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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
[img]
{T 0/2}
1B_441/2015
Urteil vom 15. Februar 2016
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Merkli, Eusebio,
Gerichtsschreiber Stohner.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
Beschwerdeführerin,
vertreten durch Rechtsanwältin Margot Benz,
gegen
B.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Fidel Cavelti,
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
Untersuchungsamt Gossau,
Sonnenstrasse 4a, 9201 Gossau.
Gegenstand
Strafverfahren; unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung,
Beschwerde gegen die Verfügung vom 24. November 2015 des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen.
Sachverhalt:
A.
A.________ meldete sich am 11. August 2013 telefonisch bei der Kantonalen Notrufzentrale St. Gallen und erklärte, B.________ habe am Vorabend versucht, sie an ihrem Wohnort im Massageraum zu vergewaltigen.
Am 21. April 2015 erhob die Staatsanwaltschaft, Untersuchungsamt Gossau, beim Kreisgericht Wil gegen B.________ Anklage wegen versuchter Vergewaltigung sowie wegen Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs.
Am 12. Juni 2015 fällte das Kreisgericht Wil den folgenden Entscheid:
1. B.________ wird der sexuellen Belästigung und des Führens eines nicht betriebssicheren Fahrzeugs schuldig gesprochen.
2. B.________ wird zu einer Busse von Fr. 2'100.-- verurteilt, bei schuldhaftem Nichtbezahlen ersatzweise zu einer Freiheitsstrafe von 21 Tagen.
3. Die Genugtuungsforderung von A.________ wird auf den Weg des Zivilprozesses verwiesen.
4. [Kosten].
5. [Entschädigung des amtlichen Verteidigers von B.________].
6. Der Staat entschädigt die unentgeltliche Rechtsvertreterin MLaw Margot Benz mit Fr. 7'525.45. A.________ ist verpflichtet, diese Entschädigung zurückzuzahlen, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben.
Am 5. Oktober 2015 reichte A.________ gegen diesen Entscheid Berufung an das Kantonsgericht St. Gallen ein. Sie beantragte Dispositiv-Ziffer 1 / 1. Halbsatz (Schuldspruch wegen sexueller Belästigung), Dispositiv-Ziffer 3 (Genugtuungsforderung) und Dispositiv-Ziffer 6 / 2. Satz (Rückzahlungsverpflichtung) des Entscheids des Kreisgerichts Wil vom 12. Juni 2015 seien aufzuheben. B.________ sei der versuchten Vergewaltigung schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen. Des Weiteren sei er zu verpflichten, ihr eine Genugtuung von Fr. 8'000.-- (nebst Zins zu 5 % seit dem 10. August 2013) zu bezahlen und sie für das erstinstanzliche Verfahren mit Fr. 7'525.45 zu entschädigen.
Gleichzeitig ersuchte A.________ um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Am 24. November 2015 verfügte der Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts, das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das Berufungsverfahren werde abgewiesen. Zugleich verpflichtete er A.________, bis zum 31. Dezember 2015 eine Sicherheit in der Höhe von Fr. 7'400.-- zu leisten, ansonsten auf die Berufung nicht eingetreten werde.
B.
Mit Eingabe vom 22. Dezember 2015 führt A.________ Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht mit den Anträgen, die Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts vom 24. November 2015 aufzuheben und ihr für das Berufungsverfahren die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren.
Mit Verfügung vom 21. Januar 2016 erkannte der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu.
Der Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts stellt Antrag auf Beschwerdeabweisung. B.________ verzichtet auf eine Stellungnahme zur Beschwerde.
Erwägungen:
1.
Der angefochtene Entscheid betrifft eine Strafsache im Sinne von Art. 78 Abs. 1 BGG und wurde von einer letzten kantonalen Instanz gefällt (Art. 80 Abs. 1 und 2 BGG). Es handelt sich um einen das Strafverfahren nicht abschliessenden Zwischenentscheid, der geeignet ist, einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zu bewirken (vgl. BGE 133 IV 335 E. 4 S. 338 mit Hinweisen). Die Beschwerdeführerin ist gestützt auf Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zur Beschwerde legitimiert, da sich der Entscheid auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann.
2.
