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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
[img]
{T 0/2}
1C_21/2016
Urteil vom 12. September 2016
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
Bundesrichter Eusebio, Kneubühler,
Gerichtsschreiber Misic.
Verfahrensbeteiligte
Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau,
Postfach, 5001 Aarau,
Beschwerdeführer,
gegen
A.________,
Beschwerdegegner,
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Ernst Kistler,
Gegenstand
Entzug des Führerausweises,
Beschwerde gegen das Urteil vom 25. November 2015 des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 1. Kammer.
Sachverhalt:
A.
Das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau sprach gegen A.________, der den Führerausweis der Kategorie B (Personenwagen) seit dem 14. März 1968 besitzt, bisher folgende Administrativmassnahmen aus:
"26.03.1978 Entzug 6 Monate (Alkohol)
17.09.1987 Entzug 4 Monate (Alkohol)
12.07.1990 Entzug 18 Monate und Verkehrsunterricht (Alkohol)
06.12.1990 Aufhebung der Verfügung vom 12.07.1990 bzw. vorzeitige Wiedererteilung des Führerausweises unter Auflagen
30.05.1991 Aufhebung der Auflagen gemäss Verfügung vom 06.12.1990
14.09.1995 Vorsorglicher Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit mit Wirkung ab 30.08.1995 (Alkohol)
01.02.1996 Entzug 18 Monate (gemäss Gutachten vom 19.12.1995 lag keine Trunksucht vor; ersetzt Verfügung vom 14.09.1995)
26.08.1999 Definitiver Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit mit Wirkung ab 27.06.1998 (Alkohol)
19.04.2000 Wiedererteilung des Führerausweises unter Auflagen "Vollständige Alkoholabstinenz"
11.04.2002 Definitiver Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit (Alkohol/Missachten Auflage)
20.06.2002 Wiedererteilung des Führerausweises unter Auflagen "Vollständige Alkoholabstinenz; Ambulante Therapie"
02.10.2003 Definitiver Sicherungsentzug auf unbestimmte Zeit mit Wirkung ab 27.03.2003 (Alkohol)
05.04.2004 Wiedererteilung des Führerausweises unter Auflage "Vollständige Alkoholabstinenz"
07.04.2005 Aufhebung der Auflage gemäss Verfügung vom 05.04.2004
03.07.2009 Entzug für immer mit Wirkung ab 29.10.2008"
B.
Am 22. April 2014 wies das Strassenverkehrsamt den Antrag von A.________ um Wiedererteilung des Führerausweises ab. Zuvor sei eine eingehende verkehrsmedizinische und verkehrspsychologische Begutachtung durchzuführen. Nach einem positiv lautenden Gutachten müsse er sich zudem einer Kontrollfahrt unterziehen.
C.
Am 5. Dezember 2014, um 6:40 Uhr, wurde A.________ in N.________ beim Führen eines Motorfahrzeugs angetroffen. Aufgrund dieser schweren Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz setzte das Strassenverkehrsamt die Entzugsdauer neu fest und entzog A.________ mit Verfügung vom 27. März 2015 den Führerausweis erneut für immer (d.h. bis zum 5. Dezember 2019).
D.
Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde wies das Departement Volkswirtschaft und Inneres des Kantons Aargau (DVI) am 14. Juli 2015 ab.
E.
Mit Urteil vom 25. November 2015 hiess das Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, die Beschwerde von A.________ teilweise gut. Es hob den Entscheid des DVI auf und ordnete an, dass bis zu einem neuen Entscheid im Sicherungsentzugsverfahren dem Beschwerdeführer der Führerausweis gestützt auf die Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 3. Juli 2009 entzogen bleibe. Das Verwaltungsgericht ordnete zudem eine Sperrfrist von zwölf Monaten an (ab dem 5. Dezember 2014).
F.
Das Strassenverkehrsamt des Kantons Aargau erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Die Behörde beantragt die Aufhebung des Urteils des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau und die Bestätigung des Entscheids des DVI vom 14. Juli 2015.
Das Verwaltungsgericht hat sich vernehmen lassen und stellt den Antrag auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragt die Gutheissung der Beschwerde des Strassenverkehrsamts. Der Beschwerdegegner hat sich dazu geäussert.
