BGer 9C_680/2017
 
BGer 9C_680/2017 vom 22.06.2018
 
9C_680/2017
 
Urteil vom 22. Juni 2018
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Parrino,
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Verfahrensbeteiligte
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Lind,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Aargau,
Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Rente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
vom 17. August 2017 (VBE.2017.268).
 
Sachverhalt:
A. A.________ meldete sich im Mai 2015 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen (u.a. Gutachten Dr. med. B.________, Facharzt FMH Psychiatrie und Psychotherapie, vom 26. September 2016) verneinte die IV-Stelle des Kantons Aargau nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren mit Verfügung vom 13. Februar 2017 einen Rentenanspruch.
B. Die Beschwerde der A.________ wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 17. August 2017 ab.
C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 17. August 2017 sei aufzuheben, und es sei ihr ab 1. Oktober 2016 eine halbe Invalidenrente zuzusprechen, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
Die IV-Stelle ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
1. Die Beschwerdeführerin beantragt die Zusprechung einer halben Rente der Invalidenversicherung ab 1. Oktober 2016. Aus der Begründung ergibt sich, dass der Anspruch bereits in einem früheren Zeitpunkt entstand. Entsprechend dem Begehren in der vorinstanzlichen Beschwerde ist der allfällige Rentenbeginn auf den 1. Februar 2016 festzusetzen (Art. 107 Abs. 1 BGG).
2. Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG).
3. Anspruch auf eine Rente haben Versicherte, die u.a. während eines Jahres ohne wesentlichen Unterbruch durchschnittlich mindestens   40 Prozent arbeitsunfähig (Art. 6 ATSG) sind (Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG). Nach Auffassung des kantonalen Versicherungsgerichts ist diese Voraussetzung im vorliegenden Fall nicht gegeben, was es im Wesentlichen wie folgt begründet hat:
Das Administrativgutachten vom 26. September 2016 werde den Anforderungen an eine beweiswertige medizinische Stellungnahme (vgl. BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232) gerecht und sei daher grundsätzlich geeignet, den vollen Beweis für den rechtserheblichen Sachverhalt zu erbringen. Dem Experten könne jedoch insoweit nicht gefolgt werden, als er für den Zeitraum von Anfang 2015 bis zur Untersuchung im Rahmen der Begutachtung von einer durchschnittlichen Arbeitsfähigkeit von 50 % ausgehe. Gemäss der plausiblen Einschätzung des Psychiaters vom Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) in seiner konsiliarischen Aktenbeurteilung vom 23. Januar 2017 hätten damals die verschiedenen psychosozialen Belastungen weit im Vordergrund gestanden. Erst ab September 2016 könne von einem selbständigen psychischen Gesundheitsschaden mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit ausgegangen werden. Die Beschwerdeführerin sei somit in der zuletzt ausgeübten Tätigkeit durchwegs zu mindestens 80 % arbeitsfähig gewesen, womit sie bis zum Verfügungserlass am 13. Februar 2017 (BGE 129 V 1 E. 2.1 S. 4) die Anspruchsvoraussetzung nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG nicht erfülle (vgl. BGE 130 V 97 E. 3.2 S. 99 zu der bis 31. Dezember 2007 in Kraft gestandenen Vorgängerbestimmung alt Art. 29 Abs. 1 lit. b IVG).
4. Die Beschwerdeführerin bestreitet nicht das Vorliegen von psychosozialen Belastungsfaktoren (Probleme mit dem alkoholkranken Ex-Ehemann und bei der Kinderbetreuung sowie am vormaligen Arbeitsplatz, finanzielle Schwierigkeiten). Diese hätten indessen zum Zeitpunkt der Begutachtung durch Dr. med. C.________ bereits seit mehreren Jahren bestanden. Wie der psychiatrische Facharzt in seiner Expertise vom 28. September 2015 sage, habe die krankheitswertige Störung (mittelschwere depressive Episode) eine Eigendynamik entwickelt, was die Vorinstanz einfach ausblende. Dr. med. C.________ verfüge ebenso wie Dr. med. B.________ über eine SIM-Zertifizierung als medizinischer Gutachter und sei in der Lage, einen invalidisierenden Gesundheitsschaden auszuweisen und psychosoziale Belastungsfaktoren zu würdigen bzw. davon zu separieren. Das habe er gemacht und sei auf eine Arbeitsunfähigkeit von 50 % gekommen. Wenn der Psychiater des RAD in seiner Aktenbeurteilung vom 23. Januar 2017 die Arbeitsunfähigkeit von 30-50 % um den von ihm geschätzten Anteil der psychosozialen Belastungsfaktoren von einem Drittel kürze, würden diese in unhaltbarer Weise doppelt gewürdigt. Im Übrigen sei die Auffassung der Vorinstanz unzutreffend, leichte bis mittelgradige Störungen aus dem depressiven Formenkreis seien in der Regel therapierbar und würden invalidenversicherungsrechtlich zu keiner Einschränkung der Arbeitsfähigkeit führen.
 
