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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
[img]
{T 0/2}
6B_227/2015
Urteil vom 23. Juli 2015
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichter Oberholzer, Rüedi,
Gerichtsschreiber Briw.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Fürsprecher Franz Müller,
Beschwerdeführer,
gegen
Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Bern, Maulbeerstrasse 10, 3011 Bern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Grobe Verkehrsregelverletzung,
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Bern, Strafabteilung, 1. Strafkammer, vom 30. Januar 2015.
Sachverhalt:
A.
X.________ war am 19. März 2012 mit seinem Personenwagen auf dem Autobahnabschnitt A6 Nord Münchenbuchsee Schönbühl unterwegs, wobei sich der Verkehr auf der Normalspur aufgrund hohen Verkehrsaufkommens nur stockend fortbewegte. Kurz vor der Autobahnausfahrt Schönbühl wechselte X.________ von der Überholspur über die Normalstreifen auf den Pannenstreifen und fuhr dort mit ca. 40 km/h während maximal 150 m an mehreren Fahrzeugen rechts vorbei, bis er von einem zivilen Polizeifahrzeug angehalten wurde.
B.
Das Obergericht des Kantons Bern verurteilte X.________ am 30. Januar 2015 wegen grober Verkehrsregelverletzung (Art. 35 Abs. 1 SVG sowie Art. 36 Abs. 3 und 5 VRV i.V.m. aArt. 90 Ziff. 2 SVG) zu einer bedingten Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu Fr. 110.-- (total Fr. 1'100.--) sowie zu einer Verbindungsbusse von Fr. 440.--.
C.
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen:
1. das obergerichtliche Urteil aufzuheben, ihn der einfachen Verkehrsregelverletzung im Sinne von aArt. 90 Ziff. 1 SVG schuldig zu erklären und zu einer Busse von Fr. 500.-- zu verurteilen;
2. eventualiter ihn schuldig zu sprechen und die Sache zum Entscheid über die Sanktion an die Vorinstanz zurückzuweisen;
3. subeventualiter das Urteil aufzuheben und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen;
4. die obergerichtlichen Kosten dem Kanton Bern aufzuerlegen und für das bundesgerichtliche Verfahren keine Kosten zu erheben;
5. ihm zulasten des Kantons Bern für das ober- und bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zuzusprechen.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer anerkennt den Sachverhalt. Dieser sei aber als einfache Verkehrsregelverletzung zu würdigen.
1.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, die vorinstanzlich angeführten Urteile beträfen das klassische Rechtsüberholen auf der Autobahn mit Wiedereinschwenken auf die Fahrspur des überholten Fahrzeugs. In seiner Sache handle es sich um den völlig unterschiedlich gelagerten Fall, in dem der Lenker bei geringer Geschwindigkeit und ohne sich wieder in den Verkehr einzureihen auf dem Pannenstreifen rechts am stockenden Verkehr vorbeifährt, um zur nahe gelegenen Ausfahrt zu gelangen. Die Gefahr beim Rechtsüberholen bestehe darin, dass ein anderer Verkehrsteilnehmer überrascht unangemessen reagieren könnte (BGE 133 II 58 E. 5.2). Das sei bei mit 10 bis 20 km/h im stockenden Verkehr fahrenden Fahrzeugen nicht vorstellbar. Die Hauptgefahr bestehe in der Kollision mit Fahrzeugen, die auf die rechte Fahrspur wechseln wollen (Urteile 6B_211/2011 vom 1. Juni 2011 E. 3.3 und 6B_959/2009 vom 23. Februar 2010 E. 3.3)
Zu unterscheiden seien zwei Situationen: In der ersten, in welcher ein Fahrzeug lediglich auf dem Pannenstreifen fahre, sei eine Kollision sehr unwahrscheinlich. Die zweite betreffe das Rechtsvorbeifahren auf dem Pannenstreifen in der Nähe einer Ausfahrt. Hier müsse der den endenden Pannenstreifen befahrende Lenker mit Fahrzeugen rechnen, die von links auf den Pannenstreifen/Verzögerungsstreifen wechseln. Da hier viele Fahrzeuge an verschiedenen Stellen auf den endenden Pannenstreifen wechseln, müssten die Lenker auf der rechten Fahrspur ihrerseits mit von hinten herannahenden Fahrzeugen rechnen. Dadurch werde der Überraschungseffekt aufgehoben.
