BGer 5A_379/2015 |
BGer 5A_379/2015 vom 12.08.2015 |
{T 0/2}
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5A_379/2015
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Urteil vom 12. August 2015 |
II. zivilrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter von Werdt, Präsident,
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Bundesrichter Marazzi, Herrmann, Schöbi, Bovey,
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Gerichtsschreiber Zbinden.
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Verfahrensbeteiligte |
A.A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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Bezirksgericht Brugg, Familiengericht.
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Gegenstand
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Vertretungsbeistandschaft,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Aargau, Kammer für Kindes- und Erwachsenenschutz, vom 2. April 2015.
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Sachverhalt: |
A.
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A.a. A.A.________ (geb. 1969) ist die Tochter von B.A.________ und C.A.________. Wegen eines Burnouts gab sie ihre erste Anstellung als ausgebildete Arztgehilfin an einem Institut für Mikrobiologie nach ca. 10 Jahren auf. In der Folge arbeitete sie am Kinderspital Baden. Diese Stelle verliess sie im Jahr 2007. Danach kümmerte sie sich ausschliesslich um ihre betagten Eltern. Die Mutter erlitt einen Schlaganfall. Gestützt auf die Gefährdungsmeldung des Sozialdienstes der Gemeinde eröffnete das Familiengericht Brugg für B.A.________ und C.A.________ ein Erwachsenenschutzverfahren. In der Folge wurde für B.A.________ eine Beistandschaft und für C.A.________ eine Vermögensbeistandschaft errichtet. Kurz danach wurde B.A.________ am 11. November 2014 in ein Pflegeheim eingewiesen.
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A.b. Aufgrund der Anhörung der Eltern errichtete das Familiengericht Brugg sodann für A.A.________ (Betroffene) eine kombinierte Beistandschaft. Im Rahmen der Begleitbeistandschaft nach Art. 393 ZGB übertrug es dem Beistand die Aufgabe, die Betroffene bei der Organisation einer angemessenen Wohnsituation, bei der Wahrung und Förderung ihres gesundheitlichen Wohls und bei der beruflichen Integration zu beraten und zu unterstützen. Im Rahmen der errichteten Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 ZGB wurde dem Beistand aufgetragen, die Betroffene beim Erledigen der administrativen Angelegenheiten, insbesondere auch im Verkehr mit Behörden, Ämtern, Banken, Post, (Sozial-) Versicherungen, sonstigen Institutionen und Privatpersonen und insbesondere bei der Prüfung und Geltendmachung von allfälligen Ansprüchen aus Sozialversicherungen zu vertreten und die Koordination zwischen den Akteuren zu übernehmen.
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B. Die Betroffene gelangte gegen diesen Entscheid an das Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Kindes- und Erwachsenenschutz, und ersuchte um Aufhebung der angeordneten Massnahmen. Mit Entscheid vom 2. April 2015 hob die Beschwerdeinstanz die Begleitbeistandschaft im Sinn von Art. 393 ZGB (infolge Widerrufs der Zustimmung der Betroffenen) von Amtes wegen auf, bestätigte aber die Vertretungsbeistandschaft gemäss Art. 394 ZGB, erweiterte den Aufgabenkatalog des Beistands um die unter Art. 393 ZGB wahrgenommenen Aufgaben und wies die Beschwerde im Übrigen ab.
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C. Die Betroffene hat am 8. Mai 2015 (Postaufgabe) beim Bundesgericht gegen den Entscheid des Obergerichts Beschwerde erhoben. Sie ersucht um Aufhebung der Vertretungsbeistandschaft. Es sind keine Vernehmlassungen eingeholt worden.
