Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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9C_67/2019
Urteil vom 13. Juni 2019
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiber Fessler.
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Bettina Surber,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Rente; Revision),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
vom 30. Oktober 2018 (IV 2016/238, IV 2017/313).
Sachverhalt:
A.
A.a. Mit Verfügung vom 10. Juni 1999 sprach die IV-Stelle des Kantons St. Gallen A.________ unter anderem gestützt auf das Gutachten des ZMB vom 30. März 1999 rückwirkend ab 1. Mai 1998 eine ganze Rente der Invalidenversicherung zu. Der Anspruch wurde zweimal bestätigt (Mitteilungen vom 19. Juli 2001 und 13. September 2006).
A.b. Im November 2011 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revisions-verfahren ein. Nach Abklärungen hob sie mit Verfügung vom 15. Januar 2013 die ganze Rente auf. Mit Entscheid vom 17. April 2014 hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen diesen Verwaltungsakt auf und wies die Sache zur weiteren Abklärung an die IV-Stelle zurück. Es verpflichtete zudem die Verwaltung zur Weiterausrichtung der Rente während des Abklärungsverfahrens.
A.c. Nach einer medizinischen Begutachtung (Expertise MEDAS Zentralschweiz vom 29. April 2015) sowie einer Observierung des Versicherten verfügte die IV-Stelle am 2. Juni 2016 die vorsorgliche Einstellung der Rente mit sofortiger Wirkung.
Am 27. Januar, 3. Februar und 10. März 2017 wurde A.________ psychiatrisch abgeklärt (Gutachten Dr. med. B.________, Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 17. März 2017). Nach durchgeführtem Vorbescheidverfahren hob die IV-Stelle mit Verfügung vom 30. Juni 2017 die ganze Rente rückwirkend auf den 31. Mai 2016 auf.
B.
A.________ erhob gegen beide Verfügungen Beschwerde (Verfahren IV 2016/238 und IV 2017/313). Mit Entscheid vom 30. Oktober 2018 schrieb das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen die Beschwerde gegen die Verfügung vom 2. Juni 2016 zufolge Gegenstandslosigkeit vom Protokoll ab (Dispositiv-Ziffer 1); die Beschwerde gegen die Verfügung vom 30. Juni 2017 hiess es insofern teilweise gut, als die Aufhebung der Rente erst auf den 1. September 2017 hin zu erfolgen habe (Dispositiv-Ziffer 2).
C.
Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Rechtsbegehren, Dispositiv-Ziffer 2 des Entscheids des kantonalen Versicherungsgerichts vom 30. Oktober 2018 sei unter Bestätigung ihrer Verfügung vom 30. Juni 2017 aufzuheben.
A.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde, wobei er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zu Grunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig [wie die Beweiswürdigung willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444] ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; zur Rüge- und Begründungspflicht der Parteien Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG sowie BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176 und BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und E. 1.4.2 S. 254).
2.
Die Vorinstanz hat die von der Beschwerde führenden IV-Stelle gestützt auf lit. a Abs. 1 der Schlussbestimmungen der Änderung vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket; nachfolgend: SchlBest. IVG) verfügte Aufhebung der ganzen Rente des Beschwerdegegners im Grundsatz bestätigt. Das Bestehen von " (zur Substitution der Anpassungsbegründung der Verfügung geeignete) Wiedererwägungsgründe (oder Gründe für eine prozessuale Revision) " hat sie verneint. Den Zeitpunkt der Leistungseinstellung hat sie in sinngemässer Anwendung von Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV auf den 31. August 2017 festgesetzt. Im Weitern hat sie sowohl eine Meldepflichtverletzung als auch eine unrechtmässige Erwirkung im Sinne von Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV verneint, ohne sich ausdrücklich zur Anwendbarkeit dieser Bestimmung bei einer Rentenherabsetzung oder -aufhebung nach lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG zu äussern. Der zweite Tatbestand spiele lediglich bei ursprünglichen Fehlern, d.h. wenn Wiedererwägungsgründe vorlägen, eine Rolle.
3.
