BGE 98 Ia 122
 
17. Urteil vom 2. Februar 1972 i.S. Leyrer gegen Schweizerische Bundesanwaltschaft.
 
Regeste
Auslieferung zum Vollzug von freiheitsentziehenden Massnahmen. Auslieferungsabkommen mit Deutschland.
2. Die Auslieferung zum Vollzug eines Entscheides, mit dem die bedingte Entlassung aus der Sicherungsverwahrung widerrufen wird, ist nur zulässig, wenn die Rückversetzung wegen in der Probezeit begangener Auslieferungsdelikte erfolgen soll; die blosse Missachtung von Auflagen genügt nicht (Erw. 2).
 
Sachverhalt


BGE 98 Ia 122 (123):

A.- Am 3. Juli 1970 verfügte die Polizeiabteilung des EJPD, dass Helmut Leyrer entsprechend dem Begehren des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen wegen der ihm im Haftbefehl des Amtsgerichtes Lechenich vom 4. Juni 1970 zur Last gelegten Vermögensdelikte an die deutschen Behörden auszuliefern sei. Gegen diese Verfügung erhob Leyrer keine Einsprache; er wurde am 13. Juli 1970 ausgeliefert.
Mit Verfügung vom 28. Januar 1971 entsprach die Polizeiabteilung einem Nachtragsbegehren des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen und dehnte die Auslieferungsbewilligung aus auf die Leyrer in den Haftbefehlen des Amtsgerichtes Bonn vom 6. und 19. November 1970 zur Last gelegten Delikte (Betrug, Urkundenfälschung, Unterschlagung). Auch diese Ausdehnung der Auslieferungsbewilligung blieb unangefochten.
B.- Am 29. September 1964 war Helmut Leyrer durch das Landgericht Köln wegen versuchten schweren Diebstahls im Rückfall, wegen Unterschlagung, wegen Betrugs im Rückfall und wegen Hehlerei im Rückfall als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher u.a. zu einer Gesamtstrafe von vier Jahren Zuchthaus verurteilt worden; gestützt auf § 42 lit. e des deutschen StGB hatte das Gericht neben der Strafe die Sicherungsverwahrung angeordnet. Eine gegen dieses Urteil eingereichte Revision wurde vom Bundesgerichtshof verworfen.
Leyrer verbüsste in der Folge die Zuchthausstrafe und kam anschliessend in die Sicherungsverwahrung. Er wurde am 9. Mai 1969 aus der Sicherungsverwahrung bedingt entlassen mit der Auflage, keinen Arbeits- und Wohnsitzwechsel ohne vorherige Zustimmung des Gerichts vorzunehmen und sich der Betreuung des Diplom-Psychologen Schoplick zu unterstellen. Leyrer befolgte diese Auflagen nicht; er verliess im Oktober 1969 Wohnsitz und Arbeitsplatz ohne vorherige Zustimmung des Gerichtes und setzte sich ins Ausland ab.
Mit Beschluss des Landgerichtes Köln vom 28. Oktober 1970, vom Oberlandesgericht Köln am 23. Dezember 1970 bestätigt, wurde wegen Missachtung der Auflagen die bedingte Entlassung aus der Sicherungsverwahrung widerrufen und die weitere Vollstreckung dieser Massnahme angeordnet.
C.- Der Justizminister des Landes Nordrhein-Westfalen stellte am 23. April 1971 beim EJPD das Begehren, es sei in Ausdehnung der bewilligten Auslieferung (vgl. oben lit. A) die

BGE 98 Ia 122 (124):

