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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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9C_430/2017
Urteil vom 9. April 2018
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichterinnen Glanzmann, Moser-Szeless.
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Markus Zimmermann,
Beschwerdeführer,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau, Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin,
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 27. April 2017 (VBE.2017.66).
Sachverhalt:
A.
B.________ wurde von der IV-Stelle des Kantons Aargau mit Wirkung ab 1. März 1993 eine halbe Invalidenrente zugesprochen (Verfügung vom 20. Februar 1995). Nachdem die Verwaltung festgestellt hatte, dass der Versicherte seit 2. November 1999 wieder in einem Vollpensum im angestammten Beruf als Metzger arbeitete, hob sie die Rente aufgrund eines neu ermittelten Invaliditätsgrades von rund 10 % rückwirkend per 1. Dezember 1999 auf (Verfügung vom 29. Juli 2003).
Im November 2010 meldete sich B.________ unter Hinweis darauf, dass er seit einem am 12. Januar 2010 erlittenen Unfall an Schulter- und Wirbelsäulenbeschwerden leide, erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle prüfte die Verhältnisse und lehnte einen Rentenanspruch mit Verfügung vom 15. Januar 2013 ab (ermittelter Invaliditätsgrad: 13 %).
Auf die von B.________ im Januar 2013 eingereichte Neuanmeldung trat die IV-Stelle am 22. Mai 2013 nicht ein.
Im Juli 2015 machte B.________ eine Verschlimmerung der Schulter- und Rückenbeschwerden geltend. Die IV-Stelle klärte die medizinischen, erwerblichen und persönlichen Verhältnisse ab und stellte mit Vorbescheid vom 19. Januar 2016 die Ablehnung eines Rentenanspruches in Aussicht. Auf den Einwand des Versicherten hin gab sie bei der medexperts ag, St. Gallen, ein polydisziplinäres Gutachten in Auftrag (erstattet am 30. August und ergänzt am 12. Oktober 2016). Nach Einholung einer Stellungnahme des Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 24. Oktober 2016 ermittelte die IV-Stelle einen Invaliditätsgrad von 23 % und verneinte einen Rentenanspruch (Verfügung vom 5. Dezember 2016).
B.
Beschwerdeweise liess B.________ beantragen, die Verfügung sei aufzuheben. Es seien ihm die gesetzlich geschuldeten Leistungen, insbesondere mindestens eine halbe Invalidenrente, zuzusprechen. Eventualiter seien weitere Sachverhaltsabklärungen vorzunehmen. Mit Entscheid vom 27. April 2017 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab.
C.
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und das Rechtsbegehren stellen, der kantonale Entscheid sei aufzuheben, und es seien ihm die gesetzlichen Leistungen, insbesondere eine Invalidenrente, zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache an die IV-Stelle bzw. die Vorinstanz zur ordnungsgemässen Abklärung des Sachverhalts zurückzuweisen.
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Stellungnahme.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
2.1. Im angefochtenen Entscheid wird dem medexperts-Gutachten vom 30. August 2016 (samt ergänzender Stellungnahme vom 12. Oktober 2016) Beweiskraft beigemessen. Gestützt darauf und auf die Stellungnahme des RAD vom 24. Oktober 2016 stellte die Vorinstanz fest, dem Versicherten sei eine leidensangepasste Tätigkeit zu 80 % zumutbar. Sie bestätigte den von der IV-Stelle anhand eines (im Übrigen unangefochten gebliebenen) Einkommensvergleichs ermittelten, rentenausschliessenden Invaliditätsgrad von 23 %.
2.2. Der Beschwerdeführer macht im Wesentlichen eine Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes und seines Anspruchs auf rechtliches Gehör geltend. Er stellt sich auf den Standpunkt, das medexpertsGutachten vom 30. August 2016 sei widersprüchlich und leide an so gravierenden Mängeln, dass diese nicht durch die Beantwortung der nachträglich gestellten Ergänzungsfragen wiedergutgemacht werden könnten. Auf das Gutachten könne nicht abgestellt werden. Sowohl der orthopädische als auch der psychiatrische Gutachter hätten "äusserst schlampig" gearbeitet und Diagnosen gestellt, welche klarerweise nicht vorlägen bzw. nach der ICD-10-Kodierung gar nicht existierten. Die Gutachter hätten ihre Glaubwürdigkeit verspielt und die von ihnen festgehaltenen Resultate erweckten Misstrauen. Nach Auffassung des Beschwerdeführers erfordern der Anspruch auf ein faires Verfahren und der Untersuchungsgrundsatz unter den gegebenen Umständen die Anordnung einer neuen Begutachtung.
3.
3.1. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis).