5.
5.1. In BGE 143 V 418 hat das Bundesgericht in Änderung seiner Rechtsprechung entschieden, dass grundsätzlich sämtliche psychischen Erkrankungen, namentlich depressive Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur (BGE 143 V 409), einem strukturierten Beweisverfahren im Sinne von BGE 141 V 281 zu unterziehen sind. Danach beurteilt sich das Vorliegen einer rechtlich relevanten Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit anhand von systematisierten Indikatoren, die - unter Berücksichtigung von leistungshindernden äusseren Belastungsfaktoren einerseits und von Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits - erlauben, das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen einzuschätzen. Bei Erkrankungen aus dem depressiven Formenkreis im Besonderen hat der medizinische Sachverständige nachvollziehbar aufzuzeigen, wenn bei an sich guter Therapierbarkeit der Störung im Einzelfall (gleichwohl) funktionelle Leistungseinschränkungen resultieren, die sich auf die Arbeitsfähigkeit auswirken (Urteil 9C_590/2017 vom 15. Februar 2018 E. 5.1).
5.2. Das Invalidenversicherungsrecht klammert soziale Faktoren so weit aus, als es darum geht, die für die Einschätzung der Arbeitsunfähigkeit kausalen versicherten Faktoren zu umschreiben. Die funktionellen Folgen von Gesundheitsschädigungen werden hingegen auch mit Blick auf psychosoziale und soziokulturelle Belastungsfaktoren abgeschätzt, welche den Wirkungsgrad der Folgen einer Gesundheitsschädigung beeinflussen (BGE 141 V 281 E. 3.4.2.1 S. 293).
Soweit soziale Belastungen direkt negative funktionelle Folgen zeitigen, bleiben sie mithin ausser Acht (BGE 141 V 281 E. 3.4.3.3 S. 303; 127 V 294 E. 5a S. 299). Andererseits können psychosoziale Belastungsfaktoren mittelbar zur Invalidität beitragen, wenn und soweit sie zu einer eigentlichen Beeinträchtigung der psychischen Integrität führen, welche ihrerseits eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bewirkt, wenn sie einen verselbständigten Gesundheitsschaden aufrechterhalten oder den Wirkungsgrad seiner - unabhängig von den invaliditätsfremden Elementen bestehenden - Folgen verschlimmern (Urteile 8C_580/2014 vom 11. März 2015 E. 2.2.2 und I 514/06 vom 25. Mai 2007 E. 2.2.2.2, in: SVR 2008 IV Nr. 15 S. 43).
5.3. Das Administrativgutachten vom 26. September 2016 wurde vor den Urteilen BGE 143 V 409 und BGE 143 V 418 erstellt. Dadurch verliert es indessen nicht per se seinen Beweiswert (Urteil 9C_590/2017 vom 15. Februar 2018 E. 5.2), zumal der psychiatrische Experte sich an den normativen Vorgaben gemäss BGE 141 V 281 orientierte.
 
6.
6.1. Wie die Vorinstanz dargelegt hat, hielt Dr. med. B.________ in seinem Gutachten fest, es bestünden psychosoziale Faktoren, die eine Rolle spielen würden, aber als solche nicht zu berücksichtigen seien (E. 3). Daraus ist zu folgern, dass der psychiatrische Experte bei seiner Einschätzung der Arbeitsfähigkeit solche belastende Umstände, soweit sie sich unmittelbar auf das funktionelle Leistungsvermögen auswirken, ausser Betracht liess. Unter diesen Umständen verletzt es die bundesrechtlichen Beweiswürdigungsregeln, lediglich gestützt auf die nicht auf eigenen Untersuchungen beruhende Aktenbeurteilung des RAD-Psychiaters vom 23. Januar 2017 von der von Dr. med. B.________ auf durchschnittlich 50 % geschätzten Arbeitsfähigkeit für den Zeitraum von Anfang 2015 bis zur Begutachtung im September 2016 abzuweichen (vgl. BGE 139 V 225 E. 5.2 S. 229; 122 V 157 E. 1d S. 162). A b Anfang 2015 bis mindestens zur Untersuchung vom 14. September 2016 ist somit von einer medizinisch ausgewiesenen psychisch bedingten Arbeitsunfähigkeit von 50 % auszugehen, sodass im Februar 2016 (vgl. E. 1) ein Rentenanspruch entstanden sein konnte (Art. 28 Abs. 1 lit. a-c und Art. 29 Abs. 1 IVG).
6.2. Für die Zeit danach, d.h. spätestens seit September 2016 ist aufgrund des Gutachtens des Dr. med. B.________ von einer nach Art. 17 Abs. 1 ATSG relevanten Verbesserung des Gesundheitszustandes auszugehen. Verglichen mit der Beurteilung des Dr. med. C.________ in seiner Expertise vom 28. September 2015 war einerseits die depressive Symptomatik bedeutend weniger ausgeprägt, anderseits hatte die psychosoziale Belastung deutlich abgenommen bei als IV-rechtlich unerheblicher motivationaler Krankheits- und Behinderungsüberzeugung, was insgesamt zu einer Erhöhung der Arbeitsfähigkeit auf 80 % führte. Entgegen den Vorbringen in der Beschwerde kommt dem Administrativgutachten Beweiswert zu (Art. 44 ATSG; BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232; vgl. E. 5.2) und es kann grundsätzlich darauf abgestellt werden. Wie der behandelnde Psychiater und Psychotherapeut in seinem Bericht vom 14. Dezember 2016 indessen festhielt, bestand bei der Beschwerdeführerin als Folge der jahrelangen Überforderungssituation eine psychophysische Erschöpfung, welche auch nach dem Wegfall der Belastungsfaktoren eine längere Zeit der Erholung von 2-4 Monaten nötig machte. Somit ist eine Verbesserung des Gesundheitszustandes im Dezember 2016 anzunehmen.
6.3. Die Invalidität ist nach der allgemeinen Einkommensvergleichsmethode zu bemessen (Art. 16 ATSG i.V.m. Art. 28a Abs. 1 IVG). Dabei sind aufgrund der aktenkundigen Erwerbsbiographie beide Vergleichseinkommen ohne und mit Behinderung auf derselben tabellarischen Grundlage zu bestimmen. Der Invaliditätsgrad entspricht somit dem Grad der Arbeitsunfähigkeit unter Berücksichtigung eines allfälligen Abzugs vom Tabellenlohn gemäss BGE 126 V 75 (Urteil 9C_87/2016 vom 23. November 2016 E. 5.1 mit Hinweis).
Für die Zeit von Februar bis Dezember 2016 (E. 6.2) ergibt sich bei einer Arbeitsunfähigkeit von 50 % und einem Abzug vom Tabellenlohn von maximal 15 % ein Invaliditätsgrad von 58 % ([1 - 0.5 x 0.85]  x 100%; zum Runden BGE 130 V 121), was Anspruch auf eine halbe Rente gibt (Art. 28 Abs. 2 IVG), und zwar bis Ende März 2017   (Art. 88a Abs. 1 IVV). Ab 1. April 2017 führt dieselbe Rechnung bei einer Arbeitsfähigkeit von 80 % zu einem nicht anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad von 32 % ([1 - 0.8 x 0.85] x 100%).
7. Die Parteien haben die Gerichtskosten im Verhältnis ihres Unterliegens zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die Beschwerdeführerin hat nach Massgabe ihres Obsiegens Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 68 Abs. 2 BGG). Insoweit ist ihr Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos. Dem Begehren kann im Übrigen entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Sie hat jedoch der Bundesgerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn sie später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau, 2. Kammer, vom 17. August 2017 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Aargau vom   13. Februar 2017 werden insofern abgeändert, als festgestellt wird, dass die Beschwerdeführerin vom 1. Februar 2016 bis 31. März 2017 Anspruch auf eine halbe Rente der Invalidenversicherung hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen und es wird der Beschwerdeführerin Rechtsanwältin Barbara Lind als Rechtsbeistand beigegeben.
3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden zu drei Vierteln (Fr. 600.-) der Beschwerdeführerin und zu einem Viertel der Beschwerdegegnerin (Fr. 200.-) auferlegt; der Anteil der Versicherten wird einstweilen auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4. Die Beschwerdegegnerin hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 800.- zu entschädigen.
5. Der Rechtsvertreterin der Beschwerdeführerin wird für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'000.- ausgerichtet.
6. Die Sache wird zur Neuverlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Aargau zurückgewiesen.
7. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, 2. Kammer, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 22. Juni 2018
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Fessler