1.2. Die Vorinstanz geht davon aus, dass der Beschwerdeführer mit ca. 40 km/h an den anderen Fahrzeugen rechts vorbei fuhr. Die Fahrzeuge im Kolonnenverkehr seien merklich mehr als 10 km/h gefahren.
Fahrzeugführer müssten sich auf der Autobahn grundsätzlich darauf verlassen können, nicht plötzlich rechts überholt zu werden. Dies habe umso mehr zu gelten, als der Pannenstreifen den Fahrzeugen jederzeit für Notfälle offen stehen sollte und keine Fahrspur darstelle. Gerade in der Nähe einer Ausfahrt sei die Gefahr einer Kollision nahe. "Zwar werden Pannenstreifen und Verzögerungsstreifen bei der betreffenden Ausfahrt anfangs noch parallel geführt, der Pannenstreifen verschmälert sich jedoch und endet bald darauf, und der Verzögerungsstreifen wird zur Fahrspur, weshalb bei der Ausfahrt auf den Verzögerungsstreifen/die Fahrspur gewechselt werden muss" (Urteil S. 10).
1.3. Der Tatbestand der groben Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von aArt. 90 Ziff. 2 SVG setzt objektiv voraus, dass der Täter eine wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise missachtet und die Verkehrssicherheit ernstlich gefährdet. Eine ernstliche Gefahr für die Sicherheit anderer ist nicht erst bei einer konkreten, sondern bereits bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung gegeben. Ob eine konkrete, eine erhöhte abstrakte oder nur eine abstrakte Gefahr geschaffen wird, hängt von der Situation ab, in welcher die Verkehrsregelverletzung begangen wird. Wesentliches Kriterium für die Annahme einer erhöhten abstrakten Gefahr ist die Nähe der Verwirklichung. Die allgemeine Möglichkeit der Verwirklichung einer Gefahr genügt demnach nur zur Erfüllung des Tatbestands von aArt. 90 Ziff. 2 SVG, wenn in Anbetracht der Umstände der Eintritt einer konkreten Gefährdung oder gar einer Verletzung naheliegt (BGE 131 IV 133 E. 3.2).
1.3.1. Es ist links zu überholen (Art. 35 Abs. 1 SVG). Gemäss Art. 36 Abs. 3 VRV darf der Fahrzeugführer Pannenstreifen "nur für Nothalte benützen".
1.3.2. Das Verbot des Rechtsüberholens ist eine für die Verkehrssicherheit objektiv wichtige Vorschrift, deren Missachtung eine erhebliche Gefährdung der Verkehrssicherheit mit beträchtlicher Unfallgefahr nach sich zieht und daher objektiv schwer wiegt. Wer auf der Autobahn fährt, muss sich darauf verlassen können, dass er nicht plötzlich rechts überholt wird. Das Rechtsüberholen auf der Autobahn, wo hohe Geschwindigkeiten gefahren werden, stellt eine erhöht abstrakte Gefährdung dar (BGE 126 IV 192 E. 3). Die Irritation eines Fahrzeuglenkers, der unvermittelt rechts überholt wird, ist offensichtlich und bedarf keiner weiteren Begründung (Urteile 6B_457/2014 vom 13. Februar 2015 E. 2.4 und 6B_903/2010 vom 4. Januar 2011 E. 3.3).
Der Einwand, der überholte Fahrzeuglenker sei durch das Rechtsüberholen nicht überrascht gewesen, ändert an der Gefährlichkeit nichts. Dass der Betreffende auf einem Autobahnschenkel rechts überholt hat und diese Spur abgebaut wird, führte zu keinem anderen Ergebnis. Der überholte Fahrzeuglenker muss nicht damit rechnen, dass ein zuerst hinter ihm fahrender Wagen auf die abbauende Normalspur wechselt, um ihn anschliessend rechts zu überholen (Urteil 6B_457/2014 vom 13. Februar 2015 E. 2.4).