Erwägungen:
1.
Angefochten ist ein kantonal letztinstanzlicher Endentscheid über eine Administrativmassnahme im Strassenverkehr. Gemäss Art. 24 Abs. 1 SVG richtet sich das Beschwerdeverfahren nach den allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. Gegen den angefochtenen Entscheid steht die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten grundsätzlich offen (Art. 82 ff. BGG). Ein Ausnahmegrund nach Art. 83 BGG liegt nicht vor. Der Beschwerdeführer ist gestützt auf Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. a SVG zur Beschwerde berechtigt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen sind erfüllt. Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
2.
Strittig ist, ob der mit Verfügung des Strassenverkehrsamts vom 27. März 2015 neu festgesetzte Sicherungsentzug für immer ab dem 5. Dezember 2014 rechtmässig ist.
3.
3.1. Führerausweise sind zu entziehen, wenn festgestellt wird, dass die gesetzlichen Voraussetzungen zur Erteilung nicht oder nicht mehr bestehen (Art. 16 Abs. 1 SVG). Der Führerausweis wird einer Person wegen fehlender Fahreignung für immer entzogen, wenn diese unverbesserlich ist (Art. 16d Abs. 3 lit. a SVG, der mit Art. 17 Abs. 2 aSVG übereinstimmt [BBl 1999 4492]; zum hier nicht einschlägigen Sicherungsentzug für immer wegen wiederholter Begehung eines Raserdelikts vgl. Art. 16d Abs. 3 lit. b i.V.m. Art. 16c Abs. 2 lit. a bis SVG). Dieser Sicherungsentzug dient der Gefahrenabwehr und bezweckt als ultima ratio und in offensichtlichen Fällen ("cas évidents" vgl. Urteil des Bundesgerichts 1C_404/2007 vom 7. März 2008 E. 2.3), immer wieder rückfällig werdende Fahrzeugführer aufgrund charakterlicher Nichteignung vom Strassenverkehr fernzuhalten (BGE 106 Ib 328 E. a S. 329; vgl. auch BBl 1955 II 24; HANS GIGER, Kommentar SVG, 8. Aufl. 2014, Rz. 13 zu Art. 16d SVG; CÉDRIC MIZEL, Droit et pratique illustrée du retrait du permis de conduire, 2015, S. 176; BERNHARD RÜTSCHE/NADJA D'AMICO, in: Basler Kommentar SVG, 2014, Rz. 59 zu Art. 16d SVG ["renitente Wiederholungstäter"]; DERS./SCHNEIDER, a.a.O., Rz. 14 zu Art. 23 SVG [gravierende charakterliche Mängel]).
3.2. Der Gesetzgeber wollte die Administrativmassnahmen im Strassenverkehr bei Rückfällen deutlich verschärfen. Personen, die wiederholt elementare Verkehrsregeln verletzen und damit das Leben anderer Verkehrsteilnehmer aufs Spiel setzen, sollen für lange Zeit (oder sogar für immer) aus dem Verkehr gezogen werden (BBl 1999 4474 Ziff. 121.3; BGE 141 II 220 E. 3.3.2 S. 226). Entgegen dem Wortlaut der Bestimmung gilt der Sicherungsentzug für immer jedoch nicht auf Lebenszeit des Betroffenen (BGE 106 Ib 328 E. a S. 329). Der entzogene Führerausweis kann aber nur wiedererteilt werden, wenn die Massnahme fünf Jahre gedauert hat und glaubhaft gemacht wird, dass die Voraussetzungen für den Sicherungsentzugs weggefallen sind (Art. 17 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 3 SVG). Während der gesetzlichen Sperrfrist von fünf Jahren ist der Beweis der Fahreignung ausgeschlossen. Weil die Aussichten auf Wiedererlangung der Fahreignung regelmässig besonders schlecht sind (RÜTSCHE/D'AMICO, a.a.O., Rz. 60 zu Art. 16d SVG), handelt es sich beim Sicherungsentzug gemäss Art. 16d Abs. 3 lit. a SVG um eine der einschneidensten Administrativmassnahmen des Strassenverkehrsgesetzes, die schwer in die Persönlichkeitsrechte und die Privatsphäre der betroffenen Person eingreifen kann (vgl. bereits in Bezug auf den vorsorglichen Sicherungsentzug BGE 141 II 220 E. 3.1.1 S. 223 mit Hinweis).
