BGer 9C_912/2014
 
BGer 9C_912/2014 vom 07.05.2015
{T 0/2}
9C_912/2014
 
Urteil vom 7. Mai 2015
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Schmutz.
 
Verfahrensbeteiligte
KPT Krankenkasse AG,
Tellstrasse 18, 3014 Bern,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Bern,
Scheibenstrasse 70, 3014 Bern,
Beschwerdegegnerin,
A.________,
handelnd durch seine Eltern.
Gegenstand
Invalidenversicherung (medizinische Massnahme),
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
vom 17. November 2014.
 
Sachverhalt:
A. A.________, geboren 2001, wurde von seinen Eltern am 25. Oktober 2013 wegen eines Geburtsgebrechens (Asperger-Syndrom) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle Bern klärte die medizinische Situation ab und stellte mit Vorbescheid vom 13. März 2014 die Abweisung des Anspruchs auf medizinische Massnahmen im Allgemeinen (Art. 12 IVG) und bei Geburtsgebrechen (Art. 13 IVG) in Aussicht. Daran hielt sie nach Einwand seitens des obligatorischen Krankenpflegeversicherers KPT Krankenkasse AG und der Eltern fest. Nach Einholung des Berichts des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 22. April 2014 verneinte sie mit Verfügung vom 23. Mai 2014 den Anspruch auf medizinische Massnahmen in Form von Psychotherapie, weil die Behandlung von unbestimmter Dauer und die Prognose unklar sei.
B. Die von der KPT Krankenkasse AG gegen die Ablehnung der Kostenübernahme für die Leistungen der Psychotherapie eingereichte Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 17. November 2014 ab.
C. Die KPT Krankenkasse AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des kantonalen Entscheides. Die IV-Stelle sei zur Übernahme der Kosten der Psychotherapie als medizinische Massnahme zu verpflichten. Eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
Die Eltern von A.________ beantragen die Gutheissung der Beschwerde, die IV-Stelle deren Abweisung. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
1.1. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung übernimmt die Kosten für die Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen (Art. 25 Abs. 1 KVG). Sie übernimmt bei Geburtsgebrechen, die nicht durch die Invalidenversicherung gedeckt sind, die Kosten für die gleichen Leistungen wie bei Krankheit (Art. 27 KVG mit Verweis auf Art. 3 Abs. 2 ATSG).
Nach Art. 12 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf medizinische Massnahmen, die nicht auf die Behandlung des Leidens an sich, sondern unmittelbar auf die Eingliederung ins Erwerbsleben oder in den Aufgabenbereich gerichtet und geeignet sind, die Erwerbsfähigkeit oder die Fähigkeit, sich im Aufgabenbereich zu betätigen, dauernd und wesentlich zu verbessern oder vor wesentlicher Beeinträchtigung zu bewahren.
1.2. Art. 12 IVG bezweckt namentlich, die Aufgabenbereiche der Invalidenversicherung einerseits und der sozialen Kranken- und Unfallversicherung anderseits gegeneinander abzugrenzen. Diese Abgrenzung beruht auf dem Grundsatz, dass die Behandlung einer Krankheit oder einer Verletzung ohne Rücksicht auf die Dauer des Leidens primär in den Aufgabenbereich der Kranken- und Unfallversicherung gehört (BGE 104 V 79 E. 1 S. 81; 102 V 40 E. 1 S. 41; Urteil 9C_452/2014 vom 29. Oktober 2014 E. 2.1). Nach der Rechtsprechung sind nur solche Vorkehren von der Invalidenversicherung zu übernehmen, die nicht auf die Heilung oder Linderung labilen pathologischen Geschehens gerichtet sind. Während dies bei Erwachsenen ohne Weiteres gilt, sind bei Jugendlichen - ihrer körperlichen und geistigen Entwicklungsphase Rechnung tragend - medizinische Vorkehren trotz des einstweilen noch labilen Leidenscharakters von der Invalidenversicherung zu übernehmen, wenn ohne diese in absehbarer Zeit eine Heilung mit Defekt oder ein sonst wie stabilisierter Zustand einträte, wodurch die Berufsbildung oder die Erwerbsfähigkeit oder beide beeinträchtigt würden (BGE 98 V 214 E. 2; 105 V 19 S. 20). Die Invalidenversicherung hat daher bei Jugendlichen nicht nur unmittelbar auf die Beseitigung oder Korrektur stabiler Defektzustände oder Funktionsausfälle gerichtete Vorkehren zu übernehmen, sondern auch dann Leistungen zu erbringen, wenn es darum geht, mittels geeigneter Massnahmen einem die berufliche Ausbildung oder die künftige Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden Defektzustand vorzubeugen (BGE 105 V 19 S. 20; AHI 2000 S. 63 E. 1, AHI 2003 S. 103 E. 2; Urteil I 23/04 vom 23. September 2004 E. 4.1).
1.3. Gemäss Rz. 645-647 des ab 1. März 2014 gültigen Kreisschreibens des Bundesamtes für Sozialversicherungen über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME) kann die Invalidenversicherung bei Vorliegen erworbener psychischer Leiden, die mit grosser Wahrscheinlichkeit zu einem erheblichen, schwer korrigierbaren stabilen Defekt führen, der die spätere Ausbildung und Erwerbstätigkeit wesentlich behindert oder verunmöglicht, die erforderliche Psychotherapie übernehmen. Psychotherapeutische Massnahmen gehen nicht zu Lasten der Invalidenversicherung, wenn die Prognose unbestimmt ist und/oder die Behandlung eine medizinische Vorkehr von zeitlich unbegrenzter Dauer darstellt.
2. Zu prüfen ist, ob der Versicherte gestützt auf Art. 12 IVG Anspruch auf Psychotherapie als medizinische Massnahme der Invalidenversicherung hat. Es ist unbestritten, dass die Behandlung indiziert war. Streitig ist, ob sie einen Dauercharakter aufwies beziehungsweise die Prognose unklar war.
 