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Erwägungen: |
1. Angefochten ist ein Endentscheid (Art. 90 BGG) einer letzten kantonalen Instanz (Art. 75 BGG) über die Anordnung einer Beistandschaft. Dabei handelt es sich um eine öffentlich-rechtliche Angelegenheit in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Zivilrecht (Art. 72 Abs. 2 lit. b Ziff. 6 BGG) nicht vermögensrechtlicher Natur (Urteil 5A_860/2014 vom 14. Januar 2015 E. 1.1). Die Beschwerde ist rechtzeitig eingereicht worden (Art. 100 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen. Sie ist durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung (Art. 76 BGG). Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
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2. Die Vorinstanz hat die vom Familiengericht angeordnete Begleitbeistandschaft infolge Widerrufs der Zustimmung der Beschwerdeführerin aufgehoben. Dennoch hat sie bei der Beschwerdeführerin ein Schutzbedürfnis ausgemacht, hat deshalb die Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 ZGB bestätigt und den Beistand zusätzlich mit den im Rahmen von Art. 393 ZGB vorgesehenen Aufgaben betraut. Die Beschwerdeführerin macht geltend, es treffe zu, dass die Familiensituation bis zum 11. November 2014 (Datum der Einweisung der Mutter in ein Pflegeheim) in gewissen Bereichen belastet gewesen sei, zumal sich infolge des Hirnschlages der Mutter (der Beschwerdeführerin) seit 2011 eine entsprechende Pflegebedürftigkeit ergeben habe, die von der Beschwerdeführerin organisiert worden sei. Seit die Mutter aber in das Pflegeheim eingetreten sei, habe sich eine erhebliche Entlastung ergeben. Der angefochtene Entscheid beziehe sich weitestgehend auf die Zeit, in der die Beschwerdeführerin tatsächlich belastet war und die Situation ohne fremde Hilfe habe meistern können. In den vergangenen Jahren habe sie alle administrativen Angelegenheiten tadellos erledigt; Betreibungen seien keine zu verzeichnen. Die Vorinstanz stütze sich somit auf heute nicht mehr bestehende Umstände. Art. 390 ZGB verlange einen in der Person liegenden Schwächezustand. In Anbetracht der dort genannten Voraussetzungen sei diese Hürde nicht zu tief anzusetzen. Hier gehe es um den Schutz Betagter, bei denen gleichartige Defizite wie bei Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Störung auftreten. Erfasst würden extreme Fälle von Unerfahrenheit, Unwilligkeit, Verschwendung oder Misswirtschaft sowie schwerste Erscheinungsformen körperlicher Beeinträchtigungen oder multiple Behinderungen. Aufgrund der tatsächlichen Feststellungen seien die Voraussetzungen der Beistandschaft nicht erfüllt. Die Beschwerdeführerin habe jahrelang die Eltern allein gepflegt. Ausgerechnet nach dem Wegfall dieser Sorge werde über die Beschwerdeführerin eine Beistandschaft errichtet.
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2.1. Die Erwachsenenschutzbehörde errichtet eine Beistandschaft, wenn eine volljährige Person wegen einer geistigen Behinderung, einer psychischen Störung oder eines ähnlichen in der Person liegenden Schwächezustands ihre Angelegenheiten nur teilweise oder gar nicht besorgen kann (Art. 390 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB) oder wenn sie wegen vorübergehender Urteilsunfähigkeit oder Abwesenheit in Angelegenheiten, die erledigt werden müssen, weder selber handeln kann noch eine zur Stellvertretung berechtigte Person bezeichnet hat (Art. 390 Abs. 1 Ziff. 2 ZGB). Eine Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 Abs. 1 ZGB) wird angeordnet, wenn die hilfsbedürftige Person bestimmte Angelegenheiten nicht selbst erledigen kann und deshalb vertreten werden muss. Diese Form der Beistandschaft kann auch gegen den Willen der hilfsbedürftigen Person angeordnet werden.
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2.2. In Art. 389 ZGB unterstellt der Gesetzgeber alle behördlichen Massnahmen des Erwachsenenschutzes den beiden Maximen der Subsidiarität und der Verhältnismässigkeit (Art. 389 Abs. 1 ZGB). Damit sind behördliche Massnahmen nur dann anzuordnen, wenn die Betreuung der hilfsbedürftigen Person auf andere Weise nicht angemessen sichergestellt werden kann. Ist die gebotene Unterstützung der hilfsbedürftigen Person auf andere Art - durch die Familie, andere nahestehende Personen (vgl. dazu Urteil 5A_663/2013 vom 5. November 2013 E. 3) oder private oder öffentliche Dienste - schon gewährleistet, so ordnet die Erwachsenenschutzbehörde keine Massnahme an (Art. 389 Abs. 1 Ziff. 1 ZGB). Kommt die Erwachsenenschutzbehörde demgegenüber zum Schluss, die vorhandene Unterstützung der hilfsbedürftigen Person sei nicht ausreichend oder von vornherein ungenügend, so muss ihre behördliche Massnahme verhältnismässig, das heisst erforderlich und geeignet sein (Art. 389 Abs. 2 ZGB). Die Erwachsenenschutzbehörde hat dabei nicht gesetzlich fest umschriebene, starre Massnahmen, sondern "Massnahmen nach Mass" zu treffen, das heisst solche, die den Bedürfnissen der betroffenen Person entsprechen (Art. 391 Abs. 1 ZGB). Es gilt der Grundsatz "Soviel staatliche Fürsorge wie nötig, so wenig staatlicher Eingriff wie möglich". Dies gilt auch für die Errichtung einer Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 Abs. 1 ZGB (BGE 140 III 49 E. 4.3.1 mit Hinweisen).
