Zurück zur Einstiegsseite Drucken
Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
[img]
{T 0/2}
9C_563/2015
Urteil vom 7. Januar 2016
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.
Verfahrensbeteiligte
Pensionskasse des Bundes PUBLICA, Eigerstrasse 57, 3007 Bern,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.A.________,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Berufliche Vorsorge (Altersleistung; Rückerstattung; Verjährung/Verwirkung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 12. Juni 2015.
Sachverhalt:
A.
B.A.________, ehemaliger Angestellter des Bundes, verstarb am... 2011. Als die Pensionskasse des Bundes PUBLICA (nachfolgend: Publica) am... 2011 davon Kenntnis erhielt, hatte sie die Altersrente von Fr. 5'424.45 für diesen Monat bereits ausgerichtet. In der Folge forderte sie diesen Betrag von A.A.________, Sohn und Erbe des Verstorbenen, zurück. Nach mehreren Teilzahlungen sowie verschiedenen Mahnschreiben setzte die Publica eine Forderung über Fr. 1'235.- zuzüglich 5 % Zins seit dem 4. September 2013 in Betreibung. Gegen den Zahlungsbefehl Nr.... vom 9. Dezember 2013 erhob A.A.________ Rechtsvorschlag. Im März 2014 wurde eine weitere Teilzahlung von Fr. 600.- geleistet.
B.
Am 15. Dezember 2014 reichte die Publica beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt Klage ein mit den Rechtsbegehren, A.A.________ sei zu verpflichten, ihr Fr. 635.- zuzüglich Zins ab 4. September 2013 zu bezahlen, und der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr.... des Betreibungsamtes sei aufzuheben. Nachdem Vergleichsbemühungen der Publica gescheitert waren, wies das kantonale Gericht das Rechtsmittel mit Entscheid vom 12. Juni 2015 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die Publica, der Entscheid vom 12. Juni 2015 sei aufzuheben, die Klage vom 15. Dezember 2014 vollumfänglich gutzuheissen und der Rechtsvorschlag in der Betreibung Nr.... zu beseitigen.
A.A.________ und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Es steht fest und ist unbestritten, dass die Beschwerdeführerin zu Unrecht an den am... 2011 verstorbenen Vater des Beschwerdegegners auch noch die Altersrente von Fr. 5'424.45 für den Monat... 2011 ausrichtete und dass dieser nach Art. 72 Abs. 1 des Vorsorgereglements für die Angestellten und die Rentenbeziehenden des Vorsorgewerks Bund vom 15. Juni 2007 (VRAB; SR 172.220.141.1) in der Höhe des in Betreibung gesetzten Betrages von Fr. 635.- grundsätzlich rückerstattungspflichtig ist. Die Meinungen gehen darüber auseinander, ob der Rückforderungsanspruch rechtzeitig geltend gemacht wurde.
2.
Nach Art. 73 Abs. 2 VRAB richtet sich die Verjährung von Rückforderungsansprüchen nach Artikel 35a BVG. Gemäss Abs. 2 dieser Bestimmung, welche auch im Bereich der weitergehenden Vorsorge gilt (Art. 49 Abs. 2 Ziff. 4 BVG), verjährt der Rückforderungsanspruch mit Ablauf eines Jahres, nachdem die Vorsorgeeinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit Ablauf von fünf Jahren seit der Auszahlung der Leistung (Satz 1). Nach Auffassung der Vorinstanz handelt es sich bei der relativen einjährigen Frist nach Art. 35a Abs. 2 BVG um eine Verwirkungsfrist. Zu diesem Auslegungsergebnis ist sie im Wesentlichen aufgrund der Entstehungsgeschichte dieser Bestimmung gelangt. Da eine solche Frist weder stillstehen noch unterbrochen werden kann (BGE 111 V 135 E. 3b S. 136), hat das kantonale Berufsvorsorgegericht den Rückforderungsanspruch der am Recht stehenden Vorsorgeeinrichtung als verwirkt betrachtet, da sie spätestens seit 10. März 2011 Kenntnis davon hatte, eine Monatsrente zu viel ausgerichtet zu haben (vgl. zum Beginn des Fristenlaufs Urteil 9C_399/2013 vom 30. November 2013 E. 3.1.1, in: SVR 2014 BVG Nr. 22 S. 79), indessen erst am 15. Dezember 2014 Klage erhob. Ist dagegen von einer Verjährungsfrist im obligationenrechtlichen Sinne auszugehen, wie die Beschwerdeführerin dafürhält, ist der Anspruch nicht verjährt. Seit März 2011 bis zur Klageerhebung leistete der Beschwerdegegner regelmässig - jeweils innerhalb eines Jahres - Teilzahlungen, um seine Schuld zu tilgen. Solche Abschlagszahlungen gelten als Anerkennung der Forderung und unterbrechen die Verjährungsfrist (Art. 135 Ziff. 1 OR; vgl. auch BGE 133 V 579 E. 4.3.1 S. 583).
