Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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9C_442/2019
Urteil vom 29. Oktober 2019
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiber Fessler.
Verfahrensbeteiligte
Avenir Krankenversicherung AG, Rue des Cèdres 5, 1919 Martigny Groupe Mutuel,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
vertreten durch Rechtsanwalt Flurin Turnes,
Beschwerdegegner.
Gegenstand
Krankenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. Mai 2019 (KV 2018/6).
Sachverhalt:
A.
A.a. A.________, seine Ehefrau und seine Tochter sind seit 1. Juli 2007 bei der Avenir Krankenversicherung AG u.a. obligatorisch krankenpflegeversichert. 2017 betrugen die monatlich zu bezahlenden Prämien insgesamt Fr. 682.25.- (Fr. 274.50 + Fr. 332.90 + Fr. 91.80 - 3 x Fr. 5.65 [Bundesabgaben]). Mit Verfügung vom 31. März 2017 wurde der Familie von A.________ für das laufende Jahr eine Prämienverbilligung von Fr. 4273.20 (2 x Fr. 1878.60 + Fr. 516.-) zugesprochen, welcher Betrag der Avenir Krankenversicherung AG ausbezahlt wurde.
A.b. Am 25. April 2017 stellte die Avenir Krankenversicherung AG A.________ für die Monate Januar bis Juni 2017 einen Prämienbetrag von insgesamt Fr. 1956.90 in Rechnung. Die kantonale Prämienverbilligung hatte sie anteilsmässig im Umfang von Fr. 2136.60 (2 x Fr. 939.30 + Fr. 258.-) berücksichtigt. Mit Schreiben vom 20. Juni 2017 mahnte der Versicherer den Betrag von Fr. 1956.90, ebenso gleichentags die am 24. April 2017 in Rechnung gestellten Kostenbeteiligungen von insgesamt Fr. 44.95. Da die Forderungen nicht beglichen wurden, leitete die Avenir Krankenversicherung AG die Betreibung ein (Zahlungsbefehl Nr. vvv des Betreibungsamtes B.________ vom xxx.yyy.zzz). Den dagegen erhobenen Rechtsvorschlag hob sie mit Verfügung vom 14. November 2017 auf, woran sie mit Einspracheentscheid vom 20. März 2018 festhielt.
B.
A.________ erhob Beschwerde, welche das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 10. Mai 2019 guthiess, indem es den Einspracheentscheid vom 20. März 2018 aufhob und der Betreibung vvv des Betreibungsamtes B.________ keine Rechtsöffnung erteilte.
C.
Die Avenir Krankenversicherung AG führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. Mai 2019 sei aufzuheben, und der Einspracheentscheid vom 20. März 2018 sei zu bestätigen.
A.________ beantragt zur Hauptsache die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten sei, unter Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
Erwägungen:
1.
Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. wegen Verletzung von Bundesrecht erhoben werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig (willkürlich; BGE 142 II 433 E. 4.4 S. 444) ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG; vgl. auch Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG; zur Rüge- und Begründungspflicht der Parteien: Art. 42 Abs. 2 und Art. 106 Abs. 2 BGG ; BGE 138 I 171 E. 1.4 S. 176; 133 II 249 E. 1.4.1 und E. 1.4.2 S. 254).
2.
Streitgegenstand bildet die gemäss Vorinstanz zu Unrecht erfolgte Betreibung vvv des Betreibungsamtes B.________. Es stellt sich in erster Linie die Frage, ob die dem Beschwerdegegner und seiner Ehefrau für sich und die Tochter am 31. März 2017 zugesprochene Prämienverbilligung für das Bezugsjahr 2017 in der Höhe von Fr. 4273.20 voll oder lediglich anteilsmässig von den Prämien für die Monate Januar bis Juni 2017 von Fr. 4093.50 (6 x Fr. 682.25) in Abzug gebracht und mit dem restlichen Betrag die Kostenbeteiligungen von Fr. 44.95 gemäss Rechnung vom 24. April 2017 sowie Mahngebühren von Fr. 20.- getilgt werden können.
3.
