BGer 9C_471/2019
 
BGer 9C_471/2019 vom 30.10.2019
 
9C_471/2019
 
Urteil vom 30. Oktober 2019
 
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino, Bundesrichterin Moser-Szeless,
Gerichtsschreiberin N. Möckli.
 
Verfahrensbeteiligte
IV-Stelle des Kantons Zürich,
Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich,
Beschwerdeführerin,
gegen
A.________,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung (Kinderrente; Rückerstattung),
Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 5. Juni 2019 (IV.2018.00348).
 
Sachverhalt:
A. In Folge einer Meldepflichtverletzung wurde der Rentenanspruch der Mutter von A.________ rückwirkend per 1. Januar 2012 herabgesetzt und per 1. Januar 2014 aufgehoben. Anschliessend forderte die IV-Stelle des Kantons Zürich die für den Zeitraum vom 1. Oktober 2013 bis 30. November 2015 an A.________ zu viel ausbezahlten Kinderrenten im Umfang von Fr. 14'358.- zurück (Verfügungen vom 14. und 15. Februar 2018).
B. Die dagegen erhobene Beschwerde hiess das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich mit Entscheid vom 5. Juni 2019 gut. Es hob die angefochtenen Verfügungen auf und stellte fest, A.________ treffe keine Rückerstattungspflicht.
C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben und die Rückforderungsverfügungen vom 14. und 15. Februar 2018 seien zu bestätigen. Es sei festzustellen, dass A.________ rückerstattungspflichtig sei.
Während A.________ und das kantonale Gericht auf Abweisung der Beschwerde schliessen, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG).
2. 
2.1. Streitig und zu prüfen ist, ob die Beschwerdegegnerin für unrechtmässig ausbezahlte Kinderrenten von Fr. 14'358.- rückerstattungspflichtig ist.
2.2. 
2.2.1. Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente (Art. 35 Abs. 1 IVG).
2.2.2. Gemäss Art. 35 Abs. 4 Satz 1 IVG wird die Kinderrente wie die Rente ausbezahlt, zu der sie gehört, mithin grundsätzlich an den rentenberechtigten Elternteil. Vorbehalten bleiben die Bestimmungen über die zweckmässige Verwendung (Art. 20 ATSG) und abweichende zivilrichterliche Anordnungen (Art. 35 Abs. 4 Satz 2 IVG). Der Bundesrat kann die Auszahlung für Sonderfälle in Abweichung von Art. 20 ATSG regeln, namentlich für Kinder aus getrennter oder geschiedener Ehe (Art. 35 Abs. 4 Satz 3 IVG). Gestützt auf diese Delegation hat der Bundesrat in Art. 82 Abs. 1 IVV (SR 831.201) festgelegt, dass für die Auszahlung der Renten sowie der Hilflosenentschädigung für Volljährige unter anderem Art. 71
2.2.3. Unrechtmässig bezogene Leistungen sind zurückzuerstatten. Wer Leistungen in gutem Glauben empfangen hat, muss sie nicht zurückerstatten, wenn eine grosse Härte vorliegt (Art. 25 Abs. 1 ATSG).
Rückerstattungspflichtig sind nebst dem Bezüger oder der Bezügerin auch Dritte oder Behörden, mit Ausnahme des Vormundes oder der Vormundin, denen Geldleistungen zur Gewährleistung zweckgemässer Verwendung nach Art. 20 ATSG oder den Bestimmungen der Einzelgesetze ausbezahlt wurden (Art. 2 Abs. 1 lit. a und b ATSV).
3. 
3.1. Es ist unbestritten, dass die Kinderrente als akzessorische Leistung zur Stammrente der Mutter betreffend die Monate Oktober 2013 bis November 2015 an die Beschwerdegegnerin (mündiges Kind) ausbezahlt wurde (Art. 71
3.2. Nach dem Wortlaut von Art. 25 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 lit. b ATSV wird die Beschwerdegegnerin für die unrechtmässig empfangenen Leistungen rückerstattungspflichtig. Dies erkannte auch die Vorinstanz. Sie verweigerte der Verordnung jedoch die Anwendung, weil diese gesetzwidrig sei. Zudem führe die Auslegung dieser Bestimmung zu einer Verneinung der Rückerstattungspflicht des mündigen Kindes.
 