3.2. Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.), welche das Bundesgericht - vorbehältlich offenkundiger Mängel - seiner Urteilsfindung zugrunde zu legen hat. Die konkrete Beweiswürdigung stellt ebenfalls eine Tatfrage dar. Dagegen sind sowohl die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 4 mit Hinweisen) als auch die Frage nach der rechtlichen Relevanz einer attestierten Arbeitsunfähigkeit (BGE 140 V 193) frei überprüfbare Rechtsfragen.
4.
4.1. Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde verstiess die Vorinstanz nicht gegen Bundesrecht, als sie erkannte, das medexperts-Gutachten vom 30. August 2016 mit der eingeholten Ergänzung vom 12. Oktober 2016 genüge den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen und sei voll beweiskräftig. Die vom Beschwerdeführer erhobenen Einwände vermögen den Beweiswert des Gutachtens nicht zu erschüttern:
4.1.1. Aus der vom RAD-Arzt am orthopädischen Gutachten vom 30. August 2016 geäusserten Kritik vom 14. September 2016 vermag der Beschwerdeführer schon deshalb nichts (mehr) zu seinen Gunsten abzuleiten, weil der orthopädische medexperts-Gutachter Dr. med. D.________ dieser im Rahmen der ergänzenden Stellungnahme vom 12. Oktober 2016 durch eine Präzisierung und Erläuterung der vom RAD beanstandeten Punkte Rechnung trug. Dass dem so ergänzten medexperts-Gutachten volle Beweiskraft zukam, anerkannte schliesslich auch der RAD-Arzt Dr. med. E.________ in seiner Stellungnahme vom 24. Oktober 2016, wonach auf die medexperts-Beurteilung, insbesondere die darin attestierte Arbeitsfähigkeit von 80 %, abgestellt werden könne und keine weiteren Abklärungen erforderlich seien.
4.1.2. Entgegen dem Beschwerdeführer lässt sich aus der Tatsache, dass der orthopädische Gutachter Dr. med. D.________ einen ICD-10-Code verwechselte (indem er M53.1 [Zervikobrachial-Syndrom ohne Bandscheibenschaden] statt M50.3 [sonstige zervikale Bandscheibendegeneration] schrieb), nicht schliessen, dass das Gutachten insgesamt nicht lege artis erstellt worden sei. Dr. med. D.________ konnte das Versehen in seiner Stellungnahme vom 12. Oktober 2016 auf einfache und nachvollziehbare Art berichtigen. Zudem blieb die Korrektur ohne Einfluss auf das Ergebnis, weil die von der Wirbelsäule ausgehenden Beschwerden die Arbeitsfähigkeit des Versicherten nicht beeinträchtigten, unabhängig davon, ob diese als Zervikobrachial-Syndrom ohne Bandscheibenschaden oder als sonstige zervikale Bandscheibendegeneration zu qualifizieren waren. Es versteht sich von selbst, dass dieser einfach zu korrigierende, die Arbeitsfähigkeitsschätzung von vornherein nicht tangierende Verschrieb nicht geeignet ist, die Qualität des gesamten medexperts-Gutachtens in Frage zu stellen.
4.1.3. Inwiefern die der Gutachtensstelle mit Schreiben des RAD vom 30. September 2016 unterbreiteten Fragen, welche der Beseitigung verschiedener Unklarheiten dienten und ergebnisoffen gestellt waren, suggestiver Natur sein sollen, wie der Beschwerdeführer geltend macht, ist nicht ersichtlich. Zu Unrecht wirft der Beschwerdeführer dem orthopädischen Gutachter auch vor, er habe die Ergänzungsfragen des RAD nicht schlüssig, sondern mit "Wischiwaschi" beantwortet: Seine ursprüngliche Einschätzung einer Arbeitsfähigkeit von "mindestens 60 %" in einer körperlich leichten, wechselbelastenden Tätigkeit mit der Möglichkeit des Wechselns zwischen Sitzen, Gehen und Stehen, ohne Heben und Tragen von Lasten über 5 kg, namentlich rechts (adominant), präzisierte Dr. med. D.________ in der ergänzenden Stellungnahme vom 12. Oktober 2016. Er bezifferte die Arbeitsfähigkeit in den vom RAD vorgeschlagenen, "optimalst angepassten" Tätigkeiten (einhändig durchführbare Arbeiten wie etwa sprachgesteuerte Kommunikation in Callcentern, einfache Überwachungs-, Prüf- und Kontrolltätigkeiten, Bedienung und Überwachung von halbautomatischen Maschinen oder Produktionseinheiten) mit 80 %. Diese sich auf ein optimiertes Zumutbarkeitsprofil beziehende Einschätzung scheint ohne weiteres nachvollziehbar: Vorab nannte Dr. med. D.