2.1. Die Vorinstanz hat erwogen, die Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin sei ohne Weiteres gegeben. Bei der Beurteilung der Erfolgsaussichten der Zivilklage sei zu berücksichtigen, dass die Aussagen der beiden unmittelbar Beteiligten die einzigen Beweismittel darstellten. Die Vorinstanz sei in ihrem sorgfältig begründeten Entscheid vom 12. Juni 2015 zum Schluss gekommen, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin insgesamt weniger glaubhaft seien als jene des Beschuldigten, obwohl auch bezüglich der letzteren einige Zweifel an der Richtigkeit bestünden. Bei dieser Sachlage sei in Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" eine Bestätigung des erstinstanzlichen Entscheids deutlich wahrscheinlicher als eine Verurteilung des Beschuldigten wegen versuchter Vergewaltigung. Die adhäsionsweise geltend gemachte Zivilklage auf Bezahlung einer Genugtuung von Fr. 8'000.-- zuzüglich Zinsen erscheine daher aussichtslos. Damit seien die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege nach Art. 136 Abs. 1 StPO nicht gegeben. In Anwendung von Art. 383 Abs. 1 StPO sei die Beschwerdeführerin zu verpflichten, bis zum 31. Dezember 2015 für allfällige Kosten und Entschädigungen eine Sicherheit von Fr. 7'400.-- zu leisten. Werde die Sicherheit nicht fristgerecht bezahlt, werde gestützt auf Art. 383 Abs. 2 StPO auf die Berufung nicht eingetreten.
2.2. Die Beschwerdeführerin beruft sich auf Art. 29 Abs. 3 BV und macht geltend, die Vorinstanz übersehe mit ihren Ausführungen, dass mit der Berufung ausdrücklich auch die Aufhebung von Dispositiv-Ziffer 6 / 2. Satz betreffend Rückzahlungsverpflichtung beantragt worden sei. Gemäss Art. 30 Abs. 3 OHG (SR 312.5) müssten das Opfer und seine Angehörigen die Kosten für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nicht zurückerstatten. Wie das Bundesgericht in BGE 141 IV 262 entschieden habe, stelle Art. 30 Abs. 3 OHG eine lex specialis zu Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 4 StPO dar. Entsprechend hätte das Kreisgericht sie nicht zur Rückzahlung der Entschädigung verpflichten dürfen. Zumindest in diesem Punkt sei die Berufung nicht aussichtslos. Dies gelte indes auch für den Zivilpunkt. Die Vorinstanz habe zu wenig berücksichtigt, dass der Beschuldigte bei seiner ersten Einvernahme am Tag nach der mutmasslichen Tat Handlungen zugegeben habe, die deutlich über eine sexuelle Belästigung hinausgingen.
2.3.
2.3.1. Gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Art. 29 Abs. 3 BV soll jedem Betroffenen ohne Rücksicht auf seine finanzielle Situation tatsächlichen Zugang zum Gerichtsverfahren vermitteln und die effektive Wahrung seiner Rechte ermöglichen (BGE 131 I 350 E. 3.1 S. 355). Bei Art. 29 Abs. 3 BV handelt sich um eine verfassungsmässige Minimalgarantie, welche für das Strafverfahren von der StPO umgesetzt und konkretisiert wird. Die StPO kann über die Garantie von Art. 29 Abs. 3 BV hinausgehen, diese aber nicht einschränken (vgl. Urteil 1B_355/2012 vom 12. Oktober 2012 E. 3, in: Pra 2013 Nr. 1 S. 1).
Art. 136 Abs. 1 StPO konkretisiert die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für die Privatklägerschaft im Strafverfahren. Dieser ist die unentgeltliche Rechtspflege für die Durchsetzung ihrer Zivilansprüche ganz oder teilweise zu gewähren, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt und die Zivilklage nicht aussichtslos erscheint. Wenn sich die Privatklägerschaft ausschliesslich im Strafpunkt beteiligt, ist die unentgeltliche Rechtspflege nach dem Willen des Gesetzgebers im Grundsatz ausgeschlossen, da der staatliche Strafanspruch grundsätzlich durch den Staat wahrgenommen wird. Diese Beschränkung ist mit Art. 29 Abs. 3 BV vereinbar (vgl. Urteil 1B_458/2015 vom 16. Dezember 2015 E. 4.3 und 4.4).