3.3. Hat eine Person trotz Sicherungsentzugs nach Art. 16d SVG ein Motorfahrzeug geführt, kann der laufende Entzug nicht durch einen befristeten Warnungsentzug ersetzt werden, denn der Sicherungsentzug dauert grundsätzlich so lange, bis die Fahreignung durch ein Gutachten wieder bestätigt worden ist (vgl. Art. 15d Abs. 1 SVG und Art. 28a VZV [SR 741.51], weshalb die Wiedererteilung des Fahrausweises häufig auch nicht sofort nach Ablauf der Sperrfrist erfolgen kann). Die allfällige Wiedererteilung des Führerausweises kann daher nur hinausgezögert werden (BBl 1999 4491; vgl. auch RÜTSCHE/WEBER, Basler Kommentar SVG, a.a.O., Rz. 66 zu Art. 16c SVG; MIZEL, a.a.O., S. 515; zur Praxis unter Art. 17 Abs. 1 lit. c aSVG vgl. RENÉ SCHAFFHAUSER, Grundriss des schweizerischen Strassenverkehrsrechts, Band III, 1995, Rz. 2490). In diesem Fall sieht Art. 16c Abs. 4 SVG vor, dass eine Sperrfrist zu verfügen ist, die der für die Widerhandlung vorgesehenen Mindestentzugsdauer zu entsprechen hat. Während dieser Sperrfrist soll die betroffene Person kein Gesuch um Wiedererteilung des Führerausweises stellen können, auch wenn der Entzugsgrund nach Art. 16d SVG weggefallen ist. Damit soll eine mögliche Ungleichbehandlung verhindert werden.
3.4. Die Sperrfrist gemäss Art. 16c Abs. 4 SVG bemisst sich nach den in Art. 16c Abs. 2 lit. a-e SVG vorgesehenen Mindestentzugsdauern (GIGER, a.a.O., Rz. 24 zu Art. 16c SVG; RÜTSCHE/WEBER, a.a.O., Rz. 67 zu Art. 16c SVG; PHILIPPE WEISSENBERGER, Kommentar SVG, 2. Aufl. 2015, Rz. 56 zu Art. 16c SVG), die nicht unterschritten werden dürfen (Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG). Die gesetzliche Abstufung der Mindestdauern der Ausweisentzüge bei schweren Widerhandlungen (Art. 16c Abs. 2 lit. a-e SVG) trägt insbesondere dem Umstand Rechnung, ob bereits früher (mittelschwere oder schwere) Widerhandlungen erfolgt sind und wie weit diese zeitlich zurückliegen (sog. Kaskadensystem der Mindestentzugsdauern; vgl. BGE 141 II 220 E. 3.3.2 S. 226 mit Hinweis).
4.
4.1. Der Beschwerdegegner hat am 5. Dezember 2014 trotz Sicherungsentzugs für immer wegen Unverbesserlichkeit ein Motorfahrzeug geführt und damit eine schwere Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz begangen (Art. 16c Abs. 1 lit. f SVG). Die Vorinstanz hat befunden, vorliegend sei Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG für die Bemessung der Mindestentzugsdauer einschlägig, da in den vorangegangenen fünf Jahren der Führerausweis des Beschwerdegegners einmal wegen einer schweren Widerhandlung entzogen worden sei. Der vom Strassenverkehrsamt am 3. Juli 2009 angeordnete und heute noch immer bestehende Führerausweisentzug für immer habe auf der am 28. Oktober 2008 begangenen schweren Widerhandlung beruht, als der Beschwerdegegner einen Personenwagen in angetrunkenem Zustand gefahren sei. Folglich sei in Anwendung von Art. 16c Abs. 4 i.V.m. Art. 16c Abs. 2 lit. c SVG eine Sperrfrist von zwölf Monaten anzuordnen.
