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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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6B_629/2017
Urteil vom 20. März 2018
Strafrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Denys, Präsident,
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
Bundesrichter Rüedi,
Gerichtsschreiber Matt.
Verfahrensbeteiligte
X.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Fatih Aslantas,
Beschwerdeführer,
gegen
1. Generalstaatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Zürcherstrasse 323, 8510 Frauenfeld,
2. A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Christoph Zobl,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Versuchte vorsätzliche Tötung, Raufhandel, mehrfache Beschäftigung von Ausländern ohne Bewilligung, Willkür,
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 6. März 2017 (SBR.2016.55).
Sachverhalt:
A.
Am 6. Juli 2016 verurteilte das Bezirksgericht Münchwilen X.________ wegen versuchter vorsätzlicher Tötung zum Nachteil von A.________, Raufhandels und mehrfacher Beschäftigung von Ausländern ohne Bewilligung zu drei Jahren Freiheitsstrafe, davon zwei Jahre bedingt, sowie zu 220 Tagessätzen Geldstrafe, wovon es 120 Tagessätze aufschob. Das Obergericht des Kantons Thurgau bestätigte das erstinstanzliche Urteil am 6. März 2017.
B.
X.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, er sei freizusprechen. Eventualiter sei die Sache an das Obergericht zurückzuweisen. Er ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
C.
Das Obergericht des Kantons Thurgau verzichtet auf eine Stellungnahme. Die Generalstaatsanwaltschaft sowie A.________ lassen sich innert Frist nicht vernehmen.
Erwägungen:
1.
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung von Bundesrecht sowie seines Anspruchs auf rechtliches Gehör. Die Vorinstanz habe ihn nicht persönlich befragt und ihm keine Gelegenheit gegeben, Beweisanträge zu stellen. Auch eine Befragung des Beschwerdegegners habe infolge unerfindlichen Fernbleibens trotz ordnungsgemässer Vorladung nicht stattgefunden, obwohl dessen Aussagen zentral und die unmittelbare Befragung durch das Gericht daher unerlässlich gewesen seien. Schliesslich habe die Vorinstanz die Befragung der früheren Mitbeschuldigten abgelehnt. Diese hätten aber nunmehr als Zeugen einvernommen werden können, was ihren Aussagen erhöhtes Gewicht verliehen hätte.
1.1.
1.1.1. Die mündliche Berufungsverhandlung richtet sich nach den Bestimmungen über die erstinstanzliche Hauptverhandlung (Art. 405 Abs. 1 StPO). Demzufolge ist grundsätzlich auch Art. 341 Abs. 3 StPO anwendbar, wonach die Verfahrensleitung zu Beginn des Beweisverfahrens die beschuldigte Person eingehend zu ihrer Person, zur Anklage und zu den Ergebnissen des Vorverfahrens befragt. Dass die beschuldigte Person bereits im erstinstanzlichen Verfahren zur Sache und Person befragt wurde, macht deren Einvernahme im mündlichen Berufungsverfahren nicht entbehrlich. Zum einen dient Art. 341 Abs. 3 StPO trotz seiner systematischen Eingliederung im Abschnitt "Beweisverfahren" nicht ausschliesslich Beweiszwecken, sondern trägt auch der Subjektstellung der beschuldigten Person Rechnung. Die Vorschrift garantiert als Ausfluss des Anspruchs auf rechtliches Gehör das persönlichkeitsbezogene Mitwirkungsrecht der beschuldigten Person im gegen sie geführten Strafverfahren und verhindert, dass sie zum blossen Objekt staatlichen Handelns wird (vgl. ARIANE KAUFMANN, Die Unmittelbarkeit und die Folgen seiner Einschränkung in der Schweizerischen Strafprozessordnung, 2013, Diss. Zürich, S. 260; WOLFGANG WOHLERS, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 33 zu Art. 3 StPO). Zum anderen kommt der Befragung der beschuldigten Person auch beweisrechtlich in Bezug auf den Schuld- und Strafpunkt in aller Regel entscheidrelevante Bedeutung zu. Die Intensität der Befragung hängt dabei insbesondere von der Schwere des Anklagevorwurfs und der Beweislage ab. Da die beschuldigte Person bereits im erstinstanzlichen Gerichtsverfahren zur Sache befragt wurde, ist in der Berufungsverhandlung nicht mehr die gleiche Einlässlichkeit erforderlich. Art. 389 StPO führt nicht zu einem Verzicht auf Befragung der beschuldigten Person in der Berufungsverhandlung. Jene Bestimmung relativiert aber Art und Umfang der erforderlichen Befragung, indem sie einerseits auf die noch strittigen Punkte beschränkt ist und andererseits die bereits (prozesskonform) erhobenen Aussagen verwertbar bleiben (zum Ganzen: BGE 143 IV 288 E. 1.4.2).