1.3.3. Diese Überlegungen gelten für den zu beurteilenden Sachverhalt, auch wenn es hier nicht um das verbotene Rechtsüberholen durch Ausschwenken und Wiedereinbiegen geht (Art. 8 Abs. 3 VRV). Tatsächlich liegt ein Rechtsüberholen zum Zwecke des schnelleren Fortkommens mit einer die korrekt fahrenden Lenker gefährdenden Regelverletzung vor. Der Verzögerungsstreifen dient dem Einspuren beim Verlassen der Autobahn. Vorher kommt im Bereich der Autobahnausfahrt ein Rechtseinspuren nicht in Betracht (BGE 114 IV 55 E. 2b). In der tatsächlichen Verkehrssituation (oben E. 1.2) führt das verbotene Fahrmanöver entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers (oben E. 1.1) nicht zur "Aufhebung" eines Überraschungseffektes, sondern zu einer gefährlichen Situation (einer "confusion": BGE 133 II 58 E. 5.3 S. 62). Das Fahren bei einer durch erhöhtes Verkehrsaufkommen verminderten Geschwindigkeit erfordert von allen Verkehrsteilnehmern eine erhöhte Disziplin, vermehrte Aufmerksamkeit sowie Rücksichtnahme (BGE 126 IV 192 E. 3 S. 197). Die Aufmerksamkeit ist mehr gefordert als bei flüssigem Verkehr. Schwenkt unter diesen Umständen ein Fahrzeug aus und überholt auf dem Pannenstreifen, bewirkt dies - insbesondere im Bereich der Ausfahrt - eine unklare Verkehrslage (Art. 26 Abs. 2 SVG) sowie eine frustrierte und gereizte Stimmung unter den Verkehrsteilnehmern und provoziert zur Nachahmung. Im Urteil 6S.100/2002 vom 29. Mai 2002 E. 2b machte der Betroffene sogar geltend, das Rechtsüberholen auf dem Pannenstreifen gehöre bei der heutigen Verkehrssituation zum Alltag. Solche Folgen für die Verkehrssicherheit zeigen klar die Notwendigkeit, den wesentlichen Charakter von Art. 36 Abs. 3 VRV in Erinnerung zu rufen (vgl. BGE 133 II 58 E. 5.3 S. 62).
1.3.4. Der Einwand, die überholten Fahrzeuglenker würden nicht überrascht, ist somit nicht zu hören (BGE 133 II 58 E. 5.2). Der Beschwerdeführer fuhr über rund 150 m mit ca. 40 km/h an den Fahrzeugen rechts auf dem Pannenstreifen vorbei. Die Irritation der anderen Fahrzeuglenker ist offensichtlich (oben E. 1.3.1). Denn der Pannenstreifen darf nur für Nothalte benutzt werden. Das gilt auch für Autobahnauffahrten (Urteil 1C_452/2011 vom 21. August 2012 E. 3.1). Ereignisse, die zu einem Nothalt berechtigen, sind solche, die den Fahrer gerade an der Weiterfahrt hindern ( NINA RINDLISBACHER, in: Basler Kommentar, Strassenverkehrsgesetz, 2014, N. 81 zu Art. 43 SVG).
1.3.5. Die Vorinstanz weist darauf hin, dass bezüglich der Abgrenzung von aArt. 90 Ziff. 1 und 2 SVG in den Kantonen eine unterschiedliche Praxis herrscht (Urteil S. 11). Auf den Pannenstreifen zu wechseln, um an den langsam fahrenden Fahrzeugen vorbei die Autobahnausfahrt verlassen zu können, wird in der Praxis teils als einfache (Urteil 6A.22/2005 vom 31. Mai 2005 Bst. A und B), teils als grobe Verkehrsregelverletzung eingestuft (Urteile 6A.64/2006 vom 20. März 2007 E. 2.3 und 6S.100/2002 vom 29. Mai 2002 Bst. A sowie E. 2b und d). BGE 114 IV 55 E. 3 bewertete die Qualifikation eines Überholmanövers über 400 - 500 m auf dem Pannenstreifen gemäss aArt. 90 Ziff. 1 SVG auf Beschwerde des Betroffenen hin als im Rahmen des der Vorinstanz zustehenden weiten Ermessens liegend (wobei eine strengere Beurteilung wegen des Verschlechterungsverbots ohnehin nicht zu prüfen war). Das Urteil 6B_819/2009 vom 14. Januar 2010, in welchem das Rückwärtsfahren auf dem Pannenstreifen einer Autobahneinfahrt als einfache Verkehrsregelverletzung qualifiziert wurde, erging unter ausserordentlich günstigen konkreten Umständen. Im Urteil 6A.64/2006 vom 20. März 2007 E. 2.3 bejahte das Bundesgericht bei einem ähnlichen Sachverhalt eine erhöhte abstrakte Gefährdung. BGE 133 II 58 wertete die Vorschrift von Art. 36 Abs. 3 VRV als wesentliche Regel (E. 5.3 S. 62; vgl. Urteil 1C_201/2014 vom 20. Februar 2015 E. 3.5) und wies darauf hin, dass das Fahren auf dem Pannenstreifen eine ernstliche Gefahr schafft ("caractère réel du risque créé pour les autres usagers de la route"; E. 5.2).
