BGer 9C_550/2016
 
BGer 9C_550/2016 vom 30.12.2016
{T 0/2}
9C_550/2016
 
Urteil vom 30. Dezember 2016
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin Huber.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin
Ursula Reger-Wyttenbach,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 22. Juni 2016.
 
Sachverhalt:
A. Der 1959 geborene A.________ meldete sich am 26. März 2009 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zürich führte erwerbliche und medizinische Abklärungen durch; namentlich gab sie eine polydisziplinäre Begutachtung bei der Medizinischen Abklärungsstelle (MEDAS) Zentralschweiz in Auftrag (Expertise vom 27. September 2010). Mit Verfügung vom 24. Mai 2011 wies die Verwaltung das Leistungsbegehren ab.
Am 21. August 2013 meldete sich A.________ erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an, worauf die IV-Stelle wiederum eine polydisziplinäre Begutachtung im Zentrum für Interdisziplinäre Medizinische Begutachtungen AG (ZIMB) veranlasste (Expertise vom 27. September 2014). Auf dieser Basis verneinte die IV-Stelle am 16. Dezember 2014 einen Leistungsanspruch.
B. Die von A.________ dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 22. Juni 2016 teilweise gut. Es hob die angefochtene Verfügung auf und stellte fest, der Versicherte habe ab dem 1. Dezember 2013 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente.
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten. Sie beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheids und die Bestätigung der Verfügung vom 16. Dezember 2014.
A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
 
Erwägungen:
1. 
1.1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
1.2. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das Bundesgericht seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat (E. 1.1 hievor). Die konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.), die das Bundesgericht im Rahmen der den Parteien obliegenden Begründungs- bzw. Rügepflicht (Art. 42 Abs. 2 BGG und Art. 106 Abs. 2 BGG) frei überprüfen kann (Art. 106 Abs. 1 BGG).
2. Die Vorinstanz hat im angefochtenen Entscheid die massgebenden Gesetzesbestimmungen und die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Rentenrevision, die bei Neuanmeldungen analog Anwendung finden (Art. 17 Abs. 1 ATSG; Art. 87 Abs. 2 und 3 IVV; BGE 130 V 71 E. 3.2.3 S. 75 f.), zu den dabei massgebenden Vergleichszeitpunkten (BGE 133 V 108 E. 5.1 S. 110 ff.) sowie zum Beweiswert und zur Beweiswürdigung ärztlicher Berichte und Gutachten (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
3.
3.1. Streitig und zu prüfen ist, ob sich der Gesundheitszustand des Versicherten im Vergleichszeitraum zwischen der rechtskräftigen Leistungsabweisung (Verfügung vom 24. Mai 2011) und der verfügungsweisen Neuprüfung vom 16. Dezember 2014 in - analog - revisionsrechtlich erheblicher Weise verändert hat.
3.2. Die Vorinstanz erwog unter Hinweis auf die bundesgerichtliche Rechtsprechung zum Beweiswert von Expertisen (vgl. E. 2 hievor), auf das Gutachten des ZIMB vom 27. September 2014 könne abgestellt werden. Danach leide der Beschwerdegegner mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit an einer rezidivierenden depressiven Störung (ICD-10 F38.10), derzeit schwergradig ausgeprägt, an einer kombinierten Persönlichkeitsstörung mit paranoiden und ängstlich-vermeidenden Zügen (ICD-10 F61.0) sowie an einer Periarthropathia coxae rechts. Der Gesundheitszustand habe sich somit entgegen den Ausführungen der IV-Stelle in der Verfügung vom 16. Dezember 2014 in psychiatrischer Hinsicht verschlechtert. Es sei nunmehr von einer 50%igen Arbeitsunfähigkeit in jeglichen Tätigkeiten auszugehen.
3.3. Die Feststellungen der Vorinstanz zum somatischen Gesundheitszustand und dessen Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bestreitet die IV-Stelle nicht. Sie verneint jedoch die vom kantonalen Gericht angenommene Gesundheitsverschlechterung aus psychiatrischer Sicht. Sie macht geltend, indem die Vorinstanz einen invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden anerkenne und von einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % ausgehe, habe sie Bundesrecht verletzt. Anhand der im Gutachten erhobenen Befunde seien die Symptome für eine schwere depressive Episode nicht erfüllt und die diagnostizierte kombinierte Persönlichkeitsstörung könne nicht nachvollzogen werden. Es fehle der Nachweis, dass die Störung von langer Dauer sei und im späten Kindesalter oder der Adoleszenz begonnen habe.
 
