BGer 8C_323/2016 |
BGer 8C_323/2016 vom 11.08.2016 |
{T 0/2}
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8C_323/2016
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Urteil vom 11. August 2016 |
I. sozialrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter Maillard, Präsident,
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Bundesrichter Frésard, Wirthlin,
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Gerichtsschreiberin Durizzo.
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Verfahrensbeteiligte |
vertreten durch Rechtsanwalt Jakob Frauenfelder,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung (vorinstanzliches Verfahren; Revision),
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Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 3. März 2016.
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Sachverhalt: |
A. |
A.a. A.________ hatte sich am 4. Juli 2006 bei einer Auffahrkollision ein Distorsionstrauma der Halswirbelsäule zugezogen. Mit Verfügung vom 11. November 2010 sprach ihm die IV-Stelle des Kantons Zürich gestützt auf das vom Unfallversicherer eingeholte Gutachten des Zentrums B.________ vom 13. Juli 2009 (mit psychiatrischer sowie neurologisch-neuropsychologischer Abklärung durch das Institut C.________) mit Wirkung ab dem 1. Mai 2008 eine bis zum 30. September 2008 befristete halbe Invalidenrente zu. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich bestätigte dies mit Entscheid vom 31. Mai 2012.
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A.________ führte dagegen am 16. August 2012 Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Das Verfahren (8C_613/2012) wurde mit Verfügung vom 14. September 2012 unter Hinweis auf die Rechtsprechung nach BGE 138 II 386 sistiert.
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A.b. Am 31. August 2012 beantragte A.________ unter Hinweis auf einen neuen Arztbericht die Revision des Entscheides vom 31. Mai 2012. Das Sozialversicherungsgericht wies das Gesuch mit Beschluss vom 26. September 2012 ab, soweit darauf eingetreten wurde.
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Das Bundesgericht hiess die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil 8C_899/2012 vom 7. Mai 2013 gut. Es erwog, dass dem Gesuch auf Einleitung eines Revisionsverfahrens stattzugeben sei und weitere Abklärungen angezeigt seien. Es hob den Beschluss des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 26. September 2012 auf und wies die Sache an die Vorinstanz zurück, damit sie über das Revisionsgesuch neu entscheide.
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B. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich holte beim Zentrum B.________, PD Dr. med. D.________ und Frau Dr. med. E.________, welche das Gutachten vom 13. Juli 2009 erstattet hatten, ein Ergänzungsgutachten vom 2. Oktober 2015 ein. Über die beantragte Ablehnung der Gutachter wegen Vorbefassung hatten das Sozialversicherungsgericht mit den Beschlüssen vom 29. August 2013 und das Bundesgericht mit den Urteilen 8C_716/2013 und 8C_717/2013 vom 10. Februar 2014 abschlägig befunden. Gestützt auf das neue Gutachten des Zentrums B.________ wies das Sozialversicherungsgericht das Revisionsgesuch mit Entscheid vom 3. März 2016 ab.
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C. A.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Antrag, es seien der angefochtene Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle vom 11. November 2010 aufzuheben und es seien ihm die gesetzlichen Leistungen zuzusprechen.
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Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: |
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss den Art. 95 f. BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann deren Sachverhaltsfeststellung nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Pflicht zur Begründung der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 141 V 234 E. 1 S. 236 mit Hinweisen).
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2. Nach Art. 61 lit. i ATSG muss die Revision von Entscheiden der kantonalen Versicherungsgerichte unter anderem wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel gewährleistet sein. Der Begriff "neue Tatsachen oder Beweismittel" ist gleich auszulegen wie bei der Revision formell rechtskräftiger Verfügungen und Einspracheentscheide nach Art. 53 Abs. 1 ATSG und der Revision eines Bundesgerichtsurteils nach Art. 123 Abs. 2 lit. a BGG (SVR 2010 IV Nr. 55 S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1; Urteil 8C_152/2012 vom 3. August 2012 E. 5.1).
