BGer 9C_542/2015
 
BGer 9C_542/2015 vom 31.05.2016
{T 0/2}
9C_542/2015
 
Urteil vom 31. Mai 2016
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
Gerichtsschreiber Williner.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. André Largier,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 11. Juni 2015.
 
Sachverhalt:
A. Der 1964 geborene A.________ meldete sich im August 2002 wegen Bewegungseinschränkungen und Schmerzen am linken Ellenbogen bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch und sprach ihm mit Verfügung vom 10. September 2004 eine halbe Härtefallrente der Invalidenversicherung (Invaliditätsgrad 41 %) mitsamt Ehegatten- und Kinderrenten ab Februar 2003 zu. Nachdem sich A.________ im März 2005 wegen den Folgen eines im Juni 2004 erlittenen Unfalls erneut bei der Invalidenversicherung angemeldet hatte, sprach ihm die IV-Stelle am 11. Februar 2008 eine ganze Rente von März bis Oktober 2005 sowie eine Viertelsrente ab November 2005 zu (jeweils mitsamt Ehegatten- und Kinderrenten). Eine dagegen erhobene Beschwerde wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 17. November 2009 ab.
Nach einem entsprechenden Vorbescheid vom 23. November 2010 hob die IV-Stelle die Rente mit Verfügung vom 23. Dezember 2011 rückwirkend per Januar 2010 (recte: April 2009) auf (Dispositiv-Ziffer 1). Gleichzeitig stellte sie fest, die im Zeitraum vom April 2009 bis Januar 2010 bezogenen Leistungen würden zufolge Meldepflichtverletzung zurückgefordert, worüber separat verfügt werde (Dispositiv-Ziffer 2). Während der Rechtshängigkeit der dagegen erhobenen Beschwerde vom 27. Januar 2012 stellte die IV-Stelle mit Vorbescheid vom 24. Februar 2012 in Aussicht, A.________ zur Rückerstattung von Fr. 12'260.- für im Zeitraum zwischen April 2009 und Januar 2010 zu Unrecht ausgerichteter Rentenleistungen zu verpflichten. Aufgrund hiergegen vorgebrachter Einwände sistierte die IV-Stelle das Verfahren am 4. April 2012 bis zum rechtskräftigen Entscheid über die Rentenaufhebung. Am 24. Oktober 2013 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde gegen die Verfügung vom 23. Dezember 2011 ab, worauf die IV-Stelle am 12. März 2014 den Betrag von Fr 12'260.- entsprechend dem Vorbescheid zurückforderte.
B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich hiess die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde gut und hob die Verfügung der IV-Stelle vom 12. März 2014 ersatzlos auf.
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, es sei unter Aufhebung des angefochtenen Entscheids sowie Bestätigung der Rückforderungsverfügung vom 12. März 2014 festzustellen, dass die einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 ATSG mit dem Vorbescheid der IV-Stelle vom 23. November 2010 gewahrt worden sei.
A.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei. Das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) verzichtet auf eine Stellungnahme.
 
Erwägungen:
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
2.1. Das kantonale Gericht hat die massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und die dazu von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zutreffend dargelegt. Dies betrifft namentlich die Pflicht zur Meldung von für den Leistungsanspruch wesentlichen Veränderungen der tatsächlichen Verhältnisse (Art. 31 Abs. 1 ATSG und Art. 77 IVV), den Zeitpunkt einer revisionsweisen Rentenherabsetzung oder -aufhebung bei einer Verletzung dieser Pflicht (Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV) sowie die Rückerstattung unrechtmässig bezogener Leistungen (Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG) und die dabei zu beachtende Verwirkungsfrist (Art. 25 Abs. 2 ATSG; BGE 138 V 74 E. 4.1 S. 77 mit Hinweisen). Darauf wird verwiesen.
Zu ergänzen ist, dass die relative einjährige Verwirkungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 Satz 1 ATSG mit dem Erlass des Vorbescheids gewahrt wird (BGE 133 V 579 E. 4.3.1 S. 584 mit Hinweis auf BGE 119 V 431 E. 3c S. 434).
2.2. Nach dem Grundsatz von Treu und Glauben haben Verfügungen auf dem Gebiete der Sozialversicherung so zu gelten, wie sie nach gemeinverständlichem Wortlaut zu verstehen sind (BGE 108 V 232 E. 2b S. 234; Urteil 9C_95/2015 vom 27. Mai 2015 E. 5.1).
 
3.
3.1. In formeller Hinsicht rügt die IV-Stelle vorerst eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Art. 29 Abs. 2 BV). Namentlich habe sich das kantonale Gericht nicht mit dem Einwand auseinandergesetzt, wonach die einjährige Verwirkungsfrist durch den IV-Vorbescheid vom 23. November 2010 gewahrt worden sei. Die Vorinstanz habe diesbezüglich einzig auf BGE 133 V 579 E. 4.3.1 verwiesen. Eine weitere Begründung oder wenigstens eine kurze Schilderung der Überlegungen, von denen sie sich habe leiten lassen, sei dem Entscheid nicht zu entnehmen.
3.2. Der verfassungsmässige Anspruch auf rechtliches Gehör umfasst unter anderem das Recht des Betroffenen, sich vor Erlass eines in seine Rechtsstellung eingreifenden Akts zur Sache äussern zu können. Er verlangt von der Behörde, dass sie seine Vorbringen tatsächlich hört, ernsthaft prüft und in ihrer Entscheidfindung angemessen berücksichtigt (BGE 136 I 184 E. 2.2.1 S. 188 mit Hinweisen).
Die im vorinstanzlichen Verfahren eingereichte Vernehmlassung der IV-Stelle vom 26. Mai 2014 enthält einzig den Verweis auf Ausführungen in früheren Rechtsschriften sowie den Hinweis auf die - im angefochtenen Entscheid vom 11. Juni 2015 aufgegriffene - Rechtsprechung, wonach die einjährige Verwirkungsfrist gemäss Art. 25 Abs. 2 ATSG durch den Erlass des IV-Vorbescheids gewahrt werde. Andere Vorbringen, mit denen sich die Vorinstanz hätte auseinandersetzen müssen oder überhaupt können, fehlen. Insbesondere hat sich die IV-Stelle mit keinem Wort zu der kardinalen Frage geäussert, welcher Vorbescheid - jener vom 23. November 2010 oder jener vom 24. Februar 2012 - für die Berechnung der Verwirkungsfrist massgebend ist. Eine Gehörsverletzung liegt nicht vor.
4. Materiell ist unbestritten, dass der Beschwerdegegner zwischen April 2009 und Januar 2010 in Verletzung seiner Meldepflicht zu Unrecht Rentenleistungen erhalten und die IV-Stelle (frühestens) am 21. Oktober 2010 Kenntnis von der Unrichtigkeit dieser Leistungserbringung erhalten hat. Streitig und zu prüfen ist, ob die IV-Stelle die Rentenleistungen rechtzeitig - d.h. vor Eintritt der einjährigen Verwirkung - zurückgefordert hat.
4.1. Die Vorinstanz erwog in Bezug auf die im Oktober 2011 ablaufende relative einjährige Verwirkungsfrist, die angefochtene Rückerstattungsverfügung vom 12. März 2014 bzw. der dieser zugrunde liegende Vorbescheid sei erst am 24. Februar 2012 und damit zu spät ergangen. Die Rückerstattungsverfügung sei ersatzlos aufzuheben.
4.2. Die IV-Stelle wendet ein, massgebend für die Fristwahrung sei allein die von ihr erlassene Verfügung vom 23. Dezember 2011 bzw. der dieser zugrunde liegende Vorbescheid vom 23. November 2010. Bereits damals sei materiell darüber entschieden worden, dass die vom April 2009 bis Januar 2010 ausbezahlten Leistungen zurückzuerstatten seien. Indem das kantonale Gericht dies verkannt und stattdessen auf den vollstreckungsrechtlichen Vorbescheid der Ausgleichskasse vom 24. Februar 2012 abgestellt habe, sei es in Willkür verfallen, habe die massgebende Rechtsprechung gemäss BGE 119 V 431 nicht angewandt und den Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt.
 
5.
5.1. In Dispositiv-Ziffer 2 der Verfügung vom 23. Dezember 2011 - gleich lautend im Vorbescheid vom 23. November 2010 - hatte die IV-Stelle festgehalten, was folgt: " 
5.2. Am Ergebnis, dass über die Rückerstattungspflicht im Grundsatz bereits am 23. Dezember 2011 respektive 23. November 2010 verfügt wurde, vermag auch der in Dispositiv-Ziffer 2 der besagten (Vor-) Verfügung enthaltene Zusatz nichts zu ändern, dass der Beschwerdegegner " 
Das kantonale Gericht hat den Rückforderungsanspruch zu Unrecht als verwirkt beurteilt. Dies führt zur Gutheissung der Beschwerde.
6. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten dem Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 11. Juni 2015 wird aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 12. März 2014 bestätigt.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 31. Mai 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Glanzmann
Der Gerichtsschreiber: Williner