Zustimmung zur weitern Vollstreckung der 1964 angeordneten Sicherungsverwahrung zu erteilen.
Leyrer erklärte bei einer Befragung vor Amtsgericht Bonn, dass er mit einer solchen Ausdehnung der Auslieferung nicht einverstanden sei. Sein Rechtsvertreter begründete diese Einsprache im wesentlichen wie folgt: Die hier in Frage stehende Rückversetzung in die Sicherungsverwahrung sei nicht wegen der Begehung neuer Delikte angeordnet worden, sondern wegen der Nichtbefolgung von Auflagen und wegen der Gefahr der Begehung neuer Straftaten. Wenn auch nach der herrschenden Doktrin und Praxis die Auslieferung zum Vollzug einer strafrichterlichen Massnahme der Auslieferung zum Vollzug einer Strafe gleichzustellen sei, so könne dies nicht mehr gelten, wenn die Strafe verbüsst und auch die Massnahme bereits für einige Zeit vollzogen worden sei; der weitere Vollzug der auf unbestimmte Zeit angeordneten Massnahme lasse sich dann nicht mehr dem Vollzug einer Strafe gleichstellen. Nur die Begehung eines neuen Auslieferungsdeliktes nach der bedingten Entlassung könnte die Auslieferung zur Rückversetzung in den Massnahmenvollzug rechtfertigen; der vorliegende Widerruf stütze sich aber gerade nicht auf die Tatsache der Begehung neuer Delikte, sondern lediglich auf die Nichtbeachtung von Auflagen.
D.- Da Leyrer Einreden vorbringt, die sich auf den deutschschweizerischen Auslieferungsvertrag stützen, hat die Polizeiabteilung des EJPD die Akten gemäss Art. 23/24 AuslG dem Bundesgericht zum Entscheid überwiesen.
Die Bundesanwaltschaft beantragt, dem Auslieferungs-Nachtragsbegehren nicht zu entsprechen, da es um den Vollzug einer sichernden Massnahme gehe, die neben die bereits verbüsste Zuchthausstrafe trete.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
1. Das Auslieferungsgesetz und alle älteren Auslieferungsverträge - insbesondere auch der deutsch-schweizerische Vertrag von 1874 - enthalten verständlicherweise noch keine ausdrückliche Regelung über die Auslieferung zum Vollzug von Massnahmen, da diese Sanktionen erst in der neuern Zeit Eingang ins Strafrecht gefunden haben (vgl. jetzt Europäisches Auslieferungsübereinkommen vom 13. Dezember 1957, AS 1967 S. 814, Art. 1, 2 Abs. 1, 14 Abs. 1, 25). Es ist heute jedoch

BGE 98 Ia 122 (125):

unbestritten, dass das Fehlen einer ausdrücklichen Regelung die Auslieferung zum Vollzug von freiheitsentziehenden Massnahmen nicht hindert (vgl. SCHULTZ, Auslieferungsrecht, S. 347 ff; METTGENBERG-DOERNER, Deutsches Auslieferungsgesetz, 2. A., S. 141). Schultz befürwortet die auslieferungsrechtliche Gleichstellung von monistischen und vikarierenden Massnahmen mit den Strafen, lehnt jedoch die Auslieferung zum Vollzug kumulativer, neben die Strafe tretender Massnahmen ab (SCHULTZ, a.a.O. S. 355/356). Die Sicherungsverwahrung gemäss § 42 lit. e des deutschen StGB ist eine kumulative Massnahme, die neben die Strafe tritt. Folgt man der - ohne weitere Begründung - von SCHULTZ vertretenen Auffassung, dann wäre das Ausdehnungsbegehren im vorliegenden Fall von vornherein abzuweisen, da es bei diesem Begehren nur um den Vollzug der kumulativ angeordneten Sicherungsverwahrung geht.
Im Verhältnis zu Deutschland ist diese Argumentation jedoch durch die getroffenen Abmachungen ausgeschlossen und braucht gar nicht näher geprüft zu werden; denn durch einen Notenwechsel vom 30. Juni/9. Juli 1953 anlässlich des Auslieferungsfalles Ramseyer wurde in Form einer Gegenrechtserklärung vereinbart, dass die Auslieferung auch zum Vollzug der von einem ordentlichen Strafgericht verhängten Massnahmen (Art. 14, 15, 42-45 schweiz. StGB, §§ 42 lit. a-e deutsches StGB) bewilligt werde und dass es dabei nicht darauf ankomme, ob die Massnahme neben oder an Stelle einer wegen eines Auslieferungsdeliktes ausgesprochenen Strafe trete. Damit hat sich die Schweiz gegenüber Deutschland verpflichtet, die Auslieferung grundsätzlich auch zum Vollzug kumulativer, zur Strafe hinzutretender sichernder Massnahmen zu gewähren, sofern die übrigen Voraussetzungen erfüllt sind. Die Besonderheit der deutschen Sicherungsverwahrung kann somit dem hier zu beurteilenden Ausdehnungsbegehren nicht entgegenstehen.
Die Frage, ob die bedingte Entlassung aus dem Massnahmenvollzug auslieferungsrechtlich gewissermassen das Ende der Vollstreckung des ursprünglichen Urteils bildet, so dass eine Auslieferung zur Weiterführung der Massnahme nur aufgrund eines neuen Deliktes bewilligt werden könnte, wird weder in der erwähnten Gegenrechtserklärung von 1953 geregelt, noch nimmt die Doktrin dazu Stellung. Die in der Einsprachebegründung zitierte Stelle aus dem Werk von SCHULTZ (Auslieferungsrecht S. 353) bezieht sich nicht auf die Rechtslage bei der Rückversetzung in den Massnahmevollzug, sondern generell auf die Zulässigkeit der Auslieferung zum Vollzug einer Massnahme.
Der Widerruf der bedingten Entlassung hat bei Strafen und Massnahmen formell die weitere Vollstreckung des rechtskräftigen ursprünglichen Urteils zur Folge, wobei allerdings diese Fortsetzung der Vollstreckung einen aufneue Tatsachen gestützten Entscheid über den Widerruf voraussetzt. Wenn das frühere Urteil die Bedingungen einer Auslieferung erfüllt und bei einer Flucht vor oder während des Vollzuges die Auslieferung hätte verlangt werden können, dann lässt sich die Auffassung vertreten, die bedingte Entlassung ändere die auslieferungsrechtliche Stellung des Verurteilten grundsätzlich nicht, d.h. ein bedingt Entlassener sei gestützt auf die ursprüngliche Verurteilung für den weitern Vollzug auszuliefern, auch wenn er in der Probezeit kein neues Auslieferungsdelikt begangen hat, sondern wegen anderweitiger Nichtbewährung in den Vollzug zurückversetzt werden soll. Dies ist einigermassen einleuchtend, soweit es um den Vollzug der Reststrafe eines aus dem Strafvollzug bedingt Entlassenen geht. Dort handelt es sich beim Widerruf um die gänzliche Vollstreckung der im ursprünglichen Urteil genau festgesetzten Sanktion. Dass der Urteilsstaat den Versuch einer vorzeitigen probeweisen Entlassung unternommen hat, darf nicht zur Folge haben, dass der bedingt entlassene und während der Probezeit geflüchtete Verurteilte auslieferungsrechtlich besser gestellt ist als der aus der Strafanstalt Entwichene.