Die Vorinstanz hat im Wesentlichen Folgendes erwogen: Nach dem einschlägigen kantonalen Recht werde die zugesprochene Prämienverbilligung den Versicherern für ein Bezugsjahr am 30. Juni oder am darauf folgenden Werktag ausbezahlt, wenn sie vor diesem Stichtag beantragt worden sei, was hier zutreffe. Die Beschwerdeführerin sei somit spätestens am 30. Juni 2017 im Besitz der zugesprochenen Prämienverbilligung für das ganze Bezugsjahr 2017 in der Höhe von Fr. 4273.20 gewesen. Diese Regelung sei nicht zu beanstanden, da die Kantone im Rahmen der bundesrechtlichen Vorgaben die Auszahlung der Prämienverbilligung unterschiedlich ordnen könnten. Dass Versicherer die zugesprochenen Prämienverbilligungen anteilsmässig bei den monatlich erhobenen Prämien in Abzug bringen, scheine - zumindest solange keine Ausstände vorliegen - zweckmässig, vertretbar und auch im Sinne des kantonalen Gesetzgebers zu sein. Sobald jedoch unbezahlte Prämienrechnungen oder Kostenbeteiligungen vorlägen, müssten die dem betreffenden Versicherten in einem Bezugsjahr zugesprochenen und zu dessen Gunsten an den Versicherer überwiesenen Prämienverbilligungen gesamthaft, d.h. ohne anteilsmässige (monatliche) Beschränkung, von den Ausständen in Abzug gebracht werden. Andernfalls würde der mit der Prämienverbilligung verfolgte Zweck der finanziellen Entlastung von Personen in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen in unzulässiger Weise beschnitten bzw. beeinträchtigt. Da der Beschwerdeführerin die zugunsten des Beschwerdegegners und seiner Familie zugesprochenen Prämienverbilligungen in der Höhe von Fr. 4273.20 spätestens am 30. Juni 2017 überwiesen worden seien und dieser (wiederholt) die Verrechnung mit den Ausständen gefordert habe, wäre eine solche zwingend vorzunehmen gewesen, "zumal es weder im Bundesrecht noch im kantonalen Recht eine Bestimmung gibt, die lediglich eine anteilsmässige Verrechnung der für ein Bezugsjahr zugesprochenen Prämienverbilligung mit den monatlich zu leistenden Versicherungsprämien zulassen würde". Mit der Auszahlung der Prämienverbilligungen in der Höhe von insgesamt Fr. 4273.20 am 30. Juni 2017 seien somit alle in diesem Zeitpunkt offenen Forderungen (Fr. 4093.50 [6 x Fr. 682.25; Prämien], Fr. 44.95 [Kostenbeteiligungen], Fr. 20.- [Mahngebühren]) getilgt worden. Die Betreibung vvv des Betreibungsamtes B.________ (Zahlungsbefehl vom xxx.yyy.zzz) sei daher zu Unrecht erfolgt.
4.
Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass es keine Regelungen im kantonalen und im Bundesrecht gibt, welche nur eine anteilsmässige Verrechnung zulassen. Danach habe der Versicherer die vom Kanton über die Datenaustauschplattform Sedex des Bundesamtes für Statistik gemeldeten individuellen Prämienverbilligungen je Monat in die Administration der Kundendaten zu übernehmen. Eine manuelle Anrechnung der Prämienverbilligungen für zukünftige Prämien zur verrechnungsweisen Tilgung von bereits fälligen Prämien sei technisch nicht möglich. Der ganze Ablauf sei vollautomatisch programmiert. Im Weitern dürften Prämienverbilligungen nicht zur Tilgung von Kostenbeteiligungen und Mahnspesen verwendet werden, wie bereits der Wortlaut klar besage.
5.
5.1.
5.1.1. Nach Art. 65 KVG gewähren die Kantone den Versicherten in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen Prämienverbilligungen. Sie bezahlen den Beitrag für die Prämienverbilligung direkt an die Versicherer, bei denen diese Personen versichert sind (Abs. 1 Satz 1 und 2). Der Datenaustausch zwischen den Kantonen und den Versicherern erfolgt nach einem einheitlichen Standard. Der Bundesrat regelt die Einzelheiten nach Anhörung der Kantone und der Versicherer (Abs. 2). Nach der Feststellung der Bezugsberechtigung sorgen die Kantone [...] dafür, dass die Auszahlung der Prämienverbilligung so erfolgt, dass die anspruchsberechtigten Personen ihrer Prämienzahlungspflicht nicht vorschussweise nachkommen müssen (Abs. 3 Satz 2). Der Kanton meldet dem Versicherer die Versicherten, die Anspruch auf eine Prämienverbilligung haben, und die Höhe der Verbilligung so früh, dass der Versicherer die Prämienverbilligung bei der Prämienfakturierung berücksichtigen kann (Abs. 4bis Satz 1).
5.1.2. Die Verordnung vom 27. Juni 1995 über die Krankenversicherung (KVV) enthält Bestimmungen über die Durchführung der Prämienverbilligung. Nach Art. 106b KVV bestimmt der Kanton eine Stelle, welche die Daten mit den Versicherern nach Artikel 65 Absatz 2 des Gesetzes austauscht (Abs. 1). Er meldet dem Versicherer: a. [...]; b. die Höhe der Prämienverbilligung je berechtigte Person und Monat [...]; c. den Zeitraum in Monaten, für den die Prämienverbilligung ausgerichtet wird (Abs. 2). Er legt die Termine für seine Meldungen [...] fest (Abs. 3). Nach Art. 106c KVV gibt der Versicherer die Prämienverbilligung je versicherte Person und Monat auf der Prämienrechnung an (Abs. 4 Satz 1). Art. 106d Abs. 2 KVV ermächtigt das EDI, nach Anhörung der Kantone und der Versicherer technische und organisatorische Vorgaben für den Datenaustausch und das Datenformat festzulegen. Gemäss Art. 4 Abs. 1 der Verordnung des EDI vom 13. November 2012 über den Datenaustausch für die Prämienverbilligung (VDPV-EDI; SR 832.102.2) verwenden die kantonalen Stellen nach Artikel 106b Absatz 1 KVV und Versicherer für den Datenaustausch die Datenaustauschplattform Sedex des Bundesamts für Statistik.