Es kommt mithin auf die konkreten Umstände im Einzelfall an, bei deren Beurteilung den mit den örtlichen Verhältnissen besser vertrauten Vorinstanzen ein sachrichterliches Ermessen zuzugestehen ist.
1.3.6. Es ist durchaus zweifelhaft, ob die Fahrweise des Beschwerdeführers (erheblich) weniger gefährlich ist, als das "klassische" Rechtsüberholen mit Ausschwenken und Wiedereinbiegen (oben E. 1.1). Allerdings werden Unfallfolgen bei hohen Geschwindigkeiten gravierender ausfallen. Wie erwähnt, handelt es sich bei Art. 35 Abs. 1 SVG in Verbindung mit Art. 36 Abs. 3 VRV um eine elementare Verkehrsregel, die unbedingt beachtet werden muss (BGE 133 II 58 E. 5.2). Der Beschwerdeführer missachtete diese wichtige Verkehrsvorschrift in objektiv schwerer Weise und gefährdete die Verkehrssicherheit ernstlich. Es trägt im immer hektischeren Verkehrsalltag nichts zur Verkehrssicherheit bei, mit auf den Einzelfall zur Entlastung zugeschnittenen Argumenten elementare Verkehrsregeln zu relativieren.
1.4. Subjektiv erfordert der Tatbestand von aArt. 90 Ziff. 2 SVG ein rücksichtsloses oder sonst schwerwiegend verkehrsregelwidriges Verhalten, d.h. ein schweres Verschulden, bei fahrlässigem Handeln mindestens grobe Fahrlässigkeit. Diese ist immer zu bejahen, wenn der Täter sich der allgemeinen Gefährlichkeit seiner verkehrsregelwidrigen Fahrweise bewusst ist (BGE 131 IV 133 E. 3.2).
Das ist hier der Fall. Der Beschwerdeführer bestreitet zwar eine Rücksichtslosigkeit. Er habe dringend auf die Toilette müssen und sei über eine relativ kurze Strecke auf einem breiten Pannenstreifen mit angepasster Geschwindigkeit gefahren. Dagegen führt die Vorinstanz aus, er habe im Wissen um die allgemeine Gefährlichkeit seiner Fahrweise und insbesondere der Gefahr einer Kollision gehandelt. So habe er festgehalten, dass er das Manöver einfach gewagt habe, da er drin-gend die Toilette habe benutzen müssen. Indem er sich im Bewusstsein der Gefahren und trotz der Tatsache, mit seinem Manöver nur wenige Sekunden Zeit gewinnen zu können, entschloss, auf dem Pannenstreifen rechts vorbei zu fahren, habe er ein rücksichtsloses Verhalten an den Tag gelegt. Diese Beurteilung lässt sich unter Berücksichtigung des sachrichterlichen Ermessens (oben E. 1.3.5) nicht als bundesrechtswidrig einstufen.
2.
Die übrigen Rechtsbegehren stellt der Beschwerdeführer für den Fall einer Gutheissung der Beschwerde. Darauf ist bei diesem Verfahrensausgang nicht mehr einzutreten.
3.
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Dem Beschwerdeführer sind die Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Bern, Strafabteilung, 1. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 23. Juli 2015
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Briw