3.3.
3.3.1. Das Bundesgericht kann Verordnungen des Bundesrat grundsätzlich auf ihre Rechtmässigkeit hin überprüfen (BGE 131 V 9 E. 3.4 S. 9).
Gemäss Art. 81 ATSG ist der Bundesrat mit dem Vollzug beauftragt und hat die Ausführungsbestimmungen zu erlassen. Vollziehungsverordnungen sind darauf beschränkt, die Bestimmungen des betreffenden Bundesgesetzes durch Detailvorschriften näher auszuführen und mithin zur verbesserten Anwendbarkeit des Gesetzes beizutragen. Bestimmungen, welche die auszuführende Gesetzesbestimmung abändern oder aufheben, sind nicht vollziehender Natur und fallen aus dem geschilderten Kompetenzrahmen. Die Vollziehungsverordnung darf insbesondere weder die Rechte der Bürgerinnen und Bürger (zusätzlich) beschränken noch ihnen (weitere) Pflichten auferlegen, und zwar selbst dann nicht, wenn dies durch den Gesetzeszweck gedeckt wäre. Ebenso wenig kann eine gesetzgeberisch gewollte Unbestimmtheit des Gesetzes mittels einer Vollziehungsverordnung bereinigt werden. Demgegenüber dürfen (untergeordnete) Gesetzeslücken im Rahmen der gesetzlichen Zielsetzung geschlossen werden (BGE 141 II 169 E. 3.3 S. 172; 139 II 460 E. 2.2 S. 463).
3.3.2. Art. 25 Abs. 1 Satz 1 ATSG bestimmt den Kreis der rückerstattungspflichtigen Personen (noch) nicht. Dem zweiten Satz dieser Bestimmung ist jedoch zu entnehmen, wer (unter welchen Voraussetzungen) unrechtmässige Leistungen nicht zurückerstatten muss. Damit wird indirekt (im Umkehrschluss) bestimmt, wer zur Rückerstattung verpflichtet ist: Namentlich die Person, welche die Leistungen empfangen hat. Es gibt vom Wortlaut her keinen Anhalt, dass sich die Rückerstattungspflicht auf den Leistungsberechtigten (versicherte Person) beschränkt. Wenn der Bundesrat in Art. 2 lit. b ATSV, gestützt auf Art. 25 Abs. 1 i.V.m. Art. 81 ATSG, spezifiziert, dass auch Dritte, denen Geldleistungen nach Art. 20 ATSG oder den Bestimmungen der Einzelgesetze ausbezahlt wurden, diese bei einem unrechtmässigen Bezug zurückzuerstatten haben, hat er keine neue Pflicht begründet, wird doch Art. 25 Abs. 1 ATSG dadurch nicht abgeändert.
Entgegen der Vorinstanz lässt sich kein vom Wortlaut abweichender Wille des Gesetzgebers in der Botschaft zum ATSG erkennen. Mit der Einführung von Art. 25 Abs. 1 ATSG wurde Art. 49 IVG (i.V.m. Art. 47 AHVG) in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung abgelöst, der eine vergleichbare Regelung enthielt ("Unrechtmässig bezogene Renten und Hilflosenentschädigungen sind zurückzuerstatten. Bei gutem Glauben und gleichzeitigem Vorliegen einer grossen Härte kann von der Rückforderung abgesehen werden"; Art. 47 Abs. 1 aAHVG). Der Erlass von Ausführungsbestimmungen zur Rückerstattung oblag zudem seit jeher dem Verordnungsgeber (Art. 86 Abs. 2 aIVG und Art. 47 Abs. 3 aAHVG), welcher stets auch gewisse Dritte und Behörden als rückerstattungspflichtig erklärt hat (vgl. Art. 85 Abs. 3 IVV in der bis 31. Dezember 2002 geltenden Fassung). Im Umstand, dass in der Botschaft zum ATSG (BBl 1999 4576 f.) nicht auf die Rückerstattungspflicht Dritter eingegangen wurde, ist keine Abwendung vom bisherigen System zu erblicken. Dies spricht vielmehr dafür, dass der Gesetzgeber hier keinen Handlungsbedarf sah und die detaillierte Regelung der Rückerstattung weiterhin im Kompetenzbereich des Verordnungsgebers beliess.