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2.3. Der Beschwerdeführerin ist darin beizupflichten, dass bei der Ermittlung des Schutzbedürfnisses nicht in erster Linie oder gar ausschliesslich auf die Verhältnisse abgestellt werden kann, die zurzeit der Pflege der behinderten Mutter vorherrschten. Diese Umstände sind mit der am 11. November 2014 erfolgten Einweisung der Mutter in ein Pflegeheim weggefallen. Dem angefochtenen Entscheid kann aber mit Bezug auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin entnommen werden, dass sie mit der Schilderung ihrer eigenen Situation klare Anzeichen einer schweren persönlichen Krise und Perspektivlosigkeit erkennen lässt. So hat die Beschwerdeführerin sich selber mit dem Ausfüllen der Steuererklärung und im Kontakt mit den Banken als überfordert gezeigt und erörtert, sie habe keine Freunde und Bekannte; auf der Strasse begegne man ihr komisch, weshalb sie nicht mehr gern einkaufen gehe; mit dem Eintritt der Eltern in das Heim verliere sie ihren Lebensinhalt. Abgesehen davon hat sich die Beschwerdeführerin anlässlich der Befragung durch die Delegation des Familiengerichts dahingehend geäussert, sie fühle sich mit der weiteren Erfüllung der administrativen Angelegenheiten überfordert. Der Vater der Beschwerdeführerin hatte erwogen, sie in das Heim mitzunehmen. Das Obergericht hält im Weiteren dafür, die soziale Isolation und der Rückzug der Beschwerdeführerin aus dem Berufsleben mit nur 38 Jahren und zu einer Zeit, als die Eltern noch nicht pflegebedürftig gewesen seien, liessen auf eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit schliessen. Darauf deuteten auch die Bedenken des Vaters der Beschwerdeführerin hin, der trotz seinem Wunsch, mit seiner Frau gemeinsam in ein Pflegeheim zu ziehen, sich verpflichtet fühle, mit der Beschwerdeführerin zusammen im eigenen Haus wohnen zu bleiben. Aufgrund der massgebenden tatsächlichen Feststellungen, welche die Beschwerdeführerin nicht als willkürlich oder sonstwie gegen Bundesrecht verstossend beanstandet (Art. 95 BGG), ist entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin ein dringendes Schutzbedürfnis zu bejahen.
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2.4. Die von der Vorinstanz bestätigte Vertretungsbeistandschaft (Art. 394 ZGB) erlaubt es, dem bestehenden Fürsorgebedarf bei der Erledigung von administrativen Angelegenheiten gerecht zu werden und insbesondere auch abzuklären, ob die Beschwerdeführerin überhaupt noch in den Arbeitsprozess eingegliedert werden kann oder aber über einen Anspruch auf eine Invalidenrente verfügt. Da die Beschwerdeführerin keine Freunde und Bekannte um sich weiss und somit über kein tragfähiges soziales Netz verfügt, kann nicht davon ausgegangen werden, sie werde den aufgetretenen Problemen mit der Erteilung eines Vorsorgeauftrages gemäss Art. 360 ff. ZGB begegnen können. Unter den gegebenen Umständen erweist sich die Errichtung einer Vertretungsbeistandschaft nach Art. 394 ZGB mit dem vom Obergericht vorgesehenen Auftragskatalog zuhanden des Beistands als dem Vorsorgebedarf angepasst und damit als verhältnismässig. Überdies hält sie vor dem in Art. 389 ZGB verankerten Prinzip der Subsidiarität stand.
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3. Damit ist die Beschwerde abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da im vorliegenden Verfahren die verfügende Behörde der Beschwerdeführerin gegenübersteht, stellt sich sich die Frage der Entschädigung nicht (Art. 68 Abs. 3 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 1'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, dem Bezirksgericht Brugg, Familiengericht, und dem Obergericht des Kantons Aargau, Kammer für Kindes- und Erwachsenenschutz, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 12. August 2015
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Im Namen der II. zivilrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: von Werdt
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Der Gerichtsschreiber: Zbinden
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