BGer 2C_1152/2014 |
BGer 2C_1152/2014 vom 14.09.2015 |
{T 0/2}
|
2C_1152/2014
|
Urteil vom 14. September 2015 |
II. öffentlich-rechtliche Abteilung |
Besetzung
|
Bundesrichter Zünd, Präsident,
|
Bundesrichter Stadelmann,
|
Bundesrichter Haag,
|
Gerichtsschreiberin Petry.
|
Verfahrensbeteiligte |
A.________,
|
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
|
gegen
|
Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau.
|
Gegenstand
|
Widerruf der Niederlassungsbewilligung und Wegweisung,
|
Beschwerde gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 11. November 2014.
|
Sachverhalt: |
A. A.________ (geb. 1983) ist mazedonischer Staatsbürger. Er reiste am 10. Oktober 1998 in die Schweiz ein und erhielt eine Niederlassungsbewilligung zum Verbleib bei den Eltern.
|
- Strafbefehl des Bezirksamts Brugg vom 14. November 2006: Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von 25 Tagen sowie einer Busse von Fr. 1'000.-- wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, begangen am 14. September 2006;
|
- Strafbefehl des Gerichtspräsidiums Brugg vom 1. Juli 2008: Verurteilung zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je Fr. 70.-- wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, begangen am 2. Dezember 2007;
|
- Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Brugg-Zurzach vom 20. Januar 2011: Verurteilung zu einer Geldstrafe von 20 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- wegen Nichtabgabe der Kontrollschilder trotz behördlicher Aufforderung, begangen am 16. November 2010;
|
- Strafbefehl der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 14. Februar 2011: Verurteilung zu einer Geldstrafe von 180 Tagessätzen zu je Fr. 30.-- wegen Fahrens in fahrunfähigem Zustand, begangen am 23. Dezember 2010.
|
B. Nach Erteilung des rechtlichen Gehörs, von welchem A.________ keinen Gebrauch machte, verfügte das Amt für Migration und Integration Kanton Aargau am 9. Dezember 2013 den Widerruf seiner Niederlassungsbewilligung. Eine dagegen erhobene Einsprache blieb erfolglos (Einspracheentscheid vom 2. Mai 2014). Mit Urteil vom 11. November 2014 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau die gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde ebenfalls ab.
|
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ die Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils. Es sei ihm die Niederlassungsbewilligung zu belassen. Eventuell sei die Sache zwecks Durchführung einer Verhandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Zudem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
|
Erwägungen: |
1. Gegen den angefochtenen kantonal letztinstanzlichen Endentscheid über den Widerruf der Niederlassungsbewilligung ist die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht zulässig (Art. 90 BGG sowie Art. 86 Abs. 1 lit. d und Abs. 2 BGG), da der Beschwerdeführer grundsätzlich einen Anspruch auf das Fortbestehen der Bewilligung geltend machen kann (BGE 135 II 1 E. 1.2.1 S. 4; Urteil 2C_205/2013 vom 7. März 2013 E. 2.1; Art. 83 lit. c Ziff. 2 BGG e contrario).
|
2. |
2.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 und Art. 96 BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden (BGE 139 II 404 E. 3 S. 415). In Bezug auf die Verletzung von Grundrechten gilt eine qualifizierte Rüge- und Substanziierungspflicht (Art. 106 Abs. 2 BGG; BGE 139 I 229 E. 2.2 S. 232; 136 II 304 E. 2.5 S. 314).
|
2.2. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den von der Vorinstanz festgestellten Sachverhalt zugrunde (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinn von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). "Offensichtlich unrichtig" bedeutet dabei "willkürlich" (BGE 140 III 115 E. 2 S. 117). Die beschwerdeführende Partei kann die Feststellung des Sachverhalts unter den gleichen Voraussetzungen beanstanden, wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Eine entsprechende Rüge ist rechtsgenüglich substanziiert vorzubringen (Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG; vgl. BGE 140 III 264 E. 2.3 S. 266 mit Hinweisen).
|
3. |
3.1. Die Niederlassungsbewilligung kann nach Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG, auf den sich die Vorinstanz gestützt hat, widerrufen werden, wenn der Ausländer in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung in der Schweiz oder im Ausland verstossen hat oder diese gefährdet oder die innere oder die äussere Sicherheit gefährdet.