Die Rechtsprechung hat sich bisher nicht abschliessend zur rechtlichen Natur der relativen einjährigen Frist nach Art. 35a Abs. 2 BVG äussern müssen (Urteil 9C_216/2014 vom 1. September 2014 E. 4.2.1, in: SVR 2015 BVG Nr. 26 S. 98). In der Lehre wird mehrheitlich die Auffassung vertreten, dass es sich dabei um eine Verjährungsfrist handelt (HANS-ULRICH STAUFFER, Berufliche Vorsorge, 2. Aufl. 2012, N. 1119; ISABELLE VETTER-SCHREIBER, Berufliche Vorsorge, 3. Aufl. 2013, Rz. 10 zu Art. 35a BVG; RIEMER/RIEMER-KAFKA, Das Recht der beruflichen Vorsorge in der Schweiz, 2. Aufl. 2005, N. 90 f.; BASILE CARDINAUX, Die Verjährung der Berufsvorsorgeleistungen: Eine Bestandesaufnahme und ein Ausblick, in: Ueli Kieser/Hans-Ulrich Stauffer [Hrsg.], BVG-Tagung 2013, Aktuelle Fragen der beruflichen Vorsorge, S. 98; differenziert BETTINA KAHIL-WOLFF, in: LPP et LFLP, 2010, Rz. 12 zu Art. 35a BVG).
3.
Ausgangspunkt jeder Gesetzesinterpretation ist der Wortlaut. Ist der Text nicht ganz klar und sind verschiedene Deutungen möglich, sind weitere Auslegungselemente heranzuziehen, neben der Entstehungsgeschichte der Norm, wie sich namentlich aus den Materialien ergibt, deren Zweck sowie die Bedeutung, die ihr im Kontext mit anderen Bestimmungen zukommt. Vom Wortlaut darf abgewichen werden, wenn triftige Gründe dafür bestehen, dass er nicht den wahren Sinn der Regelung wiedergibt. Sind mehrere Auslegungen möglich, ist jene zu wählen, die der Verfassung am besten entspricht. Allerdings findet auch eine verfassungskonforme Auslegung ihre Grenzen im klaren Wortlaut und Sinn einer Gesetzesbestimmung (BGE 140 V 449 E. 4.2 S. 455 mit Hinweisen).
3.1. Art. 35a Abs. 2 Satz 1 BVG ist insoweit klar, als er von verjährt ("se prescrit" bzw. "si prescrive" in der französischen und italienischen Textfassung) spricht. Nach einer allerdings schon älteren Rechtsprechung muss es sich aber nicht immer um eine Verjährungsfrist handeln, wenn eine Gesetzes- oder Verordnungsbestimmung diesen Begriff verwendet; es lässt sich auch eine Verwirkungsfrist annehmen (vgl. statt vieler BGE 117 V 208 E. 3b S. 210 mit Hinweisen; 111 V 135). Aus den Materialien ergibt sich Folgendes: Gemäss der Botschaft vom 1. März 2000 zur Revision des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) entspricht der neue Art. 35a "Artikel 47 AHVG und erlaubt eine Koordination mit der AHV" (BBl 2000 2692 unten Ziff. 4.1). Nach Abs. 2 des bis 31. Dezember 2002 in Kraft gestandenen aArt. 47 AHVG verjährte der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Ausgleichskasse davon Kenntnis erhalten hatte, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren seit der einzelnen Rentenzahlung (Satz 1). Bei diesen Fristen handelte es sich entgegen dem Wortlaut ("verjährt") um Verwirkungsfristen (BGE 133 V 579 E. 4.1 S. 582; 111 V 135). Entsprechend dem integralen Hinweis auf aArt. 47 AHVG in der Botschaft stimmte Art. 35a BVG in der Fassung gemäss Entwurf bis auf die notwendigen redaktionellen Anpassungen praktisch wortwörtlich mit dieser Bestimmung überein. Insbesondere sah Abs. 1 Satz 2 vor, dass bei gutem Glauben und gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte von der Rückforderung abgesehen werden kann, und in Abs. 2 war, wie erwähnt, von der Verjährung des Rückforderungsanspruchs die Rede (BBl 2000 2717). Art. 35a BVG gab in der parlamentarischen Beratung zu keinen Diskussionen Anlass (AB 2002 N 547, S 1046).
