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Original
 
Bundesgericht
Tribunal fédéral
Tribunale federale
Tribunal federal
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9C_601/2019
Urteil vom 7. Januar 2020
II. sozialrechtliche Abteilung
Besetzung
Bundesrichter Parrino, Präsident,
Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Glanzmann,
Gerichtsschreiberin Dormann.
Verfahrensbeteiligte
A.________,
vertreten durch Rechtsanwältin Evalotta Samuelsson,
Beschwerdeführerin,
gegen
IV-Stelle des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug,
Beschwerdegegnerin.
Gegenstand
Invalidenversicherung,
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Zug vom 25. Juli 2019 (S 2019 18).
Sachverhalt:
A.
Die 1965 geborene A.________ meldete sich im Juli 2016 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Zug traf Abklärungen und führte das Vorbescheidverfahren durch, in dessen Verlauf sie insbesondere das Gutachten des Dr. med. B.________, Facharzt für Neurologie sowie für Psychiatrie und Psychotherapie, vom 3. Juni 2018 einholte. Mit Verfügung vom 7. Dezember 2018 verneinte sie einen Leistungsanspruch mangels eines invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschadens.
B.
Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Zug mit Entscheid vom 25. Juli 2019 ab.
C.
A.________ lässt mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragen, unter Aufhebung des Entscheids vom 25. Juli 2019 sei ihr mindestens eine Viertelsrente zuzusprechen; eventualiter sei die Sache zu beweismässigen Erhebungen und zur Zusprechung der geschuldeten Rente an die IV-Stelle zurückzuweisen.
Erwägungen:
1.
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann eine Rechtsverletzung nach Art. 95 f. BGG gerügt werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Dennoch prüft es - offensichtliche Fehler vorbehalten - nur die in seinem Verfahren gerügten Rechtsmängel (Art. 42 Abs. 1 f. BGG; BGE 135 II 384 E. 2.2.1 S. 389). Es legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann ihre Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Verfahrensausgang entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
2.
Das kantonale Gericht hat dem Gutachten des Dr. med. B.________ vom 3. Juni 2018 in Bezug auf den medizinischen Sachverhalt Beweiskraft beigemessen. Sodann hat es sich einlässlich mit den Indikatoren gemäss BGE 141 V 281 befasst und ist zum Schluss gelangt, dass bei der Beschwerdeführerin zwar eine primäre Lernbehinderung, aber keine invalidenversicherungsrechtlich relevante Arbeitsunfähigkeit vorliege. Folglich hat es einen Leistungsanspruch verneint.
3.
3.1. Bei der Beurteilung der Arbeits (un) fähigkeit stützt sich die Verwaltung und im Beschwerdefall das Gericht auf Unterlagen, die von ärztlichen und gegebenenfalls auch anderen Fachleuten zur Verfügung zu stellen sind. Ärztliche Aufgabe ist es, den Gesundheitszustand zu beurteilen und dazu Stellung zu nehmen, in welchem Umfang und bezüglich welcher Tätigkeiten die versicherte Person arbeitsunfähig ist. Hinsichtlich des Beweiswertes eines Arztberichtes ist entscheidend, ob dieser für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge sowie der medizinischen Situation einleuchtet und ob die Schlussfolgerungen der Experten begründet sind (BGE 140 V 193 E. 3.2 S. 145; 134 V 231 E. 5.1 S. 232; 125 V 351 E. 3a S. 352 mit Hinweis).
Geht es um psychische Erkrankungen wie eine anhaltende somatoforme Schmerzstörung, ein damit vergleichbares psychosomatisches Leiden (vgl. BGE 140 V 8 E. 2.2.1.3 S. 13 f.) oder depressive Störungen leicht- bis mittelgradiger Natur (BGE 143 V 409 und 418), sind für die Beurteilung der Arbeitsfähigkeit systematisierte Indikatoren (Beweisthemen, Indizien) beachtlich, die - unter Berücksichtigung leistungshindernder äusserer Belastungsfaktoren einerseits und Kompensationspotentialen (Ressourcen) anderseits - erlauben, das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen einzuschätzen (BGE 141 V 281 E. 2 S. 285 ff., E. 3.4-3.6 und 4.1 S. 291 ff.).
3.2. Bei den gerichtlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit handelt es sich grundsätzlich um Tatfragen (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Ebenso stellt die konkrete Beweiswürdigung eine Tatfrage dar. Dagegen sind die unvollständige Feststellung rechtserheblicher Tatsachen sowie die Missachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Anforderungen an die Beweiskraft ärztlicher Berichte und Gutachten Rechtsfragen (Urteile 8C_673/2016 vom 10. Januar 2017 E. 3.2 und 9C_899/2017 vom 9. Mai 2018 E. 2.1). Gleiches gilt für die Frage, ob und in welchem Umfang die Feststellungen in einem medizinischen Gutachten anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf Arbeitsunfähigkeit schliessen lassen (BGE 141 V 281 E. 7 S. 308 f.; Urteil 9C_504/2018 vom 3. Dezember 2018 E. 1.2).
