Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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8C_214/2019
Urteil vom 27. Juni 2019
I. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Heine, präsidierendes Mitglied,
Bundesrichter Wirthlin, Bundesrichterin Viscione,
Gerichtsschreiberin Polla.
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Fritz Dahinden,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Invalidenrente),
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. März 2019 (IV 2016/298).
Sachverhalt:
A.
Die 1967 geborene A.________ meldete sich im Juni 2003 zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Mit Verfügung vom 19. Juni 2006 sprach ihr die IV-Stelle des Kantons St. Gallen rückwirkend ab 1. Mai 2003 eine halbe Rente der Invalidenversicherung zu, was sie mit Einspracheentscheid vom 8. Januar 2007 bestätigte. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 17. Juni 2008 ab. Anlässlich einer im November 2008 durchgeführten Rentenrevision bestätigte die IV-Stelle den Anspruch auf eine halbe Invalidenrente (Mitteilung vom 17. März 2009). Im Mai 2014 leitete die IV-Stelle ein weiteres Revisionsverfahren ein. Im Wesentlichen gestützt auf das interdisziplinäre Gutachten des Zentrums für Medizinische Begutachtung ZMB, Basel, vom 8. September 2015 hob sie mit Verfügung vom 12. August 2016 die Rente auf.
B.
Die hiergegen geführte Beschwerde hiess das Versicherungsgericht mit Entscheid vom 12. März 2019 gut und hob die Verfügung vom 12. August 2016 auf.
C.
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt die IV-Stelle, in Aufhebung des Entscheids vom 12. März 2019 sei die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ferner sei der Beschwerde die aufschiebende Wirkung zu gewähren.
A.________ ersucht um Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; vgl. zur Rüge- und Begründungspflicht der Parteien Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG sowie BGE 138 I 274 E. 1.6 S. 280 und BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
2.
Die Beschwerdeführern hob die halbe Rente der Beschwerdegegnerin revisionsweise auf Ende September 2016 auf (Art. 17 Abs. 1 ATSG und Art. 88
bis Abs. 2 lit. a IVV). Das kantonale Gericht verneinte einen Revisionsgrund nach Art. 17 ATSG. Ebenso schloss es eine Rentenaufhebung gestützt auf die am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen Schlussbestimmungen der Änderung des IVG vom 18. März 2011 (6. IV-Revision, erstes Massnahmenpaket [SchlB IVG]) aus. Streitig und zu prüfen ist, ob das Versicherungsgericht Bundesrecht verletzte, indem es die Aufhebung der Rente als rechtswidrig bezeichnete.
3.
3.1. Das kantonale Gericht führte aus, der Gesundheitszustand der Beschwerdegegnerin habe sich im Zeitraum zwischen der Rentenzusprache im Juni 2006, die sich namentlich auf das Gutachten der MEDAS Ostschweiz vom 28. September 2005 stützte, und der im Wesentlichen auf der Expertise des ZMB vom 8. September 2015 basierenden Rentenaufhebung im August 2016 weder in orthopädischer noch in psychiatrischer Hinsicht erheblich verändert. Es fehle damit an einem Revisionsgrund im Sinne von Art. 17 Abs. 1 ATSG.
Eine Bestätigung der Rentenaufhebung unter dem Titel von lit. a Abs. 1 der SchlB IVG, wie von der IV-Stelle beantragt, falle ausser Betracht, so die Vorinstanz weiter. Würde im Verwaltungsgerichtsverfahren eine Rentenrevision gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG durch eine Rentenaufhebung nach den SchlB IVG ersetzt werden, läge eine unzulässige Ausdehnung des Streitgegenstands vor, was über eine Motivsubstitution hinausgehe. Eine Rückweisung der Sache zur Prüfung, ob eine Rentenaufhebung im Verfahren nach den SchlB IVG möglich sei, erübrige sich sodann, weil die Verwaltung die dreijährige Frist zur Eröffnung eines Überprüfungsverfahrens gestützt auf die Schlussbestimmungen verpasst habe.
3.2. Die Beschwerdeführerin wendet dagegen ein, Streitgegenstand bilde die (geänderte) Invalidenrente als solche und nicht die rechtliche Begründung für die Rentenaufhebung. Weiter sei hinsichtlich der dreijährigen Frist rechtsprechungsgemäss nicht zu unterscheiden, ob während der Geltungsdauer der SchlB IVG ein ordentliches Revisionsverfahren oder ein Verfahren nach den Schlussbestimmungen eingeleitet worden sei. Mit Blick auf lit. a Abs. 4 der SchlB IVG sei der tatsächliche Beginn des Verfahrens, hier im Mai 2014, fristwahrend. Die Vorinstanz habe somit in Missachtung der bundesgerichtlichen Rechtsprechung die Überprüfung des Rentenanspruchs unter diesem Titel als unzulässig erachtet. Die Sache sei daher an diese zurückzuweisen, damit sie prüfe, ob die Rentenaufhebung mittels Motivsubstitution gestützt auf lit. a Abs. 1 SchlB IVG geschützt werden könne.
4.