4.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, der vorinstanzliche Entscheid möge im vorliegenden Fall zwar zu einer akzeptablen Lösung führen, nicht aber in Fällen, in denen z.B. eine Person mit einem Sicherungsentzug für immer wegen Unverbesserlichkeit bereits im ersten Jahr nach dem Führerscheinentzugs ein Motorfahrzeug fahre. Auch dann müsste in Anwendung des vorinstanzlichen Entscheids eine zwölfmonatige Sperrfrist ausgesprochen werden. Gemäss Art. 16c Abs. 3 SVG trete aber die Dauer des Ausweisentzugs wegen einer Widerhandlung nach Art. 16Abs. 1 lit. f SVG an die noch verbleibende Dauer des laufenden Entzugs. Somit würde die neue Sperrfrist die fünfjährige Sperrfrist überlagern. Im Ergebnis könnte eine Fahrt trotz Führerausweisentzugs in den ersten vier Jahren eines Sicherungsentzugs für immer faktisch nicht geahndet werden, sofern die neue Entzugsdauer kürzer wäre als die verbleibende Sperrfrist. In analoger Anwendung von Art. 16c Abs. 2 lit. e SVG sei deshalb eine fünfjährige Sperrfrist zu verfügen.
4.3. Mit dieser Argumentation verkennt der Beschwerdeführer, dass Art. 16c Abs. 3 SVG nur bei Warnungsentzügen Anwendung findet, nicht dagegen bei Sicherungsentzügen, für die Art. 16c Abs. 4 SVG die Rechtsfolgen darlegt (so auch RÜTSCHE/WEBER, a.a.O., Rz. 61 und Rz. 66 zu Art. 16c SVG). Deshalb tritt die Sperrfrist bei Sicherungsentzügen nicht an die Stelle der noch verbleibenden Dauer des laufenden Sicherungsentzugs, sondern wird, wie bereits dargelegt (E. 3.3) an den laufenden Sicherungsentzug "angehängt" und dieser somit hinausgezögert. Daher kann es - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - zu keiner Überlagerung kommen. Im Übrigen beruht die ratio legis von Art. 16c Abs. 4 SVG nicht primär auf der Überlegung, das Führen eines Fahrzeugs von einer unter Sicherungsentzug stehenden Person nochmals zusätzlich zu ahnden, sondern vielmehr eine mögliche Ungleichbehandlung im Vergleich zu Personen, gegen welche ein Warnungsentzug angeordnet wurde, zu verhindern (WEISSENBERGER, a.a.O., Rz. 56 zu Art. 16c SVG).
4.4. Wie bereits ausgeführt, darf die Mindestentzugsdauer von den Behörden bei der Bemessung der Entzugsdauer nicht unterschritten werden (Art. 16 Abs. 3 Satz 2 SVG). Bei einem massiv getrübten Leumund ist eine Massnahmeverschärfung gegenüber unverbesserlichen Wiederholungstätern nach Art. 16c Abs. 3 lit. a SVG durch die Anordnung einer höheren Entzugsdauer somit durchaus möglich (RÜTSCHE, a.a.O., Rz. 97 zu Art. 16 SVG). Dabei gilt es jedoch, die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen und die Verhältnismässigkeit zu wahren. Angesichts des schweren Grundrechtseingriffs in Bezug auf die vom Beschwerdeführer beabsichtigte Anordnung einer weiteren, fünfjährigen Sperrfrist bedürfte es zudem einer klaren gesetzlichen Grundlage, die vorliegend nicht gegeben ist. Damit verbleibt für die vom Beschwerdeführer vertretene These, Art. 16c Abs. 2 lit. e SVG sei analog anwendbar, kein Raum.
5.
Nach dem Gesagten erweist sich die Beschwerde als unbegründet und ist abzuweisen.
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton Aargau hat den Beschwerdegegner angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Aargau hat dem Vertreter des Beschwerdegegners für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 1. Kammer, und dem Bundesamt für Strassen, Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 12. September 2016
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Fonjallaz
Der Gerichtsschreiber: Misic