Nach dem Dargelegten ist das Legalitätsprinzip nicht verletzt.
3.4. Nach dem klaren Wortlaut, der in erster Linie für die Auslegung einer Bestimmung massgebend ist (BGE 144 V 327 E. 3 S. 331), hat der Empfänger einer Leistung, so auch ein Dritter, diese zurückzuerstatten, wenn deren Bezug unrechtmässig erfolgte. Die anderslautende Begründung des kantonalen Gerichts, die anhand einer Verordnungsbestimmung, Gegenteiliges darlegt, geht fehl. Mit Art. 71
3.5. Die Vorinstanz dringt auch mit der Überlegung nicht durch, bei der Drittauszahlung einer Kinderrente an das mündige Kind liege funktional keine sozialversicherungsrechtliche Leistung, sondern ein familienrechtlicher Anspruch (des Kindes) gegenüber dem Elternteil vor. Zwar soll die Kinderrente für den Unterhalt des Kindes verwendet werden. Dies ist jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Unterhaltspflicht im zivilrechtlichen Sinne (BGE 143 V 305 E. 4.2 S. 310). Vielmehr handelt es sich bei der Kinderrente um einen vom Zivilrecht losgelösten Anspruch mit eigenen Voraussetzungen (BGE 143 V 305 E. 4.4 S. 311).
3.6. Gestützt auf Art. 25 Abs. 1 ATSG i.V.m. Art. 2 ATSV hat - wie bei einer unrechtmässig bezogenen Kinderrente mit Auszahlung an das unmündige Kind bzw. den Inhaber der elterlichen Sorge (BGE 143 V 241 E. 5 S. 248 f.) - nicht der die Stammrente beziehende Elternteil die Kinderrente zurückzuerstatten, sondern derjenige, welcher die Leistung empfangen hat: Vorliegend das mündige Kind, die Beschwerdegegnerin.
3.7. Daran vermögen die Vorbringen der Beschwerdegegnerin nichts zu ändern. Anfechtungsgegenstand ist einzig, ob die Beschwerdegegnerin die akzessorisch zum Rentenanspruch ihrer Mutter stehenden Kinderrenten zurückzuerstatten hat. Hingegen bildet ein allfälliger Anspruch auf Kinderrenten zur IV-Rente des Vaters nicht Gegenstand des Verfahrens, weshalb hier darum weder materiell- noch verwirkungsrechtlich (Oktober 2013 bis November 2015) Stellung zu beziehen ist. Die finanziellen Verhältnisse der Beschwerdegegnerin sind zudem erst im Rahmen des Erlassgesuchs zu prüfen, welches die Beschwerdegegnerin am 13. April 2018 gestellt hat und das zur Zeit noch hängig ist. Die Beschwerdegegnerin ist nach dem Gesagten zur Rückerstattung der zu Unrecht an sie ausbezahlten Kinderrente verpflichtet, vorbehältlich des Ausganges des Erlassverfahrens.
4. Ausgangsgemäss sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
 
Das Bundesgericht erkennt:
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 5. Juni 2019 wird aufgehoben, und die Verfügungen der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 14. und 15. Februar 2018 werden bestätigt.
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich zurückgewiesen.
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 30. Oktober 2019
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Die Präsidentin: Pfiffner
Die Gerichtsschreiberin: Möckli