3.3. Dr. med. B.________ diagnostizierte mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit einzig eine "primäre Lernbehinderung mit einem unterdurchschnittlichen intellektuellen Leistungsvermögen (IQ 76) ". Ohne Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit erkannte er "Probleme, verbunden mit Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung im Sinne von ängstlich-vermeidenden Persönlichkeitszügen (ICD-10: Z73.1) ", "leicht ausgeprägte undifferenzierte Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.1) " und einen "Status nach Anpassungsstörung, Angst und depressive Reaktion gemischt (ICD-10: F43.22) ". Er attestierte für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit im Verkauf ein um 40 % reduziertes Rendement und für optimal leidensangepasste Tätigkeiten eine uneingeschränkte Arbeitsfähigkeit.
3.4.
3.4.1. Die Beschwerdeführerin stellt die Beweiskraft des Gutachtens des Dr. med. B.________ nicht in Abrede. Sie moniert aber, der Experte habe zwar den Bericht der Dr. med. C.________, Fachärztin für Neurologie, vom 22. Mai 2017 berücksichtigt, sich aber nicht mit der von dieser festgestellten "frühkindlichen zerebralen Entwicklungsstörung" infolge Frühgeburt auseinandergesetzt. Die neuropsychologischen Einschränkungen seien Folge eines Geburtsgebrechens im Sinne von Ziff. 494 (Neugeborene mit einem Geburtsgewicht unter 2000 g bis zur Erreichung eines Gewichtes von 3000 g) des Anhangs zur Verordnung vom 9. Dezember 1985 über Geburtsgebrechen (GgV; SR 831.232.21); aus diesem Grund handle es sich um einen invalidenversicherungsrechtlich anerkannten Gesundheitsschaden.
3.4.2. Diese Argumentation verfängt nicht. Zum einen bestätigte Dr. med. B.________ die Einschätzungen der Dr. med. C.________ im Wesentlichen, und er anerkannte auch den von ihr ermittelten Wert des Intelligenzquotienten (IQ) von 76 und die daraus abgeleiteten neuropsychologischen Einschränkungen ausdrücklich. Zum anderen geht es hier nicht um eine medizinische Massnahme bei einem Geburtsgebrechen (vgl. Art. 13 IVG), sondern um einen Rentenanspruch gemäss Art. 28 ff. IVG. Dafür ist nicht von Belang, ob die kognitiven Einschränkungen auf die Frühgeburt resp. zerebrale Entwicklungsstörung oder auf eine andere Ursache zurückzuführen sind (vgl. Art. 4 Abs. 1 IVG und Art. 7 Abs. 2 ATSG; MEYER/REICHMUTH, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Aufl. 2014, N. 51 f. zu Art. 4 IVG).
3.5.
3.5.1. Sodann macht die Beschwerdeführerin geltend, der Umstand, dass ein geschätzter IQ-Wert von 76 keiner Diagnose des ICD-10 oder eines anderen anerkannten Klassifikationssystems zugeführt werden könne, schliesse die Annahme einer Arbeitsunfähigkeit nicht aus.
3.5.2. Intelligenzminderungen werden nach dem heute zur Anwendung gelangenden Klassifikationssystem ICD-10 in leichte (IQ 69 bis 50), mittelgradige (IQ 49 bis 35), schwere (IQ 34 bis 20) und schwerste (IQ weniger als 20) Fälle eingeteilt (ICD-10 F70 bis F73; vgl. auch Pschyrembel klinisches Wörterbuch, 267. Aufl. 2017, S. 881). Nach konstanter Rechtsprechung wird heute bei einem IQ von 70 und mehr ein invalidenversicherungsrechtlich massgeblicher Gesundheitsschaden verneint. Demgegenüber führt ein IQ unterhalb dieses Werts in der Regel zu einer im vorliegenden Kontext relevanten verminderten Arbeitsfähigkeit. Auch diesfalls ist jedoch stets eine objektive Beschreibung der Auswirkungen der festgestellten Intelligenzminderung der versicherten Person auf ihr Verhalten, die berufliche Tätigkeit, die normalen Verrichtungen des täglichen Lebens und das soziale Umfeld erforderlich. Zudem kommt es nicht nur auf die Höhe des IQ an, sondern ist immer der Gesamtheit der gesundheitlichen Beeinträchtigungen Rechnung zu tragen (Urteile 8C_608/2018 vom 11. Februar 2019 E. 5.2; 9C_291/2017 vom 20. September 2018 E. 8.2; je mit Hinweisen).