BGE 98 Ia 122 (127):

Beim Widerruf der bedingten Entlassung aus der Sicherungsverwahrung ist die Lage insofern anders, als die Rückversetzung nicht einen im ursprünglichen Urteil genau fixierten Freiheitsentzug bewirkt, sondern eine neue Internierung auf unbestimmte Zeit. Trotz der formellen Anknüpfung an die primäre Anordnung der Sicherungsverwahrung handelt es sich nicht einfach um den Vollzug des Restes einer bereits durch die beurteilten Delikte "verwirkten" Sanktion; es wird im Grunde genommen, gestützt auf neue Tatsachen und die sich daraus ergebende ungünstige Prognose, die Sicherungsverwahrung erneut angeordnet. Diese neue Verwahrung hat mit den Auslieferungsdelikten, die dem ursprünglichen Gerichtsurteil zugrunde liegen, einen derart geringen Zusammenhang, dass eine auf jene Delikte gestützte Auslieferung als materiell nicht gerechtfertigter, rein formeller "Rückgriff" erscheint. Die erneute Anordnung der Sicherungsverwahrung nach bedingter Entlassung ist daher auslieferungsrechtlich als neues, selbständiges Verfahren zu behandeln; eine Auslieferung zum Vollzug der Rückversetzung ist somit nur zu bewilligen, wenn die Rückversetzung wegen der Begehung neuer Auslieferungsdelikte während der Probezeit erfolgen soll.
Sollte sich im Zusammenhang mit der Beurteilung der neuen Delikte, deretwegen Leyrer ausgeliefert worden ist, eine erneute Sicherungsverwahrung als notwendig erweisen, so steht der Entscheid im vorliegenden Verfahren einer solchen Anordnung nicht entgegen.
Demnach erkennt das Bundesgericht:
Die Einsprache des Helmut Leyrer wird gutgeheissen und das Begehren des Justizministers des Landes Nordrhein-Westfalen um Ausdehnung der Auslieferungsbewilligung auf den Vollzug der am 28. Oktober 1970 vom Landgericht Köln beschlossenen Rückversetzung in die Sicherungsverwahrung wird abgelehnt.