________ bereits im Gutachten vom 30. August 2016 mit "mindestens 60 %" ein gegen oben offenes Mindestmass, wobei er in der Stellungnahme vom 12. Oktober 2016 erklärte, er habe damit dem Umstand Rechnung tragen wollen, dass der Versicherte seit einiger Zeit keiner Erwerbstätigkeit mehr nachgegangen und ein schrittweiser Einstieg in den Arbeitsmarkt sinnvoll sei. Sodann stimmt damit auch überein, dass Dr. med. D.________ von Anfang an (d.h. bereits im Gutachten vom 30. August 2016) angegeben hatte, die von der ganztägigen Zumutbarkeit einer Tätigkeit mit ausschliesslichem Einsatz des linken dominanten Armes ausgehende frühere Einschätzung eines anderen Gutachters (Gutachten des Dr. med. F.________, Orthopädische Chirurgie FMH, vom 14. April 2014) decke sich "grundsätzlich" mit seiner Beurteilung und seine "etwas tiefere Einschätzung" beruhe auf der (zusätzlichen) Berücksichtigung der Schwierigkeiten, eine derartige Stelle zu finden. Es ist nachvollziehbar und überzeugend, dass Dr. med. D.________ bei Ausblendung dieses invalidenversicherungsrechtlich nicht massgebenden Faktors (vgl. SVR 2016 IV Nr. 3 S. 7, 8C_582/2015 E. 5.11; Urteil 9C_485/2014 vom 28. November 2014 E. 3.3.1) und unter Zugrundelegung eines optimierten Zumutbarkeitsprofils schliesslich in der Stellungnahme vom 12. Oktober 2016 zu einer Arbeitsfähigkeit von 80 % gelangte.
4.1.4. Wie bereits im vorinstanzlichen Verfahren übt der Beschwerdeführer auch Kritik am psychiatrischen Teilgutachten. Der Gutachter Dr. med. G.________, Facharzt Psychiatrie und Psychotherapie, hielt als einzige Diagnose mit Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit eine Agoraphobie mit Panikstörung fest, wobei er angab, diese wirke sich auf die Arbeitsfähigkeit nicht in quantitativer Hinsicht aus, sondern nur insofern, als dem Versicherten Tätigkeiten, die er alleine ausüben müsste, unzumutbar seien. Bei dieser Sachlage rechtfertigt es sich nicht, eine Indikatorenprüfung im Sinne von BGE 141 V 281 vorzunehmen, wie sie gemäss BGE 143 V 418 grundsätzlich für sämtliche psychischen Erkrankungen durchzuführen ist (vgl. BGE 143 V 418 E. 7.1 in fine S. 428 f.). Die vom Beschwerdeführer vorgebrachte Tatsache, dass Dr. med. G.________ die Anpassungsstörung ICD-10 F43.2 als chronisch bezeichnete, obwohl sie in dieser Form in der ICD-10 nicht existiert, genügt nicht, um die Arbeit des Gutachters als "schlampig" zu bezeichnen. Im Übrigen beschränkt sich der Beschwerdeführer an dieser Stelle darauf, wie im kantonalen Verfahren auf den von ihm eingeholten Bericht der Klinik H.________ vom 25. Januar 2017 zu verweisen; da er damit eine Auseinandersetzung mit den vorinstanzlichen Erwägungen vermissen lässt, erübrigen sich Weiterungen.
4.2. Zusammenfassend ergibt sich, dass der Beschwerdeführer mit seinen Einwänden gegen das medexperts-Gutachten, vom 30. August 2016 einschliesslich Ergänzung vom 12. Oktober 2016 nicht durchdringt. Kommt dem ergänzten medexperts-Gutachten nach dem Gesagten Beweiswert zu und waren die IV-Stelle und die Vorinstanz in der Lage, den Leistungsanspruch des Versicherten auf dieser Grundlage zu beurteilen, konnten sie ohne Rechtsverletzung von weiteren Sachverhaltsabklärungen absehen. Ein derartiger Verzicht auf die Abnahme beantragter Beweismittel ist zulässig, wenn der rechtserhebliche Sachverhalt - wie hier der Fall - umfassend abgeklärt worden ist und von zusätzlichen Beweismassnahmen keine neuen Erkenntnisse erwartet werden können. Die antizipierte Beweiswürdigung verstösst weder gegen den Untersuchungsgrundsatz noch gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör bzw. auf Beweisabnahme (Art. 29 Abs. 2 BV; Art. 42 ATSG) und stellt auch keine Verletzung des Gebots der Verfahrensfairness nach Art. 9 BV bzw. Art. 6 EMRK dar (vgl. Urteil 8C_590/2015 vom 24. November 2015 E. 6, nicht publ. in: BGE 141 V 585, aber in: SVR 2016 IV Nr. 33 S. 102). Die in der Beschwerde diesbezüglich erhobenen Rügen sind allesamt unbegründet.
5.
Entsprechend dem Prozessausgang werden die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 9. April 2018
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Die Gerichtsschreiberin: Keel Baumann