5.2.
5.2.1. Im Rahmen der bundesgesetzlichen Regelung verfügen die Kantone über einen erheblichen Gestaltungsspielraum bei der Durchführung der Prämienverbilligung (BGE 145 I 26 E. 3.2 S. 34; Gebhard Eugster, Krankenversicherung, in: Soziale Sicherheit, SBVR Bd. XIV, 3. Aufl. 2016, S. 819 Rz. 1394 mit Hinweis auf die Rechtsprechung). Dies betrifft namentlich den Zeitpunkt, bis zu welchem (spätestens) die Bezugsberechtigung festgestellt, die Höhe der Verbilligung gemeldet und die Auszahlung an die Versicherer erfolgt sein muss. Die anspruchsberechtigten Personen haben somit bis zu diesem regelmässig im und nicht vor dem Bezugsjahr liegenden Stichtag ihrer Prämienzahlungspflicht vorschussweise nachzukommen, was nicht der Zielsetzung von Art. 65 Abs. 3 Satz 2 KVG entspricht. Daraus ergibt sich indessen nichts für die sich hier stellende Frage. Im Weitern sagt Art. 65 Abs. 4bis Satz 1 KVG nur, dass die Prämienverbilligung bei der Prämienfakturierung zu berücksichtigen ist. Daraus lässt sich nicht zwingend folgern, dass sie im Regelfall des Art. 90 KVV (Prämienzahlung monatlich im Voraus) anteilsmässig, d.h. im Umfang von einem Zwölftel an die Monatsprämien anzurechnen ist. Nichts anderes ergibt sich aus dem Umstand, dass in den einschlägigen Bestimmungen der KVV von der "Prämienverbilligung je (...) Monat" gesprochen wird (E. 5.1.2).
5.2.2. Sinn und Zweck der Prämienverbilligung ist, für Versicherte in bescheidenen wirtschaftlichen Verhältnissen die finanzielle Last der Krankenversicherungsprämien zu mindern (BGE 136 I 220 E. 6.2.1 S. 224). Die anteilsmässige Anrechnung der Prämienverbilligung an die im Bezugsjahr noch zu bezahlenden und die bereits in Rechnung gestellten, aber noch nicht bezahlten Prämien ist damit vereinbar, was ausser Frage steht. Dieses Vorgehen entspricht sodann nach den unwidersprochen gebliebenen Darlegungen in der Beschwerde (E. 4) der einheitlichen (informatisierten) Praxis aller Versicherer. Unter diesen Umständen kann nicht einer anderen Art der Berücksichtigung der Prämienverbilligung der Vorzug gegeben werden, selbst wenn dem Sinn und Zweck der Prämienverbilligung nicht entgegenstehen. In diesem Sinne greift der vorinstanzliche Entscheid, die spätestens am 30. Juni 2017 ausbezahlte Prämienverbilligung für das Bezugsjahr 2017 von Fr. 4273.20 zur Tilgung der offenen Prämien für die Monate Januar bis Juni 2017 von Fr. 4093.50 (6 x Fr. 682.25) sowie der Kostenbeteiligungen von Fr. 44.95 gemäss Rechnung vom 24. April 2017 und Mahngebühren von Fr. 20.- (E. 2), soweit überhaupt zulässig (Eugster, a.a.O.), zu verwenden, ohne Not in ein etabliertes, gesetzeskonformes System ein, was als bundesrechtswidrig zu bezeichnen ist.
5.2.3. Nicht einsehbar ist, inwiefern die anteilsmässige Anrechnung der jährlichen Prämienverbilligung an die (fälligen) monatlichen Prämien es verunmöglichen oder übermässsig erschweren soll zu prüfen, "was geschuldet ist bzw. ob überhaupt etwas geschuldet ist", wie der Beschwerdegegner vernehmlassungsweise vorbringt. Im Übrigen ist sein Vorwurf missbräuchlichen Verhaltens an die Adresse der Beschwerdeführerin in keiner Weise substanziiert und durch nichts belegt. Darauf ist nicht weiter einzugehen (Art. 42 Abs. 2 BGG).
6.
Ausgangsgemäss wird der Beschwerdegegner grundsätzlich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 2 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden ( Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG ). Er hat indessen der Gerichtskasse Ersatz zu leisten, wenn er später dazu in der Lage ist (Art. 64 Abs. 4 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 10. Mai 2019 wird aufgehoben und der Einspracheentscheid der Avenir Krankenversicherung AG vom 20. März 2018 bestätigt.
2.
Dem Beschwerdegegner wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt, und Rechtsanwalt Flurin Turnes wird als unentgeltlicher Rechtsbeistand bestellt.
3.
Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, einstweilen indessen auf die Bundesgerichtskasse genommen.
4.
Dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2800.- ausgerichtet.
5.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 29. Oktober 2019
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Der Gerichtsschreiber: Fessler