1.1.2. Das Rechtsmittelverfahren beruht auf den Beweisen, die im Vorverfahren und im erstinstanzlichen Hauptverfahren erhoben worden sind (vgl. Art. 389 Abs. 1 StPO). Beweisabnahmen des erstinstanzlichen Gerichts werden nur wiederholt, wenn Beweisvorschriften verletzt worden sind (Art. 389 Abs. 2 lit. a StPO); die Beweiserhebungen unvollständig waren (lit. b); die Akten über die Beweiserhebungen unzuverlässig erscheinen (lit. c). Die Rechtsmittelinstanz erhebt von Amtes wegen oder auf Antrag einer Partei die erforderlichen zusätzlichen Beweise (Art. 389 Abs. 3 StPO). Die Wiederholung von Beweisabnahmen kann erforderlich sein, wenn die unmittelbare Kenntnis des Beweismittels für die Urteilsfällung notwendig erscheint (vgl. Art. 343 Abs. 3 StPO). Dies ist namentlich der Fall, wenn dessen Kraft in entscheidender Weise vom Eindruck abhängt, der bei seiner Präsentation entsteht, beispielsweise wenn es in besonderem Masse auf den Eindruck einer Zeugenaussage ankommt, so wenn die Aussage das einzige direkte Beweismittel darstellt ("Aussage gegen Aussage"-Situation; vgl. BGE 140 IV 196 E. 4.4.2; Urteil 6B_939/2014 vom 11. Juni 2015 E. 1.1.2 mit Hinweisen).
1.1.3. Der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV, Art. 3 Abs. 2 lit. c und 107 StPO) umfasst die Pflicht der Behörde, die Argumente und Verfahrensanträge der Parteien entgegenzunehmen und zu prüfen sowie die ihr rechtzeitig und formrichtig angebotenen Beweismittel abzunehmen. Dies hindert die Behörde nicht, einen Beweisantrag abzulehnen, wenn sie in willkürfreier Würdigung der abgenommenen Beweise zur Überzeugung gelangt, der rechtlich erhebliche Sachverhalt sei genügend abgeklärt, und sie überdies in willkürfreier antizipierter Würdigung der zusätzlich beantragten Beweise annehmen kann, ihre Überzeugung werde dadurch nicht mehr geändert. Dabei muss sie das vorläufige Beweisergebnis hypothetisch um die Fakten des Beweisantrages ergänzen und unter diesem Gesichtspunkt würdigen (BGE 141 I 60 E. 3.3; 136 I 229 E. 5.3). Die Rüge unzulässiger antizipierter Beweiswürdigung prüft das Bundesgericht nur unter Willkürgesichtspunkten (Art. 97 Abs. 1 BGG). Sie muss explizit vorgebracht und substanziiert begründet werden (Art. 106 Abs. 2 BGG), andernfalls das Bundesgericht nicht darauf eintritt (BGE 141 IV 369 E. 6.3 mit Hinweisen).
1.2.