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Nach der zum analogen Art. 137 lit. b OG ergangenen, gemäss BGE 134 III 669 E. 2.1 S. 670 (mit Hinweisen) unter der Herrschaft von Art. 123 Abs. 1 lit. a BGG weiterhin gültigen Rechtsprechung sind "neue" Tatsachen solche, die sich bis zum Zeitpunkt, da im Hauptverfahren noch tatsächliche Vorbringen prozessual zulässig waren, verwirklicht haben, jedoch dem Revisionsgesuchsteller trotz hinreichender Sorgfalt nicht bekannt waren; es handelt sich somit um unechte Noven. Die Geltendmachung echter Noven, also von Tatsachen, die sich erst nach Ausfällung des Urteils, das revidiert werden soll, zugetragen haben, ist ausgeschlossen. Die neuen Tatsachen müssen ferner erheblich sein, das heisst, sie müssen geeignet sein, die tatbeständliche Grundlage des angefochtenen Urteils zu verändern und bei zutreffender rechtlicher Würdigung zu einer andern Entscheidung zu führen. Neue Beweismittel haben entweder dem Beweis der die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsachen oder dem Beweis von Tatsachen zu dienen, die zwar im früheren Verfahren bekannt gewesen, aber zum Nachteil des Gesuchstellers unbewiesen geblieben sind. Erheblich ist ein Beweismittel, wenn anzunehmen ist, es hätte zu einem anderen Urteil geführt, falls das Gericht im Hauptverfahren davon Kenntnis gehabt hätte. Ausschlaggebend ist, dass das Beweismittel nicht bloss der Sachverhaltswürdigung, sondern der Sachverhaltsermittlung dient (BGE 127 V 353 E. 5b S. 358; 110 V 138 E. 2 S. 141; 108 V 170 E. 1 S. 171; 99 V 189 E. 1 S. 191; in BGE 134 III 286 nicht publizierte E. 4.1 des Urteils 4A_42/2008 vom 14. März 2008; SVR 2014 UV Nr. 22 S. 70, 8F_14/2013 E. 1.2; Urteile 8C_861/2014 vom 16. März 2015 E. 3.3; 8C_152/2012 vom 3. August 2012 E. 5.2; 8C_797/2011 vom 15. Februar 2012 E. 3.2).
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3. Das kantonale Gericht hat gestützt auf das neue Gutachten des Zentrums B.________ festgestellt, dass die im MRI des Schädels vom 9. August 2012 gezeigten Befunde, auf welche sich der Revisionsgesuchsteller und nunmehrige Beschwerdeführer beruft, auf neurovaskuläre Risikofaktoren zurückzuführen seien. Diese seien bereits bei der Erstbegutachtung bekannt gewesen. Auch unter Berücksichtigung des MRI seien die Gutachter wie schon bei ihrer ersten Einschätzung zum Schluss gelangt, dass die neurokognitiven Beschwerden durch die chronifizierte Schmerzproblematik und müdigkeitsassoziierte Interferenzen hinreichend erklärbar seien. Gleiches gelte hinsichtlich der Ohnmachtszustände. Nach ihren Ausführungen bestehe ein Zusammenhang zwischen der (unfallfremden) vaskulären Enzephalopathie einerseits und der neurokognitiven Leistungsfähigkeit und den präsynkopalen Ereignissen anderseits. Es handle sich dabei um ein progredientes Geschehen. Aus diesem Grund, aber auch aufgrund einer Neubeurteilung des bereits bekannten und insoweit unveränderten Gesundheitszustandes attestierten die Gutachter nunmehr eine Einschränkung in der Arbeitsfähigkeit. Während nach der Erstbegutachtung die angestammte Tätigkeit als Selbständigerwerbender im Auto-Occasionshandel ganztags und in vollem Leistungsausmass als zumutbar erachtet wurde, bescheinigten die Gutachter gestützt auf das neue Beweismittel eine 20-prozentige Einschränkung sowohl für die angestammte als auch für eine leidensangepasste Tätigkeit für den Zeitpunkt der Erstbegutachtung und eine schleichende Verschlechterung der neurokognitiven Leistungsfähigkeit ab März 2009 mit linear zunehmender Einschränkung auf eine nunmehr 50-prozentige Einschränkung in der angestammten Tätigkeit beziehungsweise eine 30-prozentige Einbusse in einer leichten bis mittelschweren Tätigkeit mit nur wenig Verantwortung und Erfolgsabhängigkeit.