|
3.2. Im Rahmen von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG muss, anders als beim Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 62 lit. b AuG, nicht eine Verurteilung zu einer längerfristigen Freiheitsstrafe (d.h. zu einer Strafe von mindestens einem Jahr, BGE 137 II 297 E. 2.1 S. 299; 135 II 377 E. 4.2 und E. 4.5 S. 379 ff.) vorliegen. Ein schwerwiegender Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung liegt in erster Linie vor, wenn die ausländische Person durch ihre Handlungen besonders hochwertige Rechtsgüter wie namentlich die körperliche, psychische und sexuelle Integrität eines Menschen verletzt oder gefährdet hat. Indes können auch vergleichsweise weniger gravierende Pflichtverletzungen als "schwerwiegend" im Sinne von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG bezeichnet werden: So ist ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung namentlich auch dann möglich, wenn sich eine ausländische Person von strafrechtlichen Massnahmen bzw. ausländerrechtlichen Verwarnungen nicht beeindrucken lässt und damit zeigt, dass sie auch zukünftig weder gewillt noch fähig ist, sich an die Rechtsordnung zu halten (BGE 139 I 16 E. 2.1 S. 19, 137 II 297 E. 3.3 S. 303). Somit kann auch eine Summierung von Verstössen, die für sich genommen für einen Widerruf nicht ausreichen würden, einen Bewilligungsentzug rechtfertigen, wobei nicht die Schwere der verhängten Strafen, sondern die Vielzahl der Delikte entscheidend ist (Urteil 2C_446/2014 vom 5. März 2015 E. 3.2 mit Hinweis). Auch das Nichterfüllen von öffentlich-rechtlichen oder privatrechtlichen Verpflichtungen kann gegebenenfalls einen schwerwiegenden Verstoss gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung darstellen, wenn die Verschuldung mutwillig erfolgt ist (Art. 80 Abs. 1 lit. b der Verordnung vom 24. Oktober 2007 über Zulassung, Aufenthalt und Erwerbstätigkeit [VZAE; SR 142.201]; Urteil 2C_699/2014 vom 1. Dezember 2014 E. 3.2; Urteil 2C_160/2013 vom 15. November 2013 E. 2.1.1).
|
3.3. Ein Widerruf der Niederlassungsbewilligung rechtfertigt sich indessen nur, wenn die jeweils im Einzelfall vorzunehmende Interessenabwägung die entsprechende Massnahme auch als verhältnismässig erscheinen lässt. Dabei sind namentlich die Schwere des Verschuldens, der Grad der Integration bzw. die Dauer der bisherigen Anwesenheit sowie die dem Betroffenen und seiner Familie drohenden Nachteile zu berücksichtigen (BGE 135 II 377 E. 4.3 ff. S. 381 ff.; vgl. Art. 96 Abs. 1 AuG).
|
3.4. Der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG lässt sich Folgendes entnehmen:
|
4. Im Lichte der soeben dargestellten neueren Kasuistik zum Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b ist der angefochtene Entscheid mit dem Verhältnismässigkeitsprinzip vereinbar.
|
4.1. Die Vorinstanz hat festgehalten, der Beschwerdeführer sei bereits fünf Jahre nach seiner Einreise in die Schweiz straffällig geworden. Während einer Zeitspanne von mehr als sieben Jahren habe er regelmässig eine Vielzahl strafbarer Handlungen begangen. Bis im Jahr 2011 sei es zu zehn Verurteilungen gekommen, wobei der Beschwerdeführer insgesamt zu Freiheitsstrafen von 32 Tagen, Geldstrafen von 290 Tagessätzen sowie Bussen in Höhe von fast Fr. 3'000.-- verurteilt worden sei. Zudem sei er über Jahre hinweg seinen öffentlich- und privatrechtlichen Verpflichtungen nicht nachgekommen (Betreibungen von über Fr. 200'000.-- und offene Verlustscheine von über Fr. 167'000.--). Auch wenn die erwähnten Gesichtspunkte für sich alleine kaum die Voraussetzungen eines Widerrufs zu erfüllen vermöchten, ergebe sich aber in ihrer Gesamtheit, dass der Beschwerdeführer durch die Vielzahl und zum Teil die Tragweite der strafrechtlichen Verfehlungen, die regelmässige Nichterfüllung seiner öffentlich- und privatrechtlichen Verpflichtungen sowie das Ignorieren der Verwarnung des Migrationsamtes in schwerwiegender Weise gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung verstossen und damit den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b AuG erfüllt habe.
|
4.2. Der Beschwerdeführer bringt in erster Linie vor, die Hälfte der Delikte seien Übertretungen gewesen und dass er sich seit 2010 nichts mehr zu Schulden habe kommen lassen.