Die Beschwerdeführerin bringt vor, es bestünden ernsthafte Zweifel an der ursprünglichen Rechtmässigkeit des Rentenbezugs bzw. es sei davon auszugehen, "dass die IV-Rente seit Beginn unrechtmässig gewesen ist". Die Thematik sei wichtig mit Blick auf den Tatbestand der unrechtmässigen Erwirkung im Sinne von Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV und hätte daher "vorfrageweise" behandelt werden müssen. Das habe die Vorinstanz nicht getan, womit sie den Sachverhalt unvollständig festgestellt und ihre Begründungspflicht verletzt habe. Entgegen der Auffassung des kantonalen Versicherungsgerichts sanktioniere Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV nicht nur Tatbestände mit ursprünglicher unrechtmässiger Erwirkung, wie schon der Wortlaut zeige. Der Verordnungsgeber habe vor allem "Sachverhalte mit einer wesentlichen Änderung des Sachverhalts" vor Augen gehabt. Das treffe hier in dem Sinne zu, dass der Beschwerdegegner im "Revisionsverfahren seine Auskunfts- und Mitwirkungspflichten substantiell verletzt habe. Dadurch habe er die IV-Stelle zu einem zeitraubenden Verfahren mit zweimaliger Begutachtung sowie Observation gezwungen und so die Weiterausrichtung der IV-Rente mit unrechtmässigen Mitteln erwirkt." Die ganze Rente sei daher rückwirkend, spätestens auf Ende Mai 2016 aufzuheben, wie sie verfügt habe.
4.
4.1. Ändert sich der Invaliditätsgrad erheblich, so wird die Rente der Invalidenversicherung von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 1 ATSG [i.V.m. Art. 1 Abs. 1 IVG und Art. 2 ATSG]).
Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, werden innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung überprüft. Sind die Voraussetzungen nach Artikel 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn die Voraussetzungen von Artikel 17 Absatz 1 ATSG nicht erfüllt sind (lit. a Abs. 1 SchlBest. IVG).
Die IV-Stelle kann durch Wiedererwägung auf formell rechtskräftige Verfügungen zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist (Art. 53 Abs. 2 ATSG [i.V.m. Art. 1 Abs. 1 IVG und Art. 2 ATSG]).
Unabhängig davon, ob die Voraussetzungen nach Art. 17 Abs. 1 ATSG oder lit. a Abs. 1 SchlussBest. IVG gegeben sind, kann eine Rente gestützt auf Art. 53 Abs. 2 ATSG überprüft und gegebenenfalls herabgesetzt oder aufgehoben werden (Urteile 9C_666/2017 vom 6. September 2018 E. 3.1 mit Hinweisen und 9C_880/2015 vom 21. März 2016 E. 3.1).
4.2. Nach Art. 88bis Abs. 2 IVV erfolgt die Herabsetzung oder Aufhebung der Renten frühestens vom ersten Tag des zweiten der Zustellung der Verfügung folgenden Monats an (lit. a) oder rückwirkend ab Eintritt der für den Anspruch erheblichen Änderung, wenn der Bezüger die Leistung zu Unrecht erwirkt hat oder der ihm nach Artikel 77 zumutbaren Meldepflicht nicht nachgekommen ist, [seit 1. Januar 2015] unabhängig davon, ob die Verletzung der Meldepflicht oder die unrechtmässige Erwirkung ein Grund für die Weiterausrichtung der Leistung war (lit. b).
Art. 88bis Abs. 2 IVV ist im Rahmen von Art. 17 Abs. 1 ATSG und nach der Rechtsprechung auch bei einer Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG anwendbar (Urteil 9C_880/2015 vom 21. März 2016 E. 3.2 mit Hinweisen).
5.
