BGer 8C_623/2018 |
BGer 8C_623/2018 vom 03.12.2018 |
8C_623/2018 |
Urteil vom 3. Dezember 2018 |
I. sozialrechtliche Abteilung |
Besetzung
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Bundesrichter Maillard, Präsident,
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Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
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Gerichtsschreiber Wüest.
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Verfahrensbeteiligte |
Unia Arbeitslosenkasse,
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Weltpoststrasse 20, 3015 Bern,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Arbeitslosenversicherung (Rückerstattung),
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
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vom 11. Juli 2018 (AVI 2017/5).
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Sachverhalt: |
A. Der 1954 geborene A.________ meldete sich am 20. November 2014 beim Regionalen Arbeitsvermittlungszentrum zur Arbeitsvermittlung an und erhob Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Die Unia Arbeitslosenkasse eröffnete eine Rahmenfrist für den Leistungsbezug vom 20. November 2014 bis 19. November 2016. Ab dem 24. November 2014 konnte A.________ über die B.________ Personal GmbH, für die er bereits früher mehrmals tätig war, bei der C.________ AG einen Einsatz als Servicemonteur leisten (Einsatzvertrag vom 25. November 2014). Die Unia rechnete das während den Monaten November 2014, Dezember 2014, Juli 2015, August 2015, November 2015, Dezember 2015, Januar 2016, März 2016 und August 2016 erzielte Einkommen als Zwischenverdienst ab und richtete A.________ Leistungen in Form von Kompensationszahlungen aus.
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Infolge einer vom Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) durchgeführten Revision im November 2016 überprüfte die Arbeitslosenkasse den Leistungsanspruch des A.________. Mit Verfügung vom 13. Dezember 2016 forderte sie Taggelder in Höhe von Fr. 21'706.15 zurück, da der Versicherte ab dem 24. November 2014 ein verdienstmässig zumutbares Arbeitsverhältnis habe aufnehmen können und die Arbeitslosigkeit folglich ab diesem Datum als beendet gelte. Mit Verfügung vom 14. Dezember 2016 lehnte die Unia zudem den Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 20. November 2016 ab. Die von A.________ gegen die beiden Verfügungen erhobenen Einsprachen wies die Unia mit Einspracheentscheid vom 11. Januar 2017 ab.
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B. Mit Entscheid vom 11. Juli 2018 hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die dagegen erhobene Beschwerde teilweise gut. Es hob den Einspracheentscheid vom 11. Januar 2017 auf und verpflichtete A.________, der Unia Arbeitslosenkasse zu viel ausgerichtete Arbeitslosentaggelder in Höhe von Fr. 15'366.75 zurückzuerstatten (Ziffer 1). Bezüglich des Antrags auf Arbeitslosenentschädigung ab 20. November 2016 wies es die Sache zur materiellen Behandlung der Einsprache vom 16. Dezember 2016 an die Arbeitslosenkasse zurück (Ziffer 2). Es erhob keine Gerichtskosten (Ziffer 3) und sprach dem Versicherten eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.- zu (Ziffer 4).
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C. Die Unia Arbeitslosenkasse erhebt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, Ziffer 1 und 4 des Dispositivs des angefochtenen Entscheids seien aufzuheben und der Einspracheentscheid vom 11. Januar 2017 zu bestätigen.
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Während A.________ unter Verzicht auf eine Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde schliesst, beantragt das Bundesamt für Gesundheit deren Gutheissung. Die Vorinstanz verzichtet ihrerseits auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen: |
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen. Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht in Beschwerdeverfahren (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
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Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG), und kann eine - für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2.
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2.1. Streitig ist einzig die Höhe des verfügten Rückerstattungsbetrages, welchen das kantonale Gericht wegen teilweiser Verwirkung der Forderung von Fr. 21'706.15 auf Fr. 15'366.75 reduziert hat.
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2.2. Unbestritten ist hingegen, dass der Beschwerdegegner gestützt auf den Einsatzvertrag vom 25. November 2014 Anspruch darauf gehabt hätte, während 45 Stunden pro Woche beschäftigt und entlöhnt zu werden. Damit hätte er ein Einkommen über der versicherten Arbeitslosenentschädigung erzielen können, weshalb er keinen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten und keinen Anspruch auf Taggelder gehabt hätte. In diesem Sinne hat die Vorinstanz die Voraussetzungen einer Rückerstattung gemäss Art. 95 Abs. 1 AVIG in Verbindung mit Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG bejaht, einschliesslich der Frage des Rückkommenstitels (E. 2.5). Darauf ist nicht mehr einzugehen.
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3. Das kantonale Gericht stellte fest, der Einsatzvertrag der B.________ Personal GmbH vom 25. November 2014 sei bei der Arbeitslosenkasse am 27. November 2014 eingegangen, weshalb sie ab diesem Zeitpunkt erstmals Kenntnis vom schriftlichen Vertragsinhalt gehabt und mit der Ausrichtung der Taggelder begonnen habe. In jedem dem Zwischenverdienst folgenden Monat habe die B.________ Personal GmbH jeweils die Bescheinigung über den Zwischenverdienst eingereicht und bestätigt, dass eine wöchentliche Arbeitszeit von 45 Stunden vereinbart worden sei. Die entsprechende Bescheinigung des Monats Oktober 2015 sei am 13. November 2015 und diejenige vom November 2015 am 15. Dezember 2015 bei der Arbeitslosenkasse eingegangen. Spätestens mit diesen Eingängen habe die Kasse erneut Kenntnis von der schriftlich festgelegten Vertragsklausel gehabt und hätte somit die Leistungsablehnung für die besagten Taggeldansprüche prüfen müssen. Damit seien die Rückforderungen der Taggeldauszahlungen für die Monate Dezember 2014 bis und mit August 2015 von insgesamt Fr. 6'339.40 im Zeitpunkt der Verfügung vom 13. Dezember 2016 unter Berücksichtigung der Jahresfrist verwirkt gewesen.
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4. Der vorinstanzliche Entscheid hält vor Bundesrecht nicht stand, wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht.
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4.1. Gemäss Art. 25 Abs. 2 erster Satz ATSG verwirkt der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf eines Jahres, "nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat". Unter dieser Wendung ist der Zeitpunkt zu verstehen, in welchem die Verwaltung bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (BGE 139 V 6 E. 4.1 S. 8 mit Hinweisen). Dies ist der Fall, wenn alle im konkreten Einzelfall erheblichen Umstände zugänglich sind, aus deren Kenntnis sich der Rückforderungsanspruch dem Grundsatz nach und in seinem Ausmass gegenüber einem bestimmten Rückerstattungspflichtigen ergibt (Urteil 9C_454/2012 vom 18. März 2013 E. 4; nicht publ. in BGE 139 V 106). Geht die unrechtmässige Leistungsausrichtung auf einen Fehler des Versicherungsträgers zurück, beginnt die einjährige Verwirkungsfrist in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem er bei Beachtung der ihm zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (Urteil 8C_824/2007 vom 15. Mai 2008 E. 3.2.2 mit Hinweis auf BGE 124 V 380 E. 1). Fristauslösend ist nicht das erstmalige unrichtige Handeln des Durchführungsorgans und die daran anknüpfende unrechtmässige Leistungsausrichtung. Vielmehr ist auf jenen Tag abzustellen, an dem die Verwaltung später - beispielsweise anlässlich einer Rechnungskontrolle oder aufgrund eines zusätzlichen Indizes - bei Beachtung der gebotenen und ihr zumutbaren Aufmerksamkeit sich hinsichtlich ihres Fehlers hätte Rechenschaft geben und erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückforderung gegeben sind (BGE 139 V 570 E. 3.1 S. 572; 124 V 380 E. 1 S. 382 f., je mit Hinweisen; Urteil 8C_42/2016 vom 10. Juni 2016 E. 3.2).
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4.2. Die Vorinstanz scheint von einer fristauslösenden Kenntnis des Rückforderungsanspruchs spätestens am 13. November oder 15. Dezember 2015 auszugehen. Die Rückforderungsverfügung datiert vom 13. Dezember 2016. Bei zumutbarer Kenntnis des rückforderungsbegründenden Sachverhalts erst am 15. Dezember 2015 wäre die einjährige Verwirkungsfrist noch eingehalten. Insoweit ist nicht nachvollziehbar, weshalb die Vorinstanz den genauen, entscheidwesentlichen Zeitpunkt des Fristbeginns nicht festgelegt hat. Ausserdem ist nicht ersichtlich, wieso gerade mit den Bescheinigungen über den Zwischenverdienst der Monate Oktober 2015 oder November 2015 die einjährige Verwirkungsfrist eingesetzt haben soll, wenn doch entsprechende Nachweise bereits vorher monatlich bei der Arbeitslosenkasse eingegangen waren (vgl. E. 3 hiervor). Eine schlüssige Begründung dafür findet sich im angefochtenen Entscheid nicht. Weiterungen hierzu erübrigen sich aber, wie sich aus dem Folgenden ergibt.
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4.3. Im hier zu beurteilenden Fall ging die unrechtmässige Leistungsausrichtung auf einen Fehler der Arbeitslosenkasse zurück. Diese übersah, dass gemäss Einsatzvertrag vom 25. November 2014 (bei der Beschwerdeführerin am 27. November 2014 eingegangen) und gemäss Bescheinigungen über den Zwischenverdienst für die Monate November und Dezember 2014 (eingegangen bei der Kasse am 18. Dezember 2014 resp. 16. Januar 2015) zwischen dem Beschwerdegegner und seiner Arbeitgeberin eine Arbeitszeit von 45 resp. 42,5 Stunden pro Woche vereinbart war und richtete in der Folge - erstmals mit Abrechnung vom 20. Januar 2015 für den Monat Dezember 2014 - fälschlicherweise Kompensationszahlungen aus (vgl. E. 2.2 hiervor). Die einjährige relative Verwirkungsfrist beginnt nicht bereits im Zeitpunkt dieses ursprünglichen unrichtigen Handelns zu laufen - wovon auch die Vorinstanz auszugehen scheint -, sondern erst dann, wenn der Versicherungsträger seinen Fehler hätte entdecken können bzw. entdeckt hat (vgl. E. 4.1 hiervor). Vorliegend reichte die Arbeitgeberin der Arbeitslosenkasse zwar monatlich eine Bescheinigung über den Zwischenverdienst ein. Dass die Beschwerdeführerin der darin aufgeführten Arbeitszeit von 42,5 resp. 45 Stunden - wie bereits anlässlich der ursprünglichen Leistungsausrichtung - nicht weiter Beachtung schenkte, kann aber nicht als "zweiter Anlass" im Sinne der Rechtsprechung betrachtet werden, der die einjährige Verwirkungsfrist auslöst (vgl. BGE 110 V 304 E. 2b S. 307; Urteil 8C_617/2017 vom 12. Januar 2018 E. 4.2 mit Hinweis). Vielmehr handelt es sich dabei um den jeweils gleichen (ersten) Fehler, wie die Beschwerdeführerin zu Recht vorbringt. Freilich musste die Kasse die Änderungen in den Bescheinigungen über den Zwischenverdienst betreffend die Anzahl effektiv geleisteter Stunden sowie die Höhe des erzielten Lohnes berücksichtigen. Zur näheren Prüfung der (unveränderten) Angabe der vereinbarten Arbeitsstunden bestand hingegen kein Anlass. Erst mit Kenntnisnahme des Berichts des SECO über die im November 2016 durchgeführte Revision lag ein zusätzliches Indiz vor, aufgrund dessen die Arbeitslosenkasse die Rechtmässigkeit der bisherigen Leistungsabrechnungen überprüfen und erkennen musste, dass sie zu Unrecht Leistungen erbracht hatte (vgl. Urteil 8C_689/2016 vom 5. Juli 2017 E. 5.2; vgl. auch E. 4.1 hiervor). Mit der Rückforderungsverfügung vom 13. Dezember 2016 ist die relative einjährige Verwirkungsfrist damit gewahrt. Die Beschwerde ist begründet.
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5. Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdegegner auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 11. Juli 2018 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Unia Arbeitslosenkasse vom 11. Januar 2017 - soweit er die Verfügung vom 13. Dezember 2016 betrifft - bestätigt.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
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3. Die Sache wird zur neuen Regelung der Entschädigungsfolgen des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, dem Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) und dem Amt für Wirtschaft und Arbeit schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 3. Dezember 2018
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Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Maillard
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Der Gerichtsschreiber: Wüest
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