Nach Art. 383 StPO kann die Verfahrensleitung der Rechtsmittelinstanz die Privatklägerschaft verpflichten, innert einer Frist für allfällige Kosten und Entschädigungen Sicherheit zu leisten. Art. 136 StPO bleibt vorbehalten (Abs. 1). Wird die Sicherheit nicht fristgerecht geleistet, so tritt die Rechtsmittelinstanz auf das Rechtsmittel nicht ein (Abs. 2).
2.3.2. Gemäss Art. 138 Abs. 1 StPO richtet sich die Entschädigung des Rechtsbeistands der Privatklägerschaft sinngemäss nach Art. 135 StPO. Art. 135 Abs. 4 StPO bestimmt, dass die beschuldigte Person bei einer Verurteilung zu den Verfahrenskosten dazu verpflichtet ist, dem Bund oder dem Kanton die der amtlichen Verteidigung ausgerichtete Entschädigung zurückzuzahlen, sobald es ihre wirtschaftlichen Verhältnisse erlauben.
Gemäss Art. 30 Abs. 3 OHG müssen das Opfer und seine Angehörigen die Kosten für einen unentgeltlichen Rechtsbeistand nicht zurückerstatten.
2.4. Die Beschwerdeführerin hat sich nicht ausschliesslich im Strafpunkt beteiligt, sondern hat Zivilansprüche gestellt. Ob ihre Zivilklage, wie die Vorinstanz geschlossen hat, aussichtslos erscheint und damit die Voraussetzung von Art. 136 Abs. 1 lit. b StPO nicht erfüllt ist, kann vorliegend indes offen bleiben, denn die Beschwerdeführerin kann sich mit Erfolg auf die Minimalgarantie von Art. 29 Abs. 3 BV berufen. Ihre Bedürftigkeit ist erstellt und ihre Berufung ist, soweit sie sich gegen die ihr auferlegte Rückzahlungsverpflichtung richtet, nicht aussichtslos. Wie von der Beschwerdeführerin korrekt wiedergegeben, hat das Bundesgericht in BGE 141 IV 262 entschieden, dass Art. 30 Abs. 3 OHG eine lex specialis zu Art. 138 Abs. 1 i.V.m. Art. 135 Abs. 4 StPO darstellt und das Opfer daher nicht zur Rückzahlung der Entschädigung verpflichtet werden kann. Bei summarischer Prüfung der Rechtslage erscheint die Beschwerde in diesem Punkt somit begründet, jedenfalls aber nicht aussichtslos. Die Rückzahlungsverpflichtung kann einzig mittels Berufung angefochten werden und die Bestellung einer Rechtsbeiständin ist zur Wahrung der Rechte der Beschwerdeführerin erforderlich, da diese mangels hinreichender juristischer Kenntnisse ihre Sache, auf sich allein gestellt, nicht wirksam vertreten könnte.
Zusammenfassend hat die Beschwerdeführerin folglich für das Berufungsverfahren unmittelbar gestützt auf Art. 29 Abs. 3 BV einen Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege.
2.5. Die Vorinstanz hätte der Beschwerdeführerin nach dem Gesagten die unentgeltliche Rechtspflege (zumindest teilweise) gewähren und sie insoweit auch nicht zur Bezahlung einer Sicherheitsleistung verpflichten dürfen. Der Vorbehalt von Art. 383 Abs. 1 Satz 2 StPO muss sich auch auf die verfassungsmässige Minimalgarantie von Art. 29 Abs. 3 BV beziehen, welche durch Art. 136 StPO nicht eingeschränkt werden darf.
3.
Die Beschwerde ist gutzuheissen und die angefochtene Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts vom 24. November 2015 aufzuheben. Die Vorinstanz wird angewiesen, der Beschwerdeführerin für das Berufungsverfahren die unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Erwägungen zu gewähren.
Bei diesem Verfahrensausgang sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton St. Gallen hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Der Antrag auf unentgeltliche Rechtspflege wird damit gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen und die angefochtene Verfügung des Präsidenten der Strafkammer des Kantonsgerichts vom 24. November 2015 aufgehoben. Die Vorinstanz wird angewiesen, der Beschwerdeführerin für das Berufungsverfahren die unentgeltliche Rechtspflege im Sinne der Erwägungen zu gewähren.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton St. Gallen hat Rechtsanwältin Margot Benz für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Gossau, und dem Präsident der Strafkammer des Kantonsgerichts St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 15. Februar 2016
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Stohner