4.1. Gemäss lit. a Abs. 1 SchlB IVG werden Renten, die bei pathogenetisch-ätiologisch unklaren syndromalen Beschwerdebildern ohne nachweisbare organische Grundlage gesprochen wurden, innerhalb von drei Jahren nach Inkrafttreten dieser Änderung (am 1. Januar 2012) überprüft; sind die Voraussetzungen nach Art. 7 ATSG nicht erfüllt, so wird die Rente herabgesetzt oder aufgehoben, auch wenn eine Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG ausser Betracht fällt. Diese Bestimmung ist verfassungs- und EMRK-konform (BGE 140 V 15 E. 5.1 S. 17 mit Hinweis). Sie findet indessen laut lit. a Abs. 4 SchlB IVG keine Anwendung auf Personen, die im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieser Änderung das 55. Altersjahr zurückgelegt haben oder im Zeitpunkt, in dem die Überprüfung eingeleitet wird, seit mehr als 15 Jahren eine Rente der Invalidenversicherung beziehen.
4.2. Mit SVR 2011 IV Nr. 20 S. 53, 9C_303/2010 betonte das Bundesgericht zum wiederholten Mal, dass sich der vorinstanzlich beurteilte Streitgegenstand durch das Dispositiv des angefochtenen Entscheids bestimmt und dass die Gerichte das Recht von Amtes wegen anwenden. An die rechtliche Begründung der Parteien sind sie nicht gebunden. Daraus folgt, dass die Beschwerdeinstanz eine Verfügung, die zwar rechtlich falsch begründet, im Ergebnis aber richtig ist, mit der zutreffenden rechtlichen Begründung bestätigen muss. Die Vorinstanz verkennt daher, dass es im vorliegenden Kontext nicht um eine Änderung des Anfechtungs- und Streitgegenstandes geht, sondern um eine Frage der Rechtsanwendung von Amtes wegen.
4.3. Weiter richtet sich der Zeitpunkt der mit Blick auf lit. a Abs. 4 SchlB IVG fristwahrenden Einleitung der Rentenüberprüfung nach dem mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachgewiesenen tatsächlichen Beginn des Verfahrens. Für die Frage des Zeitpunktes der Einleitung des Revisionsverfahrens kommt es weiter nicht darauf an, ob die IV-Stelle das Verfahren unter dem Titel einer ordentlichen Revision oder einer Revision gemäss den Schlussbestimmungen einleitete. Wie die Beschwerdeführerin unter Hinweis auf die Rechtsprechung zur Motivsubstitution (SVR 2018 IV Nr. 33 S. 106, 8C_634/2017 E. 5.3 mit Hinweisen; Urteile 9C_417/2017 vom 19. April 2018 E. 2.4 und 8C_471/2018 vom 17. Oktober 2018 E. 3.4) zutreffend festhielt, lässt sich eine wiedererwägungs- oder revisionsweise verfügte Rentenherabsetzung oder -aufhebung in Anwendung der SchlB schützen (Urteile 9C_766/2016 vom 3. April 2017 E. 1.1.2; 9C_880/2015 vom 21. Mai 2016 E. 3.1). Die Zulässigkeit einer substituierten Begründung gilt in jedem möglichen Verhältnis unter den in Betracht fallenden Rückkommenstiteln (Revision nach SchlB, materielle Revision nach Art. 17 Abs. 1 ATSG, prozessuale Revision nach Art. 53 Abs. 1 ATSG [vgl. auch Art. 61 lit. i ATSG; Art. 45 ff. VGG und Art. 121 ff. BGG] und Wiedererwägung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG).
4.4. Nach dem Gesagten wurde mit der Eröffnung des Revisionsverfahrens im Mai 2014 die auf drei Jahre beschränkte Frist für die Rentenüberprüfung gewahrt (E. 4.1). Beantragt die Verwaltung im kantonalen Verwaltungsgerichtsverfahren die Überprüfung des Rentenanspruchs unter dem Titel der Schlussbestimmungen, liegt kein unzulässiger Austausch des Streitgegenstands vor, da bei der Motivsubstitution lediglich eine andere Begründung herangezogen wird und der Streitgegenstand gleich bleibt. Die Vorinstanz unterliess es daher in Verletzung von Bundesrecht, die von der Verwaltung im vorinstanzlichen Verfahren beantragte Bestätigung der Rentenaufhebung mittels substituierter Begründung gestützt auf die Schlussbestimmungen materiell zu beurteilen. Die Sache ist daher an sie zurückzuweisen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und bezüglich allfälliger Weiterungen (vgl. lit. a Abs. 2 und 3 SchlB IVG) das Nötige veranlasse. Die Beschwerde ist begründet.
5.
Mit dem Entscheid in der Sache ist das Gesuch der IV-Stelle um aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegenstandslos.
6.
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 4 lit. a BGG). Die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz (mit noch offenem Ausgang) gilt praxisgemäss als Obsiegen der Beschwerde führenden Partei (vgl. SVR 2013 IV Nr. 26 S. 75, 8C_54/2013 E. 6). Daher sind die Gerichtskosten von der unterliegenden Beschwerdegegnerin zu tragen, der keine Parteientschädigung zusteht (Art. 66 Abs. 1 sowie Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG ). Daran ändert nichts, dass die Beschwerdeführerin erst in ihrer vorinstanzlichen Beschwerdeantwort die Motivsubstitution beantragte.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 12. März 2019 wird aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung über die Beschwerde an die Vorinstanz zurückgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 27. Juni 2019
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Das präsidierende Mitglied: Heine
Die Gerichtsschreiberin: Polla