4.
4.1. Hinsichtlich der von der Beschwerdeführerin als nicht ausgewiesen betrachteten rezidivierenden kurzen depressiven Störung, derzeit schwergradig ausgeprägt, berichtete der psychiatrische Gutachter, es zeige sich eine kontinuierlich vorhandene depressive Symptomatik, die er als Dysthymie werte. Die depressiven Einbrüche, die im Sinne einer rezidivierenden, kurzen depressiven Störung auftreten würden, seien schwergradig ausgeprägt. Neben innerlicher Angespanntheit, Hoffnungslosigkeit, leichter Dysphorie, Gereiztheit und herabgesetzter Vitalgefühle erkannte er Durchschlafstörungen, eine Selbstwertproblematik, deutlich ausgeprägten Libidoverlust, einen deutlich sozialen Rückzug, leichte Freudlosigkeit sowie eine latente Suizidalität. Damit liegen durchaus verschiedene Anhaltspunkte vor, die dafür sprechen, dass die depressiven Einbrüche, welche gemäss der Expertise typischerweise Stunden bis Tage andauern würden, als schwergradig ausgeprägt erachtet werden können. Auf jeden Fall kann von offensichtlicher Unrichtigkeit (E. 1.1 in fine) keine Rede sein, zumal die psychiatrische Exploration von der Natur der Sache her nicht ermessensfrei erfolgen kann und dem oder der medizinischen Sachverständigen deshalb praktisch immer einen gewissen Spielraum eröffnet, innerhalb welchem verschiedene Interpretationen möglich, zulässig und im Rahmen einer Exploration lege artis zu respektieren sind (vgl. statt vieler Urteil 9C_353/2015 vom 24. November 2015 E. 4.1; vgl. zum Ganzen Urteil 9C_634/2015 vom 15. März 2016 E. 6.1). Die von der Vorinstanz auf der Grundlage dieses Gutachtens getroffene Tatsachenfeststellung zum Schweregrad der rezidivierenden kurzen depressiven Störung erscheint folglich bundesrechtskonform. Gestützt auf diese für das Bundesgericht verbindliche Feststellung (E. 1.1) kann der hier vorliegenden Diagnose aufgrund der schwergradigen Ausprägung eine invalidisierende Wirkung nicht mit der Begründung abgesprochen werden, es handle sich nur um kurze Episoden.
 