3.5.3. Dieser Rechtsprechung hat die Vorinstanz Rechnung getragen, indem sie die Lernbehinderung beim durch Dr. med. C.________ eruierten IQ-Wert von 76 nicht als invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden erachtet hat. Zwar ist auch bei knapp im (untersten) Normalbereich liegender Intelligenz eine Invalidität nicht ausnahmslos ausgeschlossen, wie sich etwa aus den Urteilen 8C_189/2018 vom 25. Mai 2018 E. 4.2.3 und 9C_611/2014 vom 19. Februar 2015 E. 5 ergibt. In diesen Fällen ging es um "Frühinvalidität" (vgl. zu diesem Begriff Art. 26 Abs. 1 IVV [SR 831.201] und Urteil 8C_291/2019 12. September 2019 E. 5.1), und die eingeschränkte Arbeitsfähigkeit der betroffenen Versicherten manifestierte sich bereits beim Eintritt ins Erwerbsleben. Der hier zu beurteilende Fall stellt sich indessen anders dar: Die Vorinstanz hat festgestellt, dass es der Versicherten nach der Anlehre über Jahre hinweg möglich gewesen sei, als Parfümerie-Verkäuferin in einem 100 % resp. 80 %-Pensum zu arbeiten und dabei ein Jahreseinkommen im Bereich von Fr. 60'000.- bis Fr. 70'000.- (gemäss Auszug aus dem individuellen Konto im Jahr 2015 Fr. 71'996.-) zu erzielen. Eine wesentliche Verschlechterung der kognitiven Leistungsfähigkeit in den letzten Jahren, insbesondere seit 2015, sei nicht aktenkundig. Diese Feststellungen sind unbestritten und nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben (E. 1). Unter den gegebenen Umständen besteht kein Anlass für eine Ausnahme von der oben (E. 3.5.2) dargelegten Rechtsprechung, und Gründe für eine Praxisänderung (vgl. BGE 141 II 297 E. 5.5.1 S. 303) werden nicht dargelegt und sind auch nicht ersichtlich.
3.6.
3.6.1. Des Weiteren rügt die Beschwerdeführerin, die Vorinstanz habe eine unvollständige Indikatorenprüfung nach BGE 141 V 281 vorgenommen; die Lernbehinderung hätte unter dem Kriterium "Persönlichkeit" berücksichtigt und gewürdigt werden müssen.
3.6.2. Das kantonale Gericht hat erwogen, Dr. med. B.________ habe nachvollziehbar dargelegt, weshalb er keine Depression erkennen konnte. Somit könnten einzig die Nebendiagnosen, denen der Experte keinen Einfluss auf die Arbeitsfähigkeit beigemessen habe, eine (mit Blick auf BGE 141 V 281 rechtlich relevante) Arbeitsunfähigkeit begründen. Die gesundheitliche Störung sei nicht schwer ausgeprägt; die Versicherte werde mit einer Behandlungsfrequenz von vier Wochen fachärztlich therapiert, sie sei nicht behandlungsresistent und Komorbiditäten fehlten. Die Betroffene verfüge über nicht gänzlich ungünstige persönliche Ressourcen; sie sei seit 2009 verheiratet und pflege eine gute Beziehung zu ihren Schwestern und zur Mutter, wenn auch ein gewisser sozialer Rückzug wohl nicht von der Hand zu weisen sei. Eine Konsistenzprüfung sei hinfällig. Insgesamt fehle es an einem invalidisierenden Gesundheitsschaden.
3.6.3. Ob angesichts der lediglich leicht ausgeprägten undifferenzierten Somatisierungsstörung bei remittierter Anpassungsstörung überhaupt ein strukturiertes Beweisverfahren resp. eine Indikatorenprüfung im Sinne von BGE 141 V 281 erforderlich war (vgl. BGE 143 V 409 E. 4.5.3 S. 417; 418 E. 7.1 S. 429), kann offenbleiben. Die vorinstanzlichen Feststellungen in diesem Zusammenhang (E. 3.6.2) sind unbestritten und nicht offensichtlich unrichtig, weshalb sie für das Bundesgericht verbindlich bleiben (vgl. E. 1). Zwar trifft zu, dass unter dem Aspekt der "Persönlichkeit" (vgl. BGE 141 V 281 E. 4.3.2 S. 302) nicht nur ängstlich-vermeidende Persönlichkeitszüge, sondern auch kognitive Einschränkungen als strukturelle Defizite ins Gewicht fallen. Daraus ergibt sich indessen nichts für die Beschwerdeführerin. Selbst wenn die Lernbehinderung mit kognitiven Einschränkungen zusätzlich berücksichtigt wird, kann bei Gesamtbetrachtung der massgeblichen Indikatoren nicht von einem invalidenversicherungsrechtlich relevanten Gesundheitsschaden gesprochen werden.
3.7. Bei diesem Ergebnis zielen die Ausführungen der Beschwerdeführerin zur Invaliditätsbemessung ins Leere; darauf ist nicht weiter einzugehen. Die Beschwerde ist unbegründet.
4.
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die Beschwerdeführerin die Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
Demnach erkennt das Bundesgericht:
1.
Die Beschwerde wird abgewiesen.
2.
Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
3.
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zug und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
Luzern, 7. Januar 2020
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
des Schweizerischen Bundesgerichts
Der Präsident: Parrino
Die Gerichtsschreiberin: Dormann