________, dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Kindes- und Erwachsenenschutz, dem Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Justiz Zentralbehörde für Kindesentführungen schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 30. April 2015
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Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: von Werdt
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Der Gerichtsschreiber: Möckli
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