4.2.
4.2.1. Allein der Umstand, dass sich der psychiatrische Gutachter nicht explizit zur Frage äusserte, ob die Diagnose der kombinierten Persönlichkeitsstörung bereits im Kindesalter oder der Adoleszenz in Erscheinung trat, vermag die von ihm getroffene, von den weiteren an der Begutachtung beteiligten Ärzten mitgetragene Einschätzung im Rahmen der gesetzlichen Kognition (E. 1.1) ebenfalls nicht zu erschüttern. Denn es kommt invalidenversicherungsrechtlich nicht auf die Diagnose, sondern einzig darauf an, welche Auswirkungen eine Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit hat (BGE 136 V 279 E. 3.2.1 S. 281). Massgebend ist in erster Linie der lege artis erhobene psychopathologische Befund und der Schweregrad der Symptomatik (vgl. BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353 f. mit Hinweisen). Wird eine ICD-10 F-kodierte psychiatrische Diagnose gestellt, ist für die Nachvollziehbarkeit der Diagnosefindung für die rechtsanwendenden Behörden erforderlich, dass der Gutachter oder die Gutachterin wenigstens kurz darlegt, welche der charakterisierenden Kriterien inwiefern und wie ausgeprägt gegeben sind. Wie bereits ausgeführt (E. 4.1), gilt zu berücksichtigen, dass die psychiatrische Exploration von der Natur der Sache her nicht ermessensfrei erfolgen kann und dem oder der medizinischen Sachverständigen deshalb praktisch immer einen gewissen Spielraum eröffnet, innerhalb welchem verschiedene Interpretationen möglich, zulässig und im Rahmen einer Exploration lege artis zu respektieren sind (vgl. bereits zitierte Urteile 9C_353/2015 E. 4.1 und 9C_634/2015 E. 6.1).
4.2.2. Der psychiatrische Gutachter nahm zu sämtlichen medizinischen Akten einlässlich Stellung. Er diskutierte die erhobenen Befunde und legte anhand der beobachteten und der vom Versicherten selber angegebenen Symptome dar, inwiefern er die Beurteilung der behandelnden Ärztin als vertretbar erachtete. Die paranoiden Persönlichkeitsanteile begründete der Experte entgegen den Vorbringen der Beschwerdeführerin ebenso wie die ängstlich-vermeidenden Anteile. Er führte aus, im Gespräch sei eine sehr wenig ausgeprägte Introspektionsfähigkeit des Beschwerdegegners auffallend. Probleme projiziere er nach aussen und die Schuld an seiner Situation gebe er der Gesellschaft oder dem Schweizer Sozialsystem. Während des gesamten Gesprächs sei auch eine Selbstbezogenheit des Versicherten spürbar, was der Gutachter als paranoide Persönlichkeitsanteile erachtete. Die ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitsanteile sowie eine Selbstwertproblematik seien im Untersuchungsgespräch nicht so deutlich geworden. Aufgrund der aktuellen Untersuchungsbefunde und des Gesprächs mit der langjährigen Therapeutin könne jedoch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit von einer kombinierten Persönlichkeitsstörung ausgegangen werden. Insgesamt begründete der Psychiater die attestierte Arbeitsunfähigkeit von 50 % für sämtliche Tätigkeiten nicht allein mit dem Verweis auf die von ihm gestellten Diagnosen. Er erachtete den Beschwerdegegner aufgrund einer verminderten Anpassungsfähigkeit, einer verminderten Stresstoleranz sowie einer verminderten Belastbarkeit in der Arbeitsfähigkeit als eingeschränkt.
4.3. Es bleibt darauf hinzuweisen, dass keine medizinischen Akten vorhanden sind, die das Gutachten des ZIMB vom 27. September 2014 in Zweifel zu ziehen vermöchten. Der psychiatrische Gutachter pflichtete gar weitgehend dem Bericht der behandelnden Ärztin vom 30. November 2013 bei und erachtete ihre gestellten Diagnosen als nachvollziehbar. Die Differenzen zu seinen Diagnosen seien darauf zurückzuführen, dass er die Symptomatik etwas anders werte. Insbesondere schloss sich der Regionale Ärztliche Dienst (RAD) der polydisziplinären Expertise an und gab am 9. Oktober 2014 zu Protokoll, den gestellten Diagnosen und der attestierten Arbeitsfähigkeit im ZIMB-Gutachten könne gefolgt werden.
4.4. Die Vorinstanz stellte in Anlehnung an das Gutachten des ZIMB fest, der psychische Gesundheitszustand habe sich verschlechtert. Soweit die Beschwerdeführerin betreffend sozialen Rückzug des Versicherten geltend macht, daran habe sich im Vergleich zum Gutachten der MEDAS Zentralschweiz nichts verändert, vermag sie damit die Feststellung des kantonalen Gerichts nicht als offensichtlich unrichtig oder sonst auf einer Rechtsverletzung beruhend erscheinen lassen. Denn der psychiatrische Gutachter des ZIMB kam zum Schluss, seit der in der Expertise der MEDAS Zentralschweiz aus dem Jahr 2010 diagnostizierten Dysthymie, welche keine Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit bewirkt habe, sei eine nachweisliche Verschlechterung des psychischen Zustandsbilds eingetreten. Er stützte sich hierbei insbesondere auf die behandelnde Psychiaterin, welche am 30. November 2013 berichtete, der Zustand habe sich in den letzten zwei Jahren deutlich verschlechtert.
4.5. Aus dem Hinweis der Beschwerdeführerin, der Versicherte nehme keine medikamentöse Therapie wahr, kann sie unter den hier gegebenen speziellen Umständen nichts Entscheidendes zu ihren Gunsten ableiten. Laut psychiatrischem Teilgutachten könnte eine antidepressive Medikation eventuell mit einem trizyklischen Antidepressivum eingeleitet werden. Dies bräuchte sehr viel Motivationsarbeit, da der Beschwerdegegner bereits zweimal Antidepressiva nicht vertragen habe und diesen daher sehr kritisch gegenüber stehe. Eine Leistungsverweigerung oder -kürzung mit der Begründung, die versicherte Person nehme keine medikamentöse Therapie wahr, setzt voraus, dass die IV-Stelle nach Art. 21 Abs. 4 ATSG vorgeht. Da die Verwaltung kein Mahn- und Bedenkzeitverfahren durchgeführt hat, kann dem Beschwerdegegner die Leistung nicht mit der Begründung, er nehme keine medikamentöse Therapie wahr, verweigert werden (vgl. Urteil 9C_391/2016 vom 4. November 2016 E. 3).
4.6. Nach dem Gesagten ist die Kritik der Beschwerdeführerin am Gutachten des ZIMB nicht stichhaltig. Insgesamt erfüllt die Expertise die Anforderungen an die Beweiskraft (E. 2). Wenn die Vorinstanz in deren Würdigung in psychischer Hinsicht von einer anspruchsbegründenden Verschlechterung und somit von einem invalidisierenden Gesundheitsschaden ausging, verletzt sie kein Bundesrecht. Damit bleiben auch die darauf beruhenden vorinstanzlichen Feststellungen betreffend die Arbeitsfähigkeit für das Bundesgericht verbindlich (E. 1.1).
5. Da die Beschwerdeführerin die weiteren Erwägungen der Vorinstanz zu Invaliditätsgrad und Beginn des Rentenanspruchs nicht in Frage stellt, hat es mit diesen Ausführungen sein Bewenden. Die Beschwerde ist unbegründet.
6. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine aufwandentsprechende Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3. Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.- zu entschädigen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 30. Dezember 2016
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Pfiffner
Die Gerichtsschreiberin: Huber