|
4.3. Mit Blick auf seine finanzielle Lage führt der Beschwerdeführer aus, dass er im Jahr 2008 unverschuldet arbeitslos geworden und im April 2010 - zehn Tage vor der erneuten Arbeitsaufnahme - Opfer einer Messerstecherei geworden sei, welche eine nicht versicherte Arbeitsunfähigkeit von 21 Monaten zur Folge gehabt habe. Die Nichterfüllung seiner finanziellen Verpflichtungen sei somit nicht mutwillig erfolgt.
|
4.4. Insgesamt ist deshalb nicht zu bemängeln, dass die Vorinstanz in Anbetracht aller Umstände den Widerrufsgrund von Art. 63 Abs. 1 lit. b als gegeben erachtete.
|
5. |
5.1. Auch die vorinstanzliche Interessenabwägung ist nicht zu beanstanden. Das Verwaltungsgericht hat die entgegenstehenden Interessen sorgsam gewichtet und gegeneinander abgewogen sowie ausführlich begründet, warum vorliegend die privaten Interessen des Beschwerdeführers hinter dem öffentlichen Interesse an seiner Wegweisung zurückzutreten haben.
|
5.2. Der Beschwerdeführer lebt seit über 15 Jahren in der Schweiz, weshalb eine Ausreise fraglos mit einer gewissen Härte verbunden ist. Ihm ist auch zugute zu halten, dass er trotz seiner finanziellen Schwierigkeiten offensichtlich nie Sozialhilfeleistungen in Anspruch genommen hat. Dennoch kann von einer erfolgreichen Integration keine Rede sein. Insbesondere ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen, beruflich in der Schweiz Fuss zu fassen. Den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen zufolge hat er keine Berufsausbildung. Zwar verfügt er seit Juni 2014 über eine Stelle als Hilfsgärtner, jedoch gab es immer wieder Phasen, in denen er keiner Beschäftigung nachging.
|
Die vom Beschwerdeführer ausgeübten Tätigkeiten sind nicht an die Schweiz gebunden. Er kann sie auch in Mazedonien ausüben, wo er bis zu seinem 15. Lebensjahr gelebt hat. Zwar leben seine Eltern und Geschwister in der Schweiz. Dass er zu ihnen ein besonders enges Verhältnis hätte, macht er jedoch nicht geltend. Ebenso wenig beruft sich der Beschwerdeführer auf andere vertiefte soziale Bindungen zur Schweiz, die eine Ausreise unzumutbar erscheinen liessen. Den Kontakt zu seiner Heimat hat er offensichtlich nie abgebrochen, hat er doch 2012 in Mazedonien eine Landsfrau geheiratet, die dort mit dem gemeinsamen Kind lebt. Zudem besitzt er - wie er selbst vorbringt - ein Haus in Mazedonien. Insgesamt stehen seiner Wiedereingliederung im Heimatland somit keine unüberwindlichen Hindernisse entgegen.
|
6. |
6.1. Nach dem Gesagten verletzt der vorinstanzliche Entscheid kein Bundesrecht und erweist sich als verhältnismässig. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der unterliegende Beschwerdeführer gemäss Art. 66 Abs. 1 BGG grundsätzlich kostenpflichtig; er hat indessen um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
|
6.2. Gemäss Art. 64 Abs. 1 BGG befreit das Bundesgericht eine Partei, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, auf Antrag von der Bezahlung der Gerichtskosten und von der Sicherstellung der Parteientschädigung, sofern ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Praxisgemäss sind Prozessbegehren als aussichtslos anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder jene nur wenig geringer sind als diese (BGE 138 III 217 E. 2.2.4 S. 218).
|
6.3. Der Beizug eines Rechtsvertreters ist in einer Streitsache wie der vorliegenden notwendig. Rechtsanwalt Franz Hollinger ist als unentgeltlicher Rechtsbeistand dem Beschwerdeführer zu bestellen. Als solcher hat er Anspruch auf eine angemessene Entschädigung (Art. 64 Abs. 2 BGG).
|
6.4. Parteientschädigungen werden keine zugesprochen (Art. 68 Abs. 3 BGG).
|
Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
|
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen.
|
2.1. Es werden keine Kosten erhoben.
|
2.2. Dem Beschwerdeführer wird Rechtsanwalt Franz Hollinger, Brugg, als unentgeltlicher Rechtsbeistand beigegeben; dieser wird aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 2'000.-- entschädigt.
|
3. Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Staatssekretariat für Migration schriftlich mitgeteilt.
|
Lausanne, 14. September 2015
|
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
|
des Schweizerischen Bundesgerichts
|
Der Präsident: Zünd
|
Die Gerichtsschreiberin: Petry
|