3.2. Aufgrund der Entstehungsgeschichte allein müsste die relative einjährige Frist in Art. 35a Abs. 2 Satz 1 BVG als Verwirkungsfrist betrachtet werden, wie das die Vorinstanz getan hat (E. 2 vorne). Bei der Übernahme und einer sinngemässen Anwendung von aArt. 47 AHVG im Bereich der beruflichen Vorsorge ist indessen Folgendes zu beachten:
3.2.1. In den meisten übrigen bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungszweigen, u.a. auch in der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), besteht zwischen den Beteiligten in dem Sinne ein autoritatives Verhältnis, dass der Versicherungsträger berechtigt und verpflichtet ist, über Leistungen ebenso wie über eine Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Leistungen eine Verfügung zu erlassen (Art. 49 Abs. 1 ATSG; vgl. auch Art. 5 Abs. 1 VwVG und BGE 130 V 388 E. 2.3 S. 391). Demgegenüber erlassen Vorsorgeeinrichtungen keine Verfügungen im Rechtssinne (BGE 140 V 154 E. 6.3.4 in fine S. 165; 129 V 450 E. 2 f. S. 452; 115 V 224). Diese unterschiedliche Ausgestaltung der Rechtsbeziehungen zwischen Rückforderungsberechtigten und Rückerstattungspflichtigen war der wesentliche Grund dafür, dass nach der Rechtsprechung bis zum Inkrafttreten von Art. 35a Abs. 2 BVG am 1. Januar 2005 bei Fehlen einer Regelung im Vorsorgereglement subsidiär nicht aArt. 47 Abs. 2 AHVG, sondern die Verjährungsregeln der ungerechtfertigten Bereicherung nach Art. 67 Abs. 1 OR anwendbar waren (BGE 128 V 236 E. 2b S. 239 f.; Urteil B 149/06 vom 11. Juni 2007 E. 6.2, in: SVR 2008 BVG Nr. 3 S. 9; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 55/05 vom 16. Oktober 2006 E. 4.2.3, in: SVR 2007 BVG Nr. 18 S. 61). Die fehlende Möglichkeit zum Erlass einer Verfügung bedeutete bei Annahme, die relative einjährige Frist nach Art. 35a Abs. 2 BVG sei eine Verwirkungsfrist, dass die Vorsorgeeinrichtungen regelmässig gehalten wären, bereits zu deren Wahrung eine Klage anzuheben, wie die Beschwerdeführerin richtig vorbringt. Neben dem damit verbundenen Kostenrisiko wäre zudem die im Interesse des Rechtsfriedens und der Prozessökonomie grundsätzlich immer und überall anzustrebende und zu fördernde gütliche Regelung erheblich erschwert, zumal ein Verjährungsverzicht im Hinblick auf aussergerichtliche Vergleichsverhandlungen nicht möglich ist (vgl. BGE 133 V 579 E. 4.3.5 S. 586; CARDINAUX, a.a.O., S. 97 f.).