1.2.1. Dem Protokoll der Berufungsverhandlung vom 6. März 2017 ist nicht zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer persönlich zur Sache oder zur Person befragt worden wäre. Ebenso wenig ergeben sich in den Akten, soweit ersichtlich, Hinweise darauf, warum der Beschwerdegegner trotz ordnungsgemässer Vorladung nicht zur Berufungsverhandlung erschienen ist, etwa ob er dispensiert und ob der Beschwerdeführer darüber informiert wurde. Er rügt daher zu Recht eine Verletzung von Art. 341 Abs. 3 i.V.m. Art. 405 Abs. 1 StPO. Da angesichts der Schwere der erhobenen Vorwürfe sowie des Umstands, dass der Beschwerdeführer diese bestreitet, die Anwesenheit des bei der Auseinandersetzung verletzten Beschwerdegegners als wichtigen Belastungszeugen für die Urteilsfällung ebenfalls erforderlich erscheint - was im Übrigen auch die Vorinstanz so zu sehen schien -, verletzt sie auch Art. 343 Abs. 3 StPO, wenn sie die Berufungsverhandlung in Abwesenheit des Beschwerdegegners ohne weitere Begründung durchführt. Daran ändert nichts, dass der Beschwerdeführer weder seine Befragung noch die des Beschwerdegegners beantragt und in der Berufungsverhandlung nicht gegen dessen Nichterscheinen opponiert hat. Es obliegt der Verfahrensleitung, den gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrensgang sicherzustellen. Ergänzungsfragen der Parteien können zwar eine lückenhafte gerichtliche Befragung komplettieren, eine fehlende jedoch grundsätzlich nicht ersetzen. In diesem Zusammenhang ist auch auf die richterliche Fürsorgepflicht und den Untersuchungsgrundsatz (Art. 6 StPO) hinzuweisen. Ebenso wenig ist entscheidend, dass sich der Beschwerdeführer im Rahmen seines letzten Wortes zur Sache äussern konnte. Dies vermag die Befragung nicht zu ersetzen (vgl. BGE 143 IV 288 E. 1.4.3 f.)
1.2.2. Die Beschwerde ist begründet. Die Vorinstanz wird den Beschwerdeführer zur Person und zur Sache zu befragen haben. Gleiches gilt für den Beschwerdegegner, wobei sie einen allfälligen Verzicht darauf überzeugend zu begründen mithin aufzuzeigen hätte, weshalb dessen Einvernahme entgegen ihrer ursprünglichen Einschätzung nunmehr entbehrlich sein soll.
Inwieweit weitere Beweisabnahmen im Sinne von Art. 343 Abs. 3 und Art. 389 StPO erforderlich sind, wird die Vorinstanz aufgrund der bisherigen Beweiserhebungen und unter Berücksichtigung des Grundsatzes der materiellen Wahrheit von Amtes wegen zu entscheiden haben. Mit Blick auf die diesbezüglichen Vorbringen des Beschwerdeführers ist immerhin zu bemerken, dass die Vorinstanz den Verzicht auf die Befragung der beiden früheren Mitbeschuldigten nachvollziehbar begründet. Der Beschwerdeführer bestreitet nicht, dass er diese mehrmals, namentlich im Rahmen von Konfrontationseinvernahmen, befragen und die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen überprüfen oder deren Beweiswert in Frage stellen konnte. Er hat sein Fragerecht somit genutzt oder ausdrücklich darauf verzichtet. Wenn die Vorinstanz erwägt, von einer weiteren Befragung der Mitbeschuldigten als Zeugen seien keine neuen Erkenntnisse zu erwarten, zumal Aussagen im Laufe der Zeit verblassen oder gar durch passende Erinnerungen ergänzt würden, erscheint dies plausibel. Gleiches gilt für ihr Vorbringen, wonach der Umstand alleine, dass die Mitbeschuldigten nach ihrer Verurteilung als Zeugen einzuvernehmen wären, den Beweiswert ihrer Aussagen nicht erhöht und es dem Gericht obliegt, diese anhand der Akten zu würdigen. Der Beschwerdeführer legt nicht dar und es ist nicht ersichtlich, weshalb die unmittelbare Kenntnis der Zeugenaussagen durch die Vorinstanz für ihre Urteilsfällung unerlässlich sein soll. Es schadet daher nicht, dass sie von einer neuerlichen Einvernahme der Mitbeschuldigten absieht. Entgegen seiner Behauptung hatte der Beschwerdeführer im Übrigen sehr wohl Gelegenheit, den entsprechenden Beweisantrag zu begründen, was er im Rahmen seines Plädoyers auch getan hat.
Auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers braucht nicht eingegangen zu werden.
2.
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Thurgau hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Diese ist praxisgemäss seinem Rechtsvertreter auszurichten. Damit wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 6. März 2017 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
3.
Der Kanton Thurgau hat dem Rechtsvertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Fatih Aslantas, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
Lausanne, 20. März 2018
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Denys
Der Gerichtsschreiber: Matt