3.
3.1. Die Vorinstanz hat erwogen, gestützt auf die Berichte des psychiatrischen Dienstes B.________ vom 14. Januar 2013, 16. Januar 2014 und 4. April 2014 sei prognostisch nicht klar gewesen, ob die streitige Psychotherapie Dauercharakter habe oder nicht. Entscheidend sei, dass ein Abschluss der Behandlung nicht voraussehbar gewesen sei. Der im Juli 2014 erfolgte (der Verwaltung und der Vorinstanz am 15. September 2014 mitgeteilte) Abschluss der Therapie helfe hier nicht weiter. Denn aufgrund der prognostischen Beurteilung, wie sie bei der Prüfung des Anspruchs auf medizinische Massnahmen vorzunehmen sei, könne ein Therapieabschluss nicht mehr berücksichtigt werden. Wegen des Abschlusses lasse sich die Frage der Therapiedauer auch nicht durch weitere Abklärungen beantworten. Die Folgen der Beweislosigkeit hätten der Versicherte bzw. die Beschwerdeführerin zu tragen. Die Voraussetzungen des Anspruches auf medizinische Massnahmen gemäss Art. 12 IVG seien nicht erfüllt.
3.2. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die Ablehnung der Psychotherapie als medizinische Massnahme nach Art. 12 IVG, weil es nach der Rechtsprechung genüge, wenn diese einen psychischen und psychosozialen Entwicklungsschritt ermögliche, der seinerseits die Grundlage für den Erwerb wichtiger Fähigkeiten bilde, deren Fehlen sich später als ein nicht mehr korrigierbarer Defekt darstellen würde. Die Psychotherapie dürfe bei einem Kind im Rahmen eines Asperger-Syndroms 
 
4.
4.1. In der Begründung der Verfügung vom 23. Mai 2014 hielt die Beschwerdegegnerin fest, die Behandlung schwerer psychischer Leiden werde im Rahmen von Art. 12 IVG übernommen, wenn von einer weiteren Behandlung erwartet werden könne, dass der drohende Defekt mit den negativen Wirkungen auf die Berufsausbildung und Erwerbsfähigkeit ganz oder in wesentlichem Ausmass verhindert werde. Krankheiten, die einer Dauerbehandlung bedürften, gehörten nicht in den Zuständigkeitsbereich der Invalidenversicherung. Da die psychotherapeutische Behandlung des Versicherten von unbestimmter Dauer und die Prognose unklar sei, sei das Leistungsbegehren abzuweisen. Diese Position hat die Vorinstanz übernommen.
4.2. Im Januar 2013 war seitens des psychiatrischen Dienstes B.________ von einer längeren psychotherapeutisch-psychiatrischen Behandlung die Rede. Aus dem Bericht des psychiatrischen Dienstes B.________ vom 16. Januar 2014 geht hervor, dass die teilstationäre Behandlung voraussichtlich bis Sommer 2014 befristet ist. Für die Zeit danach beantragte der psychiatrische Dienst B.________ (ambulante) Psychotherapie. Die Prognose wurde als mit hoher Wahrscheinlichkeit günstig für den Schulbesuch und die spätere berufliche Eingliederung bezeichnet. Aus dem Bericht des psychiatrischen Dienstes B.________ vom 4. April 2014 erhellt ebenfalls, dass - aufgrund der zwar langsamen, aber deutlichen Fortschritte - eine Reintegration in die ehemalige Klasse im August 2014 angestrebt werde. Zur weiteren Konsolidierung und dem Ausbau der etablierten Strategien, vor allem bei der Rückkehr in das Regelschulsystem, werde psychotherapeutische Behandlung empfohlen.
4.3. Nach dem Gesagten ergibt sich aus den Berichten des psychiatrischen Dienstes B.________ vom 16. Januar und 4. April 2014, dass der damals 13-jährige Versicherte im Verlaufe der teilstationären Behandlung deutliche Fortschritte gemacht hat, so dass im Sommer 2014 eine Reintegration in das Regelschulsystem in Betracht gezogen wurde. Eingliederungswirksamkeit und Prognose standen dabei wie folgt fest: Der Versicherte arbeitete im Wesentlichen in Mathematik und Deutsch an Lehrmitteln der 4. und 5. Klasse sowie an frei gewählten Projekten mit. Es sei angezeigt, vor allem die 
5. Die Kosten des Verfahrens sind von der unterliegenden Beschwerdegegnerin zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung, da sie in ihrem amtlichen Wirkungskreis obsiegt (Art. 68 Abs. 3 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, vom 17. November 2014 und die Verfügung der IV-Stelle Bern vom 23. Mai 2014 werden aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle Bern zurückgewiesen, damit sie nach weiteren Abklärungen über den Anspruch des A.________ auf medizinische Massnahmen in Form von Psychotherapie neu verfüge. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, zurückgewiesen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, A.________, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 7. Mai 2015
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Glanzmann
Der Gerichtsschreiber: Schmutz