3.2.2. Weiter ist auf Art. 25 Abs. 2 ATSG hinzuweisen, der - im Rahmen von Art. 2 ATSG - seit 1. Januar 2003 die Geltendmachung des Rückforderungsanspruchs bei unrechtmässigem Leistungsbezug in zeitlicher Hinsicht für die übrigen bundesgesetzlich geregelten Sozialversicherungszweige normiert. Nach Satz 1 dieser Bestimmung erlischt ("s'éteint" bzw. "si estingue") der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung. Bei diesen Fristen handelt es sich dem Wortlaut entsprechend um Verwirkungsfristen (BGE 138 V 74 E. 4.1 S. 77 mit Hinweisen). Mit Art. 25 Abs. 2 ATSG wurde die bisherige Regelung gemäss aArt. 47 Abs. 2 AHVG übernommen (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Aufl. 2015, N. 55 zu Art. 25 ATSG). Derselbe Gesetzgeber orientierte sich somit sowohl bei der Schaffung von Art. 25 ATSG als auch von Art. 35a BVG an aArt. 47 AHVG. Dabei sprach er in Abs. 2 der älteren, zwei Jahre früher in Kraft getretenen (ersteren) Bestimmung, welche im Bereich der beruflichen Vorsorge nicht anwendbar ist (BGE 128 V 236 E. 2b in fine S. 240), nicht mehr von verjährt, sondern von erlischt, um klarzustellen, "dass es sich hier nicht um eine unterbrechbare Verjährung handelt, wie sie das Zivilrecht kennt, sondern um ein unwiderrufliches Erlöschen der Rückforderung" (Bericht Allgemeiner Teil Sozialversicherung der Kommission des Ständerates vom 27. September 1990, BBl 1991 II 185 ff., 195 und 258 Ziff. 4.1). Dies spricht dafür, dass der Gesetzgeber bewusst im jüngeren Art. 35a Abs. 2 BVG den Begriff Verjährung verwendete, um zum Ausdruck zu bringen, dass diese Fristen nicht Verwirkungsfristen sind.
3.2.3. Schliesslich spricht das BVG bei den Leistungsansprüchen ebenfalls von Verjährung, wobei es auf periodische Beiträge und Leistungen ausdrücklich Art. 129-142 OR für anwendbar erklärt (Art. 41 Abs. 2 BVG; vgl. BGE 133 V 579 E. 4.3.1 in fine S. 584). Aus gesetzessystematischer Sicht erscheint es kohärent, den Anspruch auf Rückforderung unrechtmässig erbrachter Leistungen nach Art. 35a BVG derselben Ordnung zu unterwerfen (CARDINAUX, a.a.O., S. 98).
3.3. Nach dem Gesagten sind die Fristen nach Art. 35a Abs. 2 BVG als Verjährungsfrist im obligationenrechtlichen Sinne zu verstehen. Die von einem Teil der Lehre geäusserte Meinung, wonach es sich immerhin bei der fünfjährigen Frist um eine Verwirkungsfrist handeln soll (vgl. KAHIL-WOLFF, a.a.O., und JÜRG BRECHBÜHL/ERIKA SCHNYDER, Änderungen bei den Leistungen der beruflichen Vorsorge, SZS 2005 S. 54), ist abzulehnen. Diese Auffassung, die weder im Wortlaut noch in den Materialien eine Stütze findet, würde zu Rechtsunsicherheiten führen, namentlich in Bezug auf die Handlungen, mit denen die Fristen gewahrt werden können (vgl. CARDINAUX, a.a.O., S. 98).
Im vorliegenden Fall wurde die relative einjährige Frist in Bezug auf die zu Unrecht ausgerichtete Altersrente für... 2011 durch die danach geleisteten Teilzahlungen des Beschwerdegegners jeweils rechtzeitig unterbrochen (E. 2 vorne), sodass der Rückforderungsanspruch bei Klageerhebung im Dezember 2014 noch nicht verjährt war. Die Beschwerde ist begründet.
4.
In Anwendung von Art. 66 Abs. 1 Satz 2 BGG ist umständehalber auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten. Die obsiegende Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 3 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Basel-Stadt vom 12. Juni 2015 aufgehoben. Die Klage der Beschwerdeführerin wird gutgeheissen und der Rechtsvorschlag vom 6. Januar 2014 in der Betreibung Nr.... des Betreibungsamtes aufgehoben.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Basel-Stadt und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 7. Januar 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Glanzmann
Der Gerichtsschreiber: Fessler