Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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{T 0/2}
9C_826/2015
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Urteil vom 13. April 2016
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Stefan Galligani,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Luzern vom 28. September 2015.
Sachverhalt:
A.
Mit Verfügung vom 3. Februar 2015 sprach die IV-Stelle Luzern A.________ u.a. gestützt auf das Gutachten der SMAB AG (Swiss Medical Assessment- und Business-Center) vom 2. Oktober 2013 für die Monate März bis August 2011 eine ganze Rente und ab 1. September 2011 eine unbefristeten halbe Rente der Invalidenversicherung zu.
B.
Die Beschwerde von A.________ wies das Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, mit Entscheid vom 28. September 2015 ab.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________ zur Hauptsache, der Entscheid vom 28. September 2015 sei aufzuheben und ihr eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung zuzusprechen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Erwägungen:
1.
Streitgegenstand bildet die Frage, ob die Beschwerdeführerin ab 1. September 2011 Anspruch auf eine Dreiviertelsrente der Invalidenversicherung hat, was einen Invaliditätsgrad von mindestens 60 Prozent (und weniger als 70 Prozent) erfordert (Art. 28 Abs. 2 IVG; zum Runden BGE 130 V 121).
2.
Das Kantonsgericht hat durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG) bei einer Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepassten Tätigkeiten gemäss dem SMAB-Gutachten vom 2. Oktober 2013 einen Invaliditätsgrad von 57 % ([[Fr. 62'005.- - Fr. 26'777.-]/Fr. 62'005.-] x 100 %) ermittelt. Dabei hat es beim auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2008 des Bundesamtes für Statistik (LSE 08) berechneten Invalideneinkommen keinen Abzug vom Tabellenlohn nach BGE 126 V 75 vorgenommen.
Die Beschwerdeführerin bestreitet den Beweiswert des Administrativgutachtens im Lichte von BGE 141 V 281. Weiter rügt sie, die Nichtgewährung eines leidensbedingten Abzugs stelle eine Ermessensunterschreitung dar.
3.
3.1.
3.1.1. Gemäss dem Administrativgutachten vom 2. Oktober 2013 bestehen u.a. eine somatoforme Schmerzstörung (ICD-10 F45.4) und eine rezidivierende depressive Störung (ICD-10 F32.1), welche als Komorbidität aufzufassen sind und von einer Persönlichkeitsproblematik (kombinierte Persönlichkeitsstörung [narzisstisch, histrionisch, unreif]; ICD-10 F61.0) überlagert werden. Ob und inwieweit bei einem solchen Beschwerdebild die neue Rechtsprechung gemäss BGE 141 V 281 zu berücksichtigen ist, wie die Beschwerdeführerin vorbringt, kann offenbleiben. So oder anders ist keine höhere Arbeitsunfähigkeit als 50 % gerechtfertigt (vgl. auch Art. 107 Abs. 1 BGG) :
Folgende Faktoren zeichnen für die (psychische) Limitierung der Arbeitsfähigkeit verantwortlich: Die Versicherte neigt zu ausgeprägter Selbstüberschätzung bezüglich ihres Leistungsvermögens. Der zwischenmenschliche Kontakt (Vorgesetzte, Mitarbeiter) ist sehr problematisch. Sie zeigt wenig Anpassungsfähigkeit an Regeln und vor allem im Sozialkontakt. In psychischen Belastungssituationen kommt sie schnell unter Druck und reagiert mit körperlichen Symptomen wie Schmerzen, Schlafstörungen und Schwindel. Die Kritikfähigkeit und die Fähigkeit zur Problembewältigung sind eingeschränkt. Der Krankheitsverlauf wird zusätzlich durch psychosoziale Faktoren moduliert (Arbeitsplatzverlust, Sozialhilfeabhängigkeit, unsichere Wohnsituation). Diese einlässlich begründete fachärztliche Befundaufnahme überzeugt auch im Lichte von BGE 141 V 281 (vgl. BGE 141 V 281 E. 8 S. 309). Nach der neuen Rechtsprechung fällt die Anerkennung einer rentenbegründenden Invalidität jedoch nur in Betracht, wenn die Aktenlage ein stimmiges Gesamtbild zeichnet, das auf eine therapeutisch nicht angehbare
funktionelle Behinderung schliessen lässt (Konsistenz; BGE 141 V 281 E. 4.4 S. 303), was bei Selbstlimitierung, wie sie im SMAB-Gutachten in somatischer Hinsicht beschrieben wird, zu verneinen ist (BGE 141 V 281 E. 3.7.1 S. 295). Angesichts des zudem bei der Versicherten vorliegenden sozialen Lebens und der vorhandenen Ressourcen (die Versicherte führt eine Partnerschaft, hat einzelne Sozialkontakte und bemüht sich, wieder Arbeit zu finden), führt die neue Rechtsprechung auch insoweit nicht zur Anerkennung eines invalidisierenden Gesundheitsschadens. Ebenso wenig vermag unter BGE 141 V 281 ein psychosozial bedingtes Beschwerdebild eine versicherte Gesundheitsbeeinträchtigung darzustellen.
3.1.2. Nicht stichhaltig ist im Übrigen das Vorbringen, der Suizidversuch 2011 sei im Gutachten "kaum kommentiert" worden, hatte doch die Beschwerdeführerin selber gegenüber dem psychiatrischen Experten angegeben, es "sei ihr aber bewusst gewesen, dass sie zu wenig Tabletten eingenommen habe, und sie deshalb am nächsten Tag zum Arzt gegangen" sei. Unter diesen Umständen sind von einer nochmaligen (psychiatrischen) Begutachtung keine neuen Erkenntnisse zu erwarten und daher davon abzusehen.
3.2. Gegen die Gewährung eines leidens- bzw. behinderungsbedingten Abzugs vom Tabellenlohn (vgl. BGE 126 V 75 E. 5a/bb und E. 5b/bb S. 78 ff.) hat die Vorinstanz ins Feld geführt, die psychische Beeinträchtigung und die sich daraus ergebenden körperlichen Symptome seien bei der attestierten Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit vollumfänglich berücksichtigt worden. Ebenfalls seien die aus den Rückenbeschwerden resultierenden Einschränkungen bei der Leistungsfähigkeit beachtet worden.
3.2.1. Mit Bezug auf den behinderungs- bzw. leidensbedingten Abzug ist zu beachten, dass das medizinische Anforderungs- und Belastungsprofil eine zum zeitlich zumutbaren Arbeitspensum tretende qualitative oder quantitative Einschränkung der Arbeitsfähigkeit darstellt, wodurch in erster Linie das Spektrum der erwerblichen Tätigkeiten (weiter) eingegrenzt wird, welche unter Berücksichtigung der Fähigkeiten, Ausbildung und Berufserfahrung der versicherten Person realistischerweise noch in Frage kommen. Davon zu unterscheiden ist die Gegenstand des Abzugs vom Tabellenlohn bildende Frage, ob mit Bezug auf eine konkret in Betracht fallende Tätigkeit bei ausgeglichener Arbeitsmarktlage verglichen mit einem gesunden Mitbewerber nur bei Inkaufnahme einer Lohneinbusse reale Chancen für eine Anstellung bestehen. Ist von einem genügend breiten Spektrum an zumutbaren Verweisungstätigkeiten auszugehen, können unter dem Titel leidensbedingter Abzug grundsätzlich nur Umstände berücksichtigt werden, die auch auf einem ausgeglichenen Arbeitsmarkt als ausserordentlich zu bezeichnen sind. Dementsprechend kann nach der Gerichtspraxis in der Regel eine psychisch bedingt verstärkte Rücksichtnahme seitens Vorgesetzter und Arbeitskollegen nicht als eigenständiger Abzugsgrund anerkannt werden (Urteil 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.1 mit Hinweisen), ebenso wenig etwa das Risiko von vermehrten gesundheitlichen Absenzen, ein grösserer Betreuungsaufwand oder weniger Flexibiltät, was das Leisten von Überstunden etwa bei Verhinderung eines Mitarbeiters anbetrifft (Urteile 9C_437/2015 vom 30. November 2015 E. 2.4, 8C_712/2012 vom 30. November 2012 E. 4.2.1 und 9C_708/2009 vom 19. November 2009 E. 2.3.2, in: SVR 2010 IV Nr. 28 S. 87).
3.2.2. Wie das Kantonsgericht festgestellt hat und worauf auch die Beschwerdeführerin hinweist, bestehen gemäss dem Administrativgutachten aufgrund der psychischen Befundlage u.a. Probleme im zwischenmenschlichen Kontakt, namentlich im Umgang mit Vorgesetzten, mangelnde Anpassungsfähigkeit, Belastungsintoleranz sowie eine hochgradige Einschränkung der Kritikfähigkeit und der Fähigkeit zur Problembewältigung. Soweit diese in der Persönlichkeit der Versicherten angelegten Eigenschaften und Verhaltensweisen nicht bereits bei der Einschätzung der Arbeitsfähigkeit aus psychiatrischer Sicht berücksichtigt wurden, verletzt es im Lichte der in E. 3.2.1 hiervor dargelegten Rechtsprechung kein Bundesrecht, dass die Vorinstanz keinen leidensbedingten Abzug vorgenommen hat. Weitere abzugsrelevante Umstände werden nicht vorgebracht, insbesondere nicht (mehr) das Alter (vgl. dazu etwa Urteile 9C_380/2015 vom 17. November 2015 E. 3.2.4 und 9C_366/2015 vom 22. September 2015 E. 4.3.2).
Die Beschwerde ist unbegründet.
4.
Ausgangsgemäss hat grundsätzlich die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Ihrem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach sie der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird gutgeheissen und es wird der Beschwerdeführerin Rechtsanwalt Stefan Galligani als Rechtsbeistand beigegeben.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt, indes einstweilen auf die Gerichtskasse genommen.
4.
Dem Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin wird für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Luzern, 3. Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 13. April 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Glanzmann
Der Gerichtsschreiber: Fessler