Die Vorinstanz hat das Vorliegen eines Wiedererwägungsgrundes nach Art. 53 Abs. 2 ATSG in Bezug auf die ursprüngliche Rentenzusprechung mit Verfügung vom 10. Juni 1999 verneint, ohne dies näher zu begründen. Dazu bestand insofern kein Anlass, als sie die auf lit. a Abs. 1 SchlussBest. IVG gestützte Rentenaufhebung im Grundsatz bestätigte. Es kommt dazu, dass die Beschwerdeführerin in ihren Rechtsschriften die Frage einer Wiedererwägung der Verfügung vom 10. Juni 1999 nicht thematisiert hatte. Mit ihren Vorbringen im letztinstanzlichen Verfahren vermag sie nicht substanziiert darzutun, dass die ursprüngliche Rentenzusprechung zweifellos zu Unrecht erfolgt war:
Wie die Vorinstanz für das Bundesgericht verbindlich festgestellt hat (E. 1), geht aus dem Gutachten des ZMB vom 30. März 1999 hervor, "dass eine zumindest ähnliche (wenn nicht im Wesentlichen gleiche) Sachlage wie 2015 bestand". Die IV-Stelle weist auf die grotesk und appellativ anmutende Beschwerdepräsentation des Versicherten hin, welche im Rahmen aller drei Begutachtungen im Zeitraum von 1999 bis 2017 beobachtet worden war. Aus dem Umstand allein, dass die Gutachter des ZMB 1999 eine psychisch bedingte Arbeitsunfähigkeit von 100 % attestierten, Dr. med. B.________ dagegen 2017 keine psychiatrische Diagnose stellen konnte, kann indessen nicht auf zweifellose Unrichtigkeit der ursprünglichen Rentenzusprechung geschlossen werden, welche Frage sich nach Massgabe der Sach- und Rechtslage einschliesslich der Rechtspraxis im damaligen Zeitpunkt beurteilt (BGE 138 V 147 E. 2.1 S. 149 mit Hinweisen). In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass lit. a Abs. 1 SchlussBest. IVG als ein Anwendungsfall von Art. 7 Abs. 2 ATSG unter anderem eine Verschärfung der Praxis im Sinne einer konsequenteren Umsetzung der Rechtsprechung gemäss BGE 130 V 352, welche bei der Prüfung des Rentenanspruchs bei Vorliegen bestimmter Beschwerdebilder (vgl. E. 5.1) grundsätzlich galt, zum Ziel hatte (Botschaft vom 24. Februar 2010 zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket], BBl 2010 1841 und 1911; AB 2010 N 2124 ff. [Cassis und Wehrli, Kommissionssprecher]).
6.
6.1. Das Gesetz sagt nicht, auf welchen Zeitpunkt eine Rente, welche gestützt auf lit. a SchlussBest. IVG überprüft wird (zu den Voraussetzungen BGE 139 V 547 E. 10.1.1-3 S. 568 f. i.V.m. BGE 140 V 197 E. 6.2.3 S. 200), allenfalls herabzusetzen oder aufzuheben ist. Art. 88bis Abs. 2 IVV regelt die Frage einzig für die Revision der Rente nach Art. 17 Abs. 1 ATSG und ist nach der Rechtsprechung auch bei einer Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG sinngemäss anwendbar (E. 4.2). Wie die Vorinstanz zutreffend erkannt hat, wurde in der Botschaft festgehalten, dass die Rente für die Zukunft entsprechend angepasst werde (BBl 2010 1843). In der parlamentarischen Beratung war der Zeitpunkt einer allfälligen Rentenherabsetzung oder -aufhebung nicht Thema (vgl. AB 2010 S 662 ff., 2010 N 2117 ff. und 2011 S. 36 ff.).
6.2. Es kann offenbleiben, ob Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV auch im Rahmen von lit. a Abs. 1 SchlussBest. IVG anwendbar ist. Wie dargelegt, kann die ursprüngliche Rentenzusprechung nicht als zweifellos unrichtig bezeichnet werden. Der Anspruch wurde zweimal bestätigt, ohne dass eine Überprüfung mit umfassender Sachverhaltsabklärung und darauf gestützter Ermittlung des Invaliditätsgrades stattfand. Die betreffenden Mitteilungen vom 19. Juli 2001 und 13. September 2006 konnten daher nicht verhaltensrelevant sein in dem Sinne, dass der Beschwerdegegner die Weiterausrichtung der Leistung - selbst unter der Annahme, dass Art. 88bis Abs. 2 lit. b IVV auch auf spätere Sachverhaltsänderungen Anwendung findet - unrechtmässig erwirkte (vgl. Urteil 9C_338/2015 vom 12. November 2015 E. 4.1). Dies gilt umso mehr, als der Rückweisungsentscheid der Vorinstanz vom 17. April 2014 nicht (rechtsgenüglich) mitangefochten wurde (vgl. Art. 93 Abs. 3 BGG). Eine Meldepflichtverletzung steht nicht zur Diskussion. Damit kann die ganze Rente nicht rückwirkend aufgehoben werden, wie die Vorinstanz erkannt hat.
7.
Nach dem Gesagten verletzt der vorinstanzliche Entscheid kein Bundesrecht. Die Beschwerde ist unbegründet.
8.
Ausgangsgemäss hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist demzufolge gegenstandslos.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Die Beschwerdeführerin hat den Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'400.- zu entschädigen.
4.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 13. Juni 2019
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Fessler