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4. Der Beschwerdeführer beruft sich darauf, dass sich sein Zustand verschlechtert habe und - aufgrund der von den Gutachtern angenommenen linearen Progredienz - zumindest seit Januar 2013 eine 40-prozentige Arbeitsunfähigkeit und damit eine rentenbegründende Invalidität bestehe. Es seien ihm deshalb die entsprechenden Leistungen der Invalidenversicherung zuzusprechen.
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Zu beurteilen war im vorliegenden Verfahren allein, ob das neue Beweismittel zu einer anderen Beurteilung durch das kantonale Gericht führen müsse als in seinem Entscheid vom 31. Mai 2012. In zeitlicher Hinsicht massgebend waren damals und sind auch jetzt die Verhältnisse, wie sie sich bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 11. November 2010 präsentiert haben. Ob danach eine Verschlechterung eingetreten ist, bleibt bei der prozessualen Revision des vorinstanzlichen Entscheides vom 31. Mai 2012 unbeachtlich. Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers bleibt für die Beurteilung seines Rentenanspruchs auch im vorliegenden Verfahren eine allfällige Veränderung bis zum Zeitpunkt des hier angefochtenen Entscheides vom 3. März 2016 unberücksichtigt und ist auf den Einwand deshalb nicht weiter einzugehen. Immerhin ist eine Klarstellung angezeigt, soweit sich der Beschwerdeführer auf BGE 135 II 369 beruft. Das Bundesgericht hat in jenem Urteil erwogen, das Bundesgerichtsgesetz schreibe den Kantonen vor, dass die richterliche Vorinstanz des Bundesgerichts oder ein vorgängig zuständiges Gericht den Sachverhalt frei prüfe und das Recht von Amtes wegen anwende (Art. 110 BGG). Daraus folge, dass der Sachverhalt im gerichtlichen Verfahren zu erstellen sei, weshalb diesem Gericht auch neue Tatsachen und Beweismittel unterbreitet werden könnten (BGE 135 II 369 E. 3.3 S. 374). Die Rechtsweggarantie und die darin angelegte Verpflichtung der Gerichte, den Sachverhalt umfassend zu überprüfen, kann nicht dahingehend verstanden werden, dass sich damit der für die sozialversicherungsgerichtliche Kontrolle massgebliche Prüfungszeitraum über den Zeitpunkt der angefochtenen Verfügung hinaus bis hin zu jenem des Gerichtsentscheids verlagern würde. Noven, auch echte, sind im erstinstanzlichen Beschwerdeverfahren sehr wohl zugelassen, aber nur insoweit, als sie Rückschlüsse auf den Sachverhalt bis zum Verfügungserlass erlauben.
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5. Die Vorinstanz hat festgehalten, dass selbst dann, wenn für den Zeitpunkt der Erstbegutachtung von der neuen Einschätzung der Gutachter des Zentrums B.________ und damit von einer 20-prozentigen Arbeitsunfähigkeit statt einer vollen Arbeitsfähigkeit auszugehen wäre, bis zum Verfügungserlass am 11. November 2010 kein Rentenanspruch mehr hätte entstehen können: Wenn der Versicherte, wie gutachtlich neu angenommen, im März 2009 als Auto-Occasionshändler zu 80 Prozent arbeitsfähig gewesen und in der Folge eine lineare Verschlechterung eingetreten wäre bis zu einer 50-prozentigen Arbeitsfähigkeit am 14. November 2014 (neurologische Abklärung), wäre jedenfalls bis zum 11. November 2010 keine rentenbegründende Invalidität von 40 Prozent eingetreten.
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Der Beschwerdeführer äussert sich nicht dazu, inwiefern diese vorinstanzlichen Feststellungen offensichtlich unrichtig wären. Dass das kantonale Gericht der Einschätzung der Gutachter nicht folgen konnte, soweit sie die Arbeitsfähigkeit für den Zeitpunkt der Erstbegutachtung nunmehr neu beurteilten, war nach den dargelegten vorinstanzlichen Erwägungen für den Rentenanspruch am 11. November 2010 nicht von Belang. Auch ist die angefochtene Abweisung des Revisionsgesuchs durch das kantonale Gericht nach den dargelegten Erwägungen nicht bundesrechtswidrig. Die dagegen erhobene Beschwerde ist deshalb abzuweisen.
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6. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 65 Abs. 4 lit. a in Verbindung mit Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